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Blau
Er schaut in den Spiegel.
Das Licht ist grell. Er denkt, dass sein Spiegelbild seltsam unwirklich aussieht. Es ist so grell und blass. Draußen ist alles grau. Wie das Altpapier und die zerlesenen Zeitungen. Er denkt, dass vielleicht alles grau sein muss, wegen der vielen Zeitungen. Wenn sie über und unter einem liegen. Wenn er bei ihnen schläft. Wie eine graue Decke aus Papier. Die knistert, beim Schlafen. Er fährt mit den Fingern am Waschbeckenrand entlang. Es ist so kalt und glatt, dass er meint, jeden einzelnen Riss in seinen Fingerkuppen zu spüren. Aber draußen ist wirklich alles grau. Auch wenn man das jetzt gerade nicht sehen kann, in dem Toilettenraum. Draußen ist der Himmel grau. Graue Wolken. Graues Licht. Sogar die Menschen scheinen grau zu sein. Das Licht hier ist blau.
Blau und grell.
Alles, damit die Junkies keine Stelle für die Nadel finden, denkt er. Aber es ist ähnlich, wie das graue. Hier grell und blau. Draußen alles grau. Und eigentlich sind die Menschen beide Male allein. Aber würde er sie fragen, willst du eine graue oder eine blaue Welt, würden sie wohl blau wählen. Und dann sitzen sie nicht am Meer, wie sie es sich wohl gewünscht und erwartet haben. Sie sitzen alle in Toilettenräumen mit blauen Leuchtstoffröhren. Denn was könnte blauer sein. Er stellt sich vor, wie die Junkies im blauen Licht in ihren Armen herum stochern. Was ist schlimmer, die Drogen oder das herumstochern. Wenn am Ende ihre Arme total kaputt sind, müssen sie mit den Beinen weitermachen. Klar, die Typen vom Museum wollen keine Drogentoten in ihren Blaulichttoiletten haben. Ob ihnen die Zerstochenen lieber sind? Ihr Blut muss auch Blau sein. Er stellt sich vor, wie auch bei ihm das blaue Blut durch den Körper fließt. Er starrt noch immer in den Spiegel. Hat es gar nicht mehr gemerkt. War ganz in die blaue Welt versunken.
Er heißt David. Ist der Bart während seines Denkens gewachsen? Oder war er schon da, als er die graue Welt verlassen hat und in den Spiegel in der blauen geblickt hat? Sein Haar kraus und ziemlich lang. Die Augen nicht nur im Licht blau. Er versucht sich darüber zu ärgern. Die blaue Welt nicht zu mögen. Vielleicht möchte er wütend sein. Es ist ihm alles gleichgültig. Denn alles ist so eintönig. Bald werde ich wahrscheinlich einen Vollbart haben, denkt er. Doch auch das ist ihm egal. Obwohl er früher immer einen haben wollte. Und immer war er der Einzige gewesen, bei dem noch nichts richtig zu wachsen schien. Und jetzt schaue ich in den Spiegel und es kümmert mich nicht. Das Haar hat ihm als Kind immer seine Mutter geschnitten. Als Kind. Er denkt, dass er schon lange keines mehr zu sein scheint. Vor allem keines mit Bart. Später durfte sie ihm auch noch die Haare schneiden. Weil sie es so gerne tat und er mochte wenn sie glücklich war. Ob sie glücklich ist? Er denkt, dass es ihm egal ist, wie es ihr geht. Und irgendwie ist er stolz darauf, dass alles ihn so kalt lässt. Weil alles ist grau. Oder blau. Wahrscheinlich geht es ihr nicht gut, denkt er.
Einen Vater hat er nicht. Früher hat er nur selten über ihn nachgedacht. Ein Foto gibt es schon gar nicht von ihm. David weiß, dass er ein Südländer sein muss. In letzter Zeit muss er öfter an ihn denken. Wo er wohl ist. Wie er ist. Vielleicht hat er noch andere Kinder. Vielleicht sind sie auch ohne Vater. Vielleicht ein Pirat. Mitten auf dem Mittelmeer. Sein Haar ist lang und zottig. Wenn er mit anderen Seefahrern spricht hat er einen spanischen Akzent und eine tiefe, raue Stimme. Um seinen Kopf weht ein rotes Tuch. Wenn er das Deck entlang läuft, knirscht das Holz unter seinen Füßen. Die Mannschaft schaut ehrwürdig auf, weil er der letzte Piratenkapitän ist. Warum kommen diese Dinge immer nachts in seinen Kopf. Wenn er auf einer Parkbank liegt und in den Himmel starrt. So bunte Bilder. Immer von seinem Vater. Und Mädchen. So viele verschiedene Mädchen.
An seine Mutter will er nicht denken. Und an den Typen. David hasst besoffene Typen. Wie sie grölend durch die Straßen laufen. Die Mädchen antatschen. Und die lachen nur. Lassen es sich gefallen. Als wären es Puppen. Besonders diesen einen Typen hat er gehasst, denkt er. Weil im Moment fühlt er ja nichts. Außer grelles, blaues Leutstoffröhrenlicht. David hat ihn geschlagen. Nicht nur einmal. Immer wieder. Bis alles voller Blut war. Er hat es gehasst, wie er besoffen in die Wohnung kam. Nach Alkohol und Schweiß stinkend. Manchmal hasse ich alles und jeden! Die Menschen, wie sie blind aneinander vorbeilaufen. Er erschrickt, so intensiv kam ihm sein Gedanke vor, wollte er sich doch von allen Gefühlen fernhalten. Warum, warum denkt David kann das Leben so eine Enttäuschung sein.
Er ist noch keine achtzehn, weder erwachsen noch Kind. Ist es das Kind, was gerade gedacht hat? Seine Hände sind blau, wie sie einst rot gewesen sind. Wie das blaue Licht von seinen Händen laufen würde, er sieht es über seinen Handrücken rinnen. Warm und nass. Brennt Narben in seine Hand.
Warum, warum hast du das getan? Gott, David, hör auf! David, David immer wieder diese Stimme. David sieht nichts. Er sieht nur dieses Gesicht. Sein Gesicht. Das dumme Grinsen. Widerlich. Eingebrannt hinter seinen Augen. Will nichts hören, will nichts fühlen; und fühlt doch so viel. Ein Brennen, in seiner Brust. Wie als würde dort etwas wachsen. Mit wahnsinniger Geschwindigkeit immer riesiger werdend. Ein Feuerball, sich rotierend im Kreise drehend. Es geht durch seine Arme, fließt in seine Hände, die sich zu Fäusten ballen. Die schlagen zu. Immer wieder. David sieht schwarz. Er will nur eins. Das Gesicht dieses Mannes zerschlagen. Das Grinsen fällt von der Fratze ab. Er spürt, dass er noch mehr will. Er will es unerkenntlich machen. Will es für immer zerstören. Spürt nicht die Arme seiner Mutter, die ihn versuchen weg zu ziehen. Spürt nicht den Körper des Mannes unter seinem, als er auf ihn fällt, sieht nur Blut. Rot. Rot auf seinen Händen, auf dem Gesicht, auch auf seinen. Die Welt ist rot. Für ihn, in diesen Minuten. David weiß nicht wie lange. Er schlägt immer weiter. ER spürt nichts. Plötzlich wird die Welt schwarz. Wie wenn man plötzlich den Kopf hebt, nachdem einem die Sonne die ganze Zeit darauf geknallt ist.
Es kommt ihm unendlich lange vor, sind es nur wenige Sekunden. Er sieht auf, spürt brennenden Schmerz auf seiner Wange. Die Schwärze ist verflogen. Seine Mutter hat noch den Arm gehoben. Er will aufstehen, sieht das Blut auf seinen Händen, spürt es seinen Hals herunter laufen. Auf seinen Lippen schmeckt es metallisch. Er dreht sich nicht mehr nach dem Typen auf dem Boden um. Davids Arm zittert. Auch der der Frau. So denkt er, nicht der seiner Mutter. Dann läuft er weg. David zittert. Er ist direkt in den Spiegel hineingelaufen. Seine Hand zittert. Zuckt. Der Spiegel liegt in Scherben. Er hat das Gesicht des Mannes zerschlagen. Blut rinnt über seine Faust. Scherben knirschen unter seinem Körper. Sackt zusammen; spürt die Kälte der Fliesen unter seiner Wange. Die winzigen Splitter, die sich in seine Haut drücken. Blut ist rot, das Licht ist blau. Die Fliesen sind kalt. Er riecht den scharfen Geruch des Desinfektionsmittel, es brennt in seiner Nase. Die Augen geschlossen. Spürt seinen Atem auf den Fliesen. Die Splitter knirschen.
Er weiß nicht, wie lange er so liegen bleibt. Splitter haben sich durch seine Wange gebohrt, die Löcher und Risse seiner Hose gefunden. Er spürt das Pochen seiner Faust. Hat die Hand schon längst geöffnet. Kälte legt sich auf die Wunde. Irgendwann steht David auf, zieht sich am Waschbecken hoch, denkt, es ist nicht so kalt wie die Fliesen. Als er die Kante greift, rutscht er ab, seine Hand ist noch glitschig vom Blut. Er verliert den Halt, schlägt mit der Stirn gegen die Kante des Waschbeckens. Er stöhnt. Als er steht, sieht er gegen die helle Wand des Toilettenraumes. Er sieht sich nicht mehr selbst, dort wo der Spiegel hing, hängen nur noch ein paar Scherben schief in der eisernen Halterung.