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Blitzeinschläge

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15.03.2003
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Blitzeinschläge

Blitzeinschläge

Im Herbst wird es drei Jahre her sein, seit ich mit Ursula verheiratet bin. Heutzutage kenne ich nur noch unser Zusammenleben und kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie ich vierzig Jahre habe verbringen können, ohne täglich ihre Anwesenheit zu spüren. Dabei kannten wir uns über all die Zeit. Wenn ich es recht bedenke, war es nicht nur ein Kennen im Sinne von flüchtiger Bekanntschaft. Es war bei Licht betrachtet immer mehr. Wir haben große Teile der Schulzeit miteinander verbracht, haben immer in der unmittelbaren Umgebung des anderen gewohnt und gelebt, hatten beim Einkauf, in der Disco oder in der Gastwirtschaft unregelmäßigen Kontakt. Sogar die Arbeitsstelle teilten wir über einige Jahre. Und dennoch hat es Dezennien gedauert, bis wir uns ganz nahe kamen, bis wir den anderen in seinem Körper, in seinem Denken und Fühlen und in seiner Seele schätzen und zuletzt lieben lernten. Das gemeinschaftliche Leben wäre beinahe an uns vorbei gehuscht, denke ich zuweilen. Um so mehr genieße ich Ursulas Gegenwart von Tag zu Tag mehr.

Manch einer glaubt, schwierige Lebensumstände oder gar Katastrophen würden die Menschen zusammen schweißen oder könnten sie zusammenbringen. Ich erinnere mich noch gut, wie es vor gut dreißig Jahren war, als ein böser Blitzschlag in mein Elternhaus fuhr. Dazu muss man wissen, dass wir am Rande der Alpen in Sichtweite des Wilden Kaisers wohnten. Heftige Naturereignisse gehörten stets zu unserem Leben. Der Fön machte mir weniger zu schaffen. Aber dräuende Gewitter, Schnee- und Eisregel, Graupel und Hagel konnten ganz unvermittelt sogar im Sommer aus einer blühenden Landschaft voller Sonne und Wärme in wenigen Augenblicken einen trostlos erscheinenden Landstrich machen. Zuerst verdunkelt sich nur der Himmel, dann wenn das Unwetter seinen Lauf nimmt, wechselt das Grün der Wiesen und Wälder zunächst in ein helles Grau, die Sichtweite verringert sich augenblicklich und schließlich ist die Umgebung in ein stählernes Grau-Blau gehüllt. Am Ende ist alles schwarz. Es ist, als ob man bei einem Farbfernseher die Farben hinuntergeregelt hätte und fortan nur noch schwarz-weiß schauen konnte. Schlagartig kam die Helligkeit wieder. Ein Blitz setzte alles in ein gleißendes Licht. Es schien nicht natürlich, sondern beleuchtete die Umgebung wie ein überdimensionierter Scheinwerfer. Mein Vater sagte in solchen Augenblicken immer: „Der liebe Gott macht die Neon-Lampe an“.

Das waren wir durchaus gewohnt. Nur dieses Mal schlug ein heftiger Blitz in den Kamin des Hauses ein. Er war so stark, dass er nicht nur den Schornstein vom Dach schlug, sondern zudem das Gebälk des Dachstuhls in Brand setzte. Ich zitterte vor Angst, als ich hoch oben über mir die Flammen züngeln hörte. Dann erinnere ich mich nur, wie bald darauf die Feuerwehr erschien mit zwei, drei großen Löschzügen. Sie richteten den Strahl auf das Dach meines Elternhauses. Aber der dem Blitz folgende Starkregen hatte schon ganze Arbeit geleistet, und so hielten sich die Brandschäden in Grenzen.

Mein Vater war eher besonnen. Ihm kam die ganze Malaise durchaus entgegen, wie er später einmal bemerkt hat. Das Dach hätte ohnehin neu eingedeckt werden müssen, und so hat die Versicherung einen erklecklichen Teil von den notwendigen Instandsetzungsarbeiten übernehmen müssen. Jedenfalls erschien an einem der folgenden Tage Ursula mit ihrem Vater bei uns. Er war Zimmermann und sollte den Dachstuhl wieder herrichten. Ursula hatte er mitgenommen; sie hatte wie ich Schulferien und wollte ihren Vater einmal bei der Arbeit beobachten. Es blieb zwischen uns bei einem freundlichen ‚Hallo’. Dann rauschte sie auch schon ab, um mit meinen Eltern und dem Vater den Schaden zu begutachten. Mädchen interessierten mich damals ohnehin wenig. Und Ursula habe ich seinerzeit kaum beachtet. Sie war eine von vielen, mit ihren dunkelblonden Zöpfen, ihren langen Strümpfen und dem Dirndl, wie es halt damals so üblich war auf dem Land. Ursula hatte nichts Beeindruckendes. Sie war ein Mädchen mit rundem, noch kindlichen Gesicht, auf dem allenfalls ein spöttisch erscheinendes Lächeln zu erkennen war. Es mag dieser äußerliche Eindruck gewesen sein, der mir damals und auch später den Zugang zu ihrem Wesen versagte.

In der Realschule hat dann Ursula irgendwann das Amt der Klassensprecherin übernommen. Außer ihr stand damals noch Jochen zur Wahl, dem ich meine Stimme gegeben habe. Das lag sicher zuvorderst daran, dass er ein Junge war, mit dem ich manche Stunde unserer freien Zeit verbrachte. Er war der Sohn des ortsansässigen Großbauern. Die bäuerliche Herkunft sah man ihm keineswegs an. Er war groß und schlank, beinahe schon hager und machte kaum den Eindruck, dass er einmal die körperliche Kraft haben werde, das Heu mit der Gabel auf den Wagen zu schleudern, Zäune zu flicken oder gar die Kühe auf dem elterlichen Hof in die Box zu treiben. Jochen war von ausgleichendem Schlag. Er stritt kaum, war zuverlässig und schon von Kind an nicht zurückhaltend. Das waren mir wichtige Eigenschaften, die ich beim besten Willen bei Ursula nicht zu entdecken vermochte. Sie schien so ruhig und bedächtig. Was ich aber vor meiner Wahl nicht erkannte war, dass sie mit dieser friedfertigen Art es durchaus verstand sich durchzusetzen. Ich entsinne mich noch gut an einen Vorfall während ihrer ‚Amtszeit’. In jugendlichem Übermut haben wir damals mit vier, fünf Jungen aus Spaß in einer nicht betreuten Schulstunde das Klassenbuch genommen und es als Schlagwerkzeug benutzt. Sozusagen als Trommelkörper diente das Lehrerpult. Der Reihe nach droschen wir das Klassenbuch mit aller Kraft und immensem Knallen auf das Pult. Nach einiger Zeit erschien dann der Direktor und erwischte uns in flagranti. Doch es war zu spät. Das Klassenbuch war hin. Es hatte sich durch die Wucht der Schläge in einzelne Blätter aufgelöst. Der Deckel war durchgewalkt, der Rücken abgeblättert und die einzelnen Seiten vielfach eingerissen. Der Direktor – ein durchaus langmütiger, väterlicher Mensch – war außer sich. Er drohte den Übeltätern mit wohlgesetzten, aber gleichwohl durchdringenden Worten ärgste Konsequenzen bis zum Rauswurf an. Letztlich hat Ursula dann Schlimmstes verhindert. Wie sie mir erst kürzlich erzählte, hat sie den Direktor noch am selben Nachmittag alleine aufgesucht und um Milde gebeten. Als er stur zu blieben schien und von einer Bestrafung keinesfalls ablassen wollte, hat sie ihn nur auf die unterlassene Aufsicht hingewiesen. Das brachte ihn zur Besinnung und verschaffte uns statt einer empfindlichen Schulstrafe nur einige Wochen Aufräumdienste. Wenn ich bedenke, welch kühlen Kopf Ursula damals im Alter von vielleicht zwölf Jahren schon behielt, erfüllt mich dies mit großer Hochachtung.

Es folgte die Zeit, in der Mädchen einen neuen Stellenwert in der Betrachtung von jungen Burschen bekommen. Da gingen die Gespräche unter uns natürlich darum, welche - zumeist oder genauer ausschließlich – körperlichen Vorzüge diese oder jede hatte. Ursula wurde nach meiner Erinnerung nie erwähnt. Möglicherweise lag dies daran, dass sie mit ihren muskulösen Beinen und Armen, ihrer schon in jungen Jahren eher kräftigen weiblichen Figur nicht dem zeitgemäßen Schönheitsideal entsprach. Wir schwärmten für eine Claudia, die unendlich lange Beine zu haben schien, oder für eine Monika, die jeden vielsagend anlächelte, die zu versprechen schien, was wir wünschten, oder eine Gerti, die schon einmal Einblick unter ihre Bluse gewährte und einem im belanglosen Gespräch ihre durchaus schon üppige Oberweite geradezu servierte. Und dann war da noch Stefanie. Man konnte glauben, sie wäre zwei Klassenstufen unter uns, so klein und zierlich war sie gebaut; und noch nicht einmal Brustansatz zeigte sie. Aber sie war frech, ging auf die Jungen zu und scheute auch keinen Körperkontakt mit ihnen. Sie war wie ein Junge und stand deshalb hoch in unserer Achtung.

Wenn ich daran denke, dass ich einmal für diese Mädchen geschwärmt habe. Nur Stefanie hat sich, von altersbedingten Fältchen abgesehen, nicht verändert. Bis heute ist sie oben herum flach geblieben, obwohl sie zwei Kinder geboren hat. Claudia habe ich vor zwei Jahren gesehen. Sie ist durch zwei Scheidungen gebrochen, ein Schatten ihrer selbst. Aus der leichtfüßigen Grazie ist eine alte schlappe Frau geworden, der die Sorgen in Falten auf das Gesicht eingebrannt sind. Monika ist irgendwann nach München gegangen. Ich habe seit Jahren nichts mehr von ihr gehört. Und Gerti ist richtig fett geworden. Auf ihr Äußeres gibt sie nichts. Ich sehe sie manchmal im Supermarkt. Immer trägt sie ausgeleierte Jogging-Anzüge. Ihre Brüste sind noch riesiger geworden und hängen ihr schon beinahe bis zum Bauchnabel. Ihr Alkoholproblem steht ihr im Gesicht. Grau ist die Farbe ihres Angesichts, ihre einstmals schönen blonden Haare wabern wirr und ungepflegt um den Schädel, und sie stinkt schon von Weitem erbärmlich nach Alkohol und Schweiß.

Wenn ich mich recht entsinne, habe ich überhaupt das erste Mal einige ernsthafte Worte mit Ursula anlässlich unserer Abschlussfahrt gewechselt. Sie ging nach Berlin, weil dies damals mit erheblichen staatlichen Mitteln gefördert wurde. Und es begab sich, dass wir irgendwo im Tiergarten den Anschluss an die Gruppe verloren. Handys gab es damals nicht, und so mussten wir improvisieren. Mir war doch recht mulmig zumute. Ich kannte mich in der großen fremden Stadt nicht aus, und anfangs fanden wir noch nicht einmal den Weg aus dem Tiergarten auf die Straße. In diesen Momenten des Zweifels und der Unsicherheit lernte ich das erste Mal Ursula ein wenig kennen. Sie beruhigte mich und strich mir sogar einige Male sanft über das Haar. „Zunächst müssen wir stehen bleiben und versuchen, Lage und Himmelsrichtung zu bestimmen. Dann sehen wir weiter“, sagte sie mit milder Stimme. Anschließend schauten wir uns gemeinsam um. In dem riesigen Park sieht man zuweilen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Aber Ursula entsann sich noch an eine kleine Brücke, die man in etlichen hundert Metern Entfernung sehen konnte. Da eilten wir dann hin. Und tatsächlich konnten wir bei einem Blick über die Brüstung unsere Reisegruppe in der Distanz unschwer erkennen. Nach wenigen Minuten war die Unsicherheit großer Erleichterung gewichen – Dank Ursula.

Ich denke, dass dieses Erlebnis zumindest ein wenig meine innerliche Distanz zu Ursula verkürzt hat. Sie hatte eine Fähigkeit gezeigt, die ich nicht hoch genug schätzen konnte. Gleichwohl blieb sie mir unerklärlich. Sie hatte nichts an sich, was mich veranlassen könnte, ihr näher zu treten. Es war nicht diese kühle Unnahbarkeit, die manche Frauen ausmacht. Es war aber auch nicht eine erkennbar gewollte Distanzhaltung zu dem Anderen. Und ich spürte auch keine unüberwindliche körperliche Abwehrhaltung ihr gegenüber. Ursula blieb nur einfach fremd. Sie ging ihren Weg weiter und ich den meinen.

Dabei blieb es zunächst bis zu jenem Montag im August vor zehn Jahren. Es klopfte, und nach einem kräftigen ‚Herein’ trat mein Chef zusammen mit Ursula in den Büroraum, den ich zwei Jahre mit einem älteren Kollegen geteilt hatte. „Wir kennen uns“, sagte ich zum Erstaunen meines Vorgesetzten. Er wollte nur die neue Kollegin vorstellen, mit der ich nach der Pensionierung meines Gegenüber den Raum teilen werde. Das war in der Tat eine große Überraschung. Wie ich schon wusste, hat Ursula wie ich Versicherungskauffrau gelernt. Wir haben nur deshalb nicht denselben Ausbildungsgang gehabt, weil ich zwischenzeitlich den Zivildienst ableisten musste. Eigentlich hätten wir uns gelegentlich während des Blockunterrichts treffen müssen. Dies ist aber nicht geschehen aus Gründen, die heute nicht mehr nachzuvollziehen sind.

Und so saß Ursula mir seit Anfang Dezember gegenüber. Die Arbeitsatmosphäre war durchaus angenehm. Zwar hatte jeder seinen eigenen Bereich der Aktenbearbeitung, aber da es doch immer wieder Parallelen im Bereich Lebensversicherung gab, haben wir uns regelmäßig ausgetauscht. Ich kann mich noch gut entsinnen, wie wir eines Tages mehr durch Zufall einen dreisten Versicherungsbetrug aufdecken konnten. Da hatte doch jemand sich tatsächlich einen Zwillingsbruder zugelegt. Der war nach gefälschten Papieren tödlich in Südamerika verunglückt, und der Mann wollte nun die zu seinen Gunsten festgesetzte Lebensversicherungssumme erschleichen. Wenn wir uns nicht gegenüber gesessen hätten, wäre die Sache wahrscheinlich erst viel zu spät aufgeflogen. Irgend etwas kam Ursula, die eine Lebensversicherung des Anspruchstellers betreute, an der Geschichte spanisch oder besser südamerikanisch vor. Und eine Nachfrage beim Standesamt erbrachte tatsächlich, dass zu keinem Zeitpunkt Zwillinge existierten. Der Mann ist dann später wegen Versicherungsbetrug und Urkundenfälschung zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Dazu hatte auch unsere Aussage vor Gericht beigetragen.

Im Übrigen hielten wir die gewohnte Distanz zueinander. Das lag sicher weniger daran, dass mich Ursulas Äußeres oder gar ihr Geruch etwa abstieß. Sicher hatte sie einige Kilos zugelegt und war nun in der Blüte ihrer Jahre zu einer sehr weiblichen Frau herangereift. Vor allem imponierte mir ihre stattliche Oberweite. Wenn sie im Sommer einen Knopf mehr ihrer Bluse öffnete, konnte man die große Macht ihrer Brüste deutlich erahnen. Zwischen den Brüsten, direkt unter dem Brustbein zeichnete sich nämlich eine tiefe Höhlung ab, was mir untrügliches Zeichen für massige Gewichte war, die dem Druck der Schwerkraft nachgeben mussten. Was mir nicht gefiel, waren ihre langen glatten Haare. Sie gaben ihrem ansonsten offenen und freundlichen Gesicht mit den perlweißen Zähnen eine Strenge und Ernsthaftigkeit, die ihrem Wesen keinesfalls entsprach.

Trotz der durchaus erkennbaren Sympathie, die uns beide nun verband, haben wir allerdings keinen Zugang zu einander finden können. Unser Verhältnis war freundschaftlich und durchaus tiefgängig, nie allerdings spürte ich eine innige Verbindung oder gar einen Drang ihr näher zu kommen. Das mag den Außenstehenden wundern, zumal wenn man bedenkt, dass sie mir peu a peu ihre Lebensgeschichte offenbart hat. Ich wusste bereits, dass sie seit einiger Zeit geschieden war. Ihr Mann muss – nicht nur den Bildern nach – ein wahrer Beau gewesen sein. Ihm ging jedes Ernsthafte ab. Seine Frau litt sehr darunter, dass er nie etwas zu geben imstande war. Er lebte sein Leben weiter, als ob er nicht verheiratet wäre, und gab dazu noch Unmengen an Geld für Kleidung und Luxus aus. Es war nicht seine Untreue, die die Ehe schied, sondern sein beharrliches Desinteresse an der ehelichen Bindung. Ursula hätte sogar einen Fehltritt verziehen. Ihm war es hingegen nur wichtig, stets im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Wenn er denn mit seiner Frau redete oder sie auf ein Geschäftsessen mitnahm, ging es auch hier nur um seine persönliche Eitelkeit. Nach gut zwei Jahren war die gemeinsame Zeit dann am Ende. Ursula hat das Versicherungsunternehmen gewechselt und ist auf diesem Wege dann zu uns gekommen.

Was mir aus der Jugendzeit anhaften blieb, war ein nachhaltiges Interesse für Naturereignisse. Ich ließ keinen Fernsehfilm aus, in dem über Vulkane, Erdbeben, Riesenwellen, Tornados und sonstige Sensationen auf der Erde und am Himmel berichtet wurde. Natürlich gehörte auch alles dazu, was mit der Erforschung des Weltalls zu tun hat. Wenn es so richtig wie aus Eimern schüttete, konnte ich stundenlang fasziniert zum Fenster hinausblicken und auf das Dahingleiten der Wasserströme blicken oder die Blasen beobachten, die der Regen beim Auftreffen auf das Wasser schlug. Blitze weckten natürlich nach wie vor mein Interesse. Da gab es diese mächtigen, senkrecht hinab fallenden Lichtstreifen, dann die ins Feinste verästelten Feuerwege, die zuweilen den Blitzableiter eines Kirchturms trafen oder die tief in das Erdinnere hinabzuschießen schienen. Und wenn dann der tief grollende Donner zu einem Schlag ansetzte, der einen zittern machte, war das Spektakel mir stets eine besonders große Freude. Man hätte glauben können, dass ich infolge der Kindheitsereignisse verängstigt sei. Von derartigen Gefühlsregungen hat mich indes frühzeitig meine eher rationale Art fern gehalten.

Abgesehen von dem gemeinsamen Zimmer sind wir uns auch auf der Arbeitsstelle nicht weiter nahe gekommen. Nur gelegentlich verbrachte ich die Mittagspause mit Ursula in der Kantine. Meist traf ich mich mit alten Kollegen, die ich schon seit der Ausbildungszeit kannte. Wenn wir denn bei solchen Gelegenheiten sozusagen privat zusammen waren, haben wir nicht selten einen Blick in unsere gemeinsame Vergangenheit, vor allem auf die Schulzeit gerichtet. Bei einem dieser Gespräche habe ich Ursula irgendwann offenbart, dass ich mit meinem Leben, vor allem mit meinem Alleinsein nicht sonderlich zufrieden bin. Zwar gab es stets regelmäßige Kontakte zu Freunden, und ich wusste auch ansonsten meine Freizeit sinnvoll mit gelegentlichen Radtouren oder dem Besuch von Kino und Theater zu verbringen. Alles Übrige, vor allem den unmittelbaren menschlichen Kontakt suchte und fand ich meist nur im Büro. So richtig klar wird mir dies allerdings erst, wo ich es aufschreibe. In diesem etwas dumpfen Moment meines Daseins hatte ich in Ursula eine angenehme Zuhörerin, die mir in ruhigen Worten Trost zusprach. Aber über dieses Zutrauen hinaus gingen meine Empfindungen für Ursula nie. Sie blieb mir auch jetzt nur eine angenehme Arbeitskollegin, die ich nie dachte in mein Privatleben einzubeziehen.

Nach drei Jahren war auch dieser gemeinsame Lebensabschnitt beendet. Ursula konnte sich bei einer anderen Versicherungsgesellschaft verbessern und verließ unser Unternehmen. Die folgenden Jahre plätscherten so dahin. Es gab hin und wieder Liebeleien, die allesamt nach wenigen Monaten ein Ende fanden. Mal waren es zu große Ansprüche an meine finanzielle Belastbarkeit, dann wieder stellte sich nach einigen Wochen heraus, dass unsere Gemeinsamkeiten sich im Bett erschöpften. Susanne, meine letzte Lebensabschnittspartnerin, wie man heute sagt, behandelte mich nach und nach geradezu mit Verachtung, so dass auch diese Liaison bald ein Ende fand.

Über all die Jahre habe ich mich in unregelmäßigen Abständen mit Ursula getroffen. Zuweilen waren auch meine jeweiligen Freundinnen dabei. Meist verabredeten wir uns allerdings allein in einem Restaurant oder in einem Cafe, niemals bei dem anderen zu Hause. Hierfür gab es kein Bedürfnis und keine Notwendigkeit. Schließlich wohnten wir seit geraumer Zeit nur zwei Straßen von einander entfernt, was zu Fuß keine fünf Minuten ausmachte. So kamen wir meist in der Mitte beim Italiener zusammen. Im Gespräch ging es zunächst immer um die Firma und um aktuelle Versicherungsvorgänge. Im weiteren Verlauf trat dann das Private, Persönliche in den Vordergrund. Dabei blieb noch nicht einmal der aktuelle Partner/die aktuelle Partnerin ausgespart. Natürlich haben wir nie über Bettgeschichten und ähnliche Intimitäten geredet. Aber Probleme mit Charakterzügen des Partners bis hin zu Finanzsorgen kamen durchaus in der Unterhaltung vor. So erfuhr ich etwa, dass Ursula in der Zweisamkeit ähnliche Schwierigkeiten hatte wie ich. Robert, einer ihrer Gelegenheitsbekanntschaften, behandelte sie wie seine Putzfrau, war unflätig und stellte sich zudem als Schwein in hygienischer Hinsicht heraus. Und Ludwig versuchte tatsächlich mit einem billigen Heiratsschwindler-Trick an ihr Erspartes zu kommen. So boten diese gelegentlichen Treffen Gelegenheit, uns gegenseitig unser Leid zu klagen und den anderen mit wohlgesetzten freundlichen Worten wieder aufzubauen.

Der Leser wird bei dieser Beschreibung nicht verstehen, weshalb wir uns bei so viel Vertrautheit nicht eher nahe gekommen sind. Er mag zunächst bedenken, dass diese Aufzeichnung nachträglich gefertigt wurde und dass deshalb das Eine oder Andere vielleicht schon mit Blick auf das weitere Geschehen formuliert wurde. Ich denke allerdings, dass solch ein Eindruck den wechselseitigen Empfindungen widerspricht. Wir hatten ausschließlich freundschaftliche Gefühle, wenn man das überhaupt schon so sagen kann, für den anderen. Unsere ganze Gestik, die Körperhaltung hätten dem Außenstehenden unmissverständlich zu erkennen gegeben, dass wir beide die gezeigte Distanz auch damals haben wollten. Niemals wären wir auch nur auf die Idee gekommen – dies hat mir Ursula später bestätigt –, dem anderen auch nur durch eine leichte Berührung seines Körpers oder gar einen gehauchten Abschiedskuss eine noch so unbedeutende Zuneigung zu zeigen. Es blieb sogar bei der förmlichen Begrüßung und Verabschiedung, obgleich wir uns seit Kindertagen duzten.

Wir hatten wieder einmal nach gut drei Monaten ein Treffen in unserer Pizzeria verabredet. Der Dienstag Abend war schwül-warm. Die Sonne leckte gerade die letzten Reste des vorbei gezogenen Gewitters von den Straßen. Da ich noch einige Erledigungen in der Stadt gemacht hatte, saß ich schon gut eine viertel Stunde vor der verabredeten Zeit im hinteren Bereich des Lokals an einem Zweier-Tisch. Von dem Herumgelaufe hatte ich mächtigen Durst und bestellte ein Weizenbier, das ich sogleich mit kräftigen Schlucken hinunterschlürfte. Wegen der Wärme hatte ich das Jackett abgelegt und gerade hinter mich über die Stuhllehne gehangen. Als ich aufblickte, trat Ursula zur Tür hinein. Sie trug ein mit fetten Mohnblumen gemustertes weißes Kleid, dessen Saum gerade über das Knie reichte. Ursula hatte in der Tat noch eine hübsche frauliche Figur, ging es mir durch den Kopf. Ihre Waden waren kräftig und standen geradewegs im Gegensatz zu ihren zierlichen Fesseln. Beim Näherkommen betrachtete ich erstmals ihre Füße genauer. Ursula trug eine leichte Riemchen-Sandale, bei der vorne ihre rot gefärbten Zehennägel hervortraten. Sie zeigte einen sehr hübschen schlanken Fuß mit geraden, nicht von Druckstellen missbildeten Zehen. Als sie am Tisch angelangt war, fiel die helle Sonne auf ihr Gesicht. Sie schien so anders. Ich erblickte hellrosa gefärbte Lippen. In der gleichen Farbe hatte sie die Augendeckel getönt. Ihre Wimpern zwinkerten mich dunkel an und öffneten mit jedem Schlag den Blick auf ihre stahlblauen Augen. Überhaupt schien sie im Gesicht schlanker geworden zu sein. Aber möglicherweise lag dies nur an dem feinen Rouge, das ihre kräftigen Wangenknochen optisch zurückdrängte oder an der neuen Frisur, einem koketten Bubikopf. Ich schaute nochmals auf, da ich schon dachte, eine Doppelgängerin hätte den Raum betreten. Aber das Bild blieb unverändert. Und als sie mich dann wie immer freundlich begrüßte, war mir klar, dass sie es war. Es kann doch nicht sein, schoss es mir durch den Sinn, dass sich Ursula so verändert hat. Sie erschien mir heute geradezu anziehend. Und als wir uns dann die Hände zur Begrüßung reichten, spürte ich eine unbekannte Feuchtigkeit auf meiner Handfläche.

Kaum hatte Ursula mir gegenüber Platz genommen, wurde es schlagartig dunkel. Die Sonne hatte sich augenscheinlich hinter einer Wolke zurück gezogen. Schon waren die am Fenster sitzenden Gäste nur noch schemenhaft zu erkennen. Durch das Fenster fiel nicht mehr Licht in den Raum, sondern nur noch ein dunkler Schatten, der zunächst grau, dann tief-grau war und schließlich nur noch volle Schwärze im Raum verbreitete. Kurz darauf erhellte ein gleißender Blitz die Szenerie des Lokals. Menschengruppen erschienen wie auf der Fotoplatte unbeweglich und starr verharrend. Ein zweiter Blitz erleuchtete den Raum grau-blau. In diesem Moment blickte ich auf Ursula. Sie schaute mich so heiter und mit einem fröhlichen Lächeln an. Es folgte ein weiterer Blitz, gefolgt von einem mächtigen Donner, der uns beide zusammenzucken ließ. Unwillkürlich streckte ich meine Hand vor und legte sie auf Ursulas. Nachdem der erste Schrecken über den lautstarken Donner von ihrem Gesicht gewichen war, lachte sie plötzlich los. Es wirkte auf mich so befreiend, so Herz erfrischend. Da begann mein Puls zu rasen. Ein kaum merkbares Zittern erfüllte mich, der Schweiß trat aus den Poren. Zunächst schien nur der Leib zu vibrieren, dann übertrug es sich vom Körper über die ausgestreckte Hand auf Ursula. Und in diesem Moment spürte ich, dass auch sie dieses leichte Zittern erfasst hatte. Ich wusste dies zunächst nicht zu deuten. „Vielleicht hat der Blitz seine elektrische Energie auf mich übertragen?“, dachte ich. „Oder diese düster-schaurige Gewitterstimmung hat mich im Innersten geängstigt?“ Als dann aber das Licht in der Pizzeria anging und im Schein des künstlichen Lichts erkennbar wurde, dass ich in der Wirklichkeit stand, wusste ich, dass ich mich in Ursula sozusagen auf einen Schlag blitzartig verliebt hatte.

Ursula hat mir wenig später ihre Empfindungen an diesem Abend berichtet. Sie habe zunächst beim Betreten der Pizzeria ebenfalls geglaubt, ich sitze noch nicht an unserem Tisch. Sie hat mich für jemanden Anderes gehalten. Das konnte doch nicht ihre Verabredung sein, die da in Jackett und mit farbenfroh gestreiftem Schlips am Tisch saß. Das war endlich einmal ein Mann, der ihr schon vom Äußerlichen her imponiere. Aber diese Sinneseindrücke seien ihr nur flüchtig, geradezu unwirklich vorgekommen. Bereits als sie sich mir gegenüber setzte, habe sie gewusst, dass dieser Abend nicht wie all die anderen ausgehen würde. Als dann Blitz und Donner einschlugen, meinte sie an meiner Mimik deutlich Angst und Sorge, aber gleichzeitig eine große Zuversicht erkennen zu können. Sie wollte zunächst nur trösten. Aber dann, als sie meine auf ihrer Hand spürte, habe sie meine Seele, die Sanftheit meiner Empfindungswelt und eine innige Verbindung zu sich deutlich gespürt. Obwohl ich mir sicher bin, dass ich ihre Hand männlich fest umschlungen hatte, glaubt sie bis auf den heutigen Tag, dass ich sie wie eine Feder berührt und sie damit an mich gezogen habe.

Der Abend endete dann abrupt und vollkommen anders als vorgesehen. Wir haben nur noch ein Getränk bestellt. Als der Kellner nach dem ausgesuchten Gericht fragte, schauten wir dem anderen nur kurz in die Augen und antworteten unisono ‚Danke, wir möchten gehen“. Als wir die Pizzeria verließen, goss es immer noch. Nur der Himmel verlor langsam seine bleierne Schwärze. Geduckt unter meinem Jackett eilten wir zu Ursulas Wohnung, patschten durch die Pfützen. Eile war angesagt. Schon erreichten wir ihr Haus. Im Treppenhaus schlugen und hüpften wir uns das Wasser von den nassen Kleidern. Wir hatten keine Zeit, auf den Aufzug in den zweiten Stock zu warten. Hand in Hand stürmten wir die Treppe hinauf. Keuchend und prustend standen wir eine Weile vor der Wohnungstür, bis Ursula den Schlüssel aus der Handtasche genestelt hatte. Die Jacke nahm sie mir noch in der Diele ab und schleuderte sie auf ein Sideboard, während sie die Tür heftig zuschlug. Schon fühlte ich ihre Finger, diese wunderschönen langen Glieder mit den kurzgeschnittenen rotlackierten Nägeln an meiner Brust, wie sie mir gierig das Hemd aufknöpften. Ich umschloss sie derweil, öffnete den Reißverschluss ihres Kleides und zog es ihr mit einem Ruck über den Kopf, dass ihre Haare wild zerwuselten. Schon rutschte meine Hose nach unten. Ursula zog mich an der linken Hand zu einer Tür, stieß sie mit dem Fuß auf, schleuderte noch im Laufen ihre Schuhe von den Füßen und wir warfen uns gemeinsam auf ihr Ehebett. Dann fielen wir übereinander her. Anders kann man den Vorgang nicht beschreiben. Unsere Münder saugten sich fest, ich spürte die Festigkeit und Leidenschaftlichkeit ihrer Lippen. Alsdann entledigten wir uns flugs der letzten Hüllen. Die Schlüpfer fielen, und Ursula öffnete behände den Vorderverschluss ihres Büstenhalters, so dass mir ihre Brüste beinahe ins Gesicht schlugen. Ich kam kaum dazu, diese herrlichen massigen Lustäpfel zu saugen oder zu massieren. Ursula hatte nämlich schon mein Glied gepackt, das nicht wie üblich waagerecht, sondern in steilem Winkel nach oben zeigte. Wir lagen nun aufeinander. Nur wenige Handgriffe und ich war in Ursula versenkt. Sie war derart nass, dass ich ihre Scheidenwände nicht spürte. Es war als ob ich mich in ihr badete. Und schon nach zwei, drei Stößen setzte bei ihr ein heftiges Zittern ein. Ein, zwei leichte Aufschreie, und Ursula genoss den wohligen Schauer unserer Liebe. Auch bei mir dauerte es kaum länger. Noch ein, zwei Mal nachgesetzt. Dann schien die Elektrizität des Blitzes meine Haare vom Kopf zu heben, die Atemluft wurde dünner, und ich schoss los. Bei Fünf habe ich das Zählen aufgehört. So mächtig war ich noch nie in einer Frau gekommen. Ich war restlos ausgepumpt. Da blieb nichts übrig für ein zweites oder gar drittes Mal. Auch Ursula hatte sich mir völlig offenbart. Ihr Beben glich dem Donnergrollen von vorhin. Und als ihre letzte Lustwelle vergangen war, sanken wir ermattet und vollkommen entrückt dahin. Die Spannung, aufgestaut in Jahren und Jahrzehnten, war nun gelöst.

Es dauerte dann keine Woche, dass wir beschlossen zu heiraten. Nach so langer Zeit.

 

Zwar war das echt zu lang für eine Kurzgeschichte, aber sehr schön erzählt. Kleine Fehler oder missverständlich ausgedrückte Passagen waren auch dabei, aber ich bin selber nicht Fehlerfrei.- Ok soweit. - Es war so gut geschrieben, dass man glaubt es ist eine ware Geschichte. Gibts ne Fortsetzung? Gruss Tschwinel

 

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