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Claire
Als die junge Frau, die ich später unter dem Namen Claire kennenlernen würde, zwischen zwei Betonpfeilern stand und den Daumen in die Luft streckte, hatte sie nicht viel mehr dabei als die Kleider, die sie am Körper trug. Drei Stunden lang wartete sie am Autobahnzubringer, während die klirrende Kälte ihre Beine zum Zittern gebracht, der Gestank von Müll und Urin sich in ihrer Nase festgesetzt haben musste. Im Minutentakt bremsten Männer ab, ließen die Seitenfenster heruntergleiten, legten eine Hand flach auf den Beifahrersitz. Aus dem Innern ihrer Autos strömte warme Luft, die nach Orange roch, oder nach Zimt oder Zedernholz. «Steig ein», sagten sie und stets schüttelte Claire, die sich vorgenommen hatte, nur bei einer Frau einzusteigen, den Kopf. Als aber ein Bursche anhielt, den Gott so schön geschaffen hatte, wie man es sich nur ersinnen konnte, und mit sanfter Stimme nach Claires Reiseziel fragte, brach ihr Widerstand. Er hörte auf den Namen Jannes und erwies sich als zugewandter Gesprächspartner. Während der Fahrt brachte er sie immer wieder zum Lachen und als sie an einer Raststätte eine Pause einlegten und eine Kleinigkeit aßen, sah er ihr in die Augen und legte seine Hand auf den Tisch. Nichts hätte Claire in diesem Augenblick lieber getan, als nach ihr zu greifen und sie gegen ihre Wange zu pressen. Da begriff sie, dass Gott sie prüfte.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nur wenige Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht gesammelt, aber genügend viele und genügend gute, um das Gewicht der Bürde zu erahnen, die sie sich zu tragen vorgenommen hatte. Sie liebte es, wenn einer sich an ihren Rücken schmiegte, ihre Haare zur Seite strich und den Hals mit Küssen übersäte. Sie verstand nicht, wie man glauben konnte, die Vereinigung zweier Körper sei eine Sünde. Und doch: Wollte sie dem Ruf folgen, den sie vernommen hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als der fleischlichen Liebe zu entsagen.
Als Jannes wieder in den Wagen stieg, öffnete Claire die Hintertür, griff nach ihrem Rucksack und teilte ihm mit, er müsse alleine weiterfahren. Er fragte, ob er etwas Falsches gesagt habe, bot ihr an, sie wenigstens nach Como zu fahren, wo sie übernachten könne. Claire lehnte ab. Es tue ihr leid, sagte sie und nachdem Jannes ihrem Blick entschwunden war, stieß sie einen Schrei aus, ballte die Faust und biss sich in die Knöchel. Sie wusste, dass sie nicht bloß auf einen flüchtigen Moment der Lust verzichtet hatte, sondern auf ein ganzes Leben voll irdischen Glücks. Doch nach einer Weile wich ihr Schmerz der Einsicht, dass Gott, indem er Gelegenheiten darbot, vom Weg abzukommen, lediglich ihren Glauben festigen und ihre Zuversicht stärken wollte. Nun, da die Krise überstanden war, fiel sie auf die Knie, um ihm dafür zu danken.
Am folgenden Tag traf Claire in Mailand ein. Wintersmog zeichnete die Stadt weich. Sie besuchte den Dom und irrte in den Straßen umher, bis es dunkel wurde. In der Nacht, die sie offenbar auf einem Lüftungsgitter in Bahnhofsnähe verbrachte, fielen die Temperaturen unter Null. Sie dämmerte im Halbschlaf vor sich hin. Trotz des Kaffees aus ihrer Thermoskanne, von dem sie in regelmäßigen Abständen nippte, fühlte sie sich wie ein Reptil in Kältestarre. Sie zweifelte. Ihr wurde bewusst, dass die Energie, die sie für ihren Weggang aufgewendet hatte, im Vergleich zur Stärke, die sie von nun an benötigte, verschwindend gering gewesen war.
Als sie am nächsten Morgen mit steifen Gliedern den Schlafsack zusammenrollte, stellte sie fest, dass sie unweit von zwei Obdachlosen gelegen hatte. Am Imbissstand besorgte sie sich Kaffee und drei Tramezzini. Danach setzte sie sich im Schneidersitz neben den Karton, den die beiden als Unterlage benutzten, wartete, bis sie erwachten. Sie hießen Elena und Marco und waren nur wenig älter als sie. Der Glanz von Elenas langen Strähnen, die sie, während sie ihr Tramezzino aß, rastlos um den Zeigefinger drehte, ließ darauf schließen, dass sie noch nicht lange auf der Straße lebte. In Marcos Gesicht hingegen hatten sich Härte und Kälte des Lebens tief eingegraben. Claire fragte nicht, wie genau es dazu gekommen war, fragte nicht, wie die beiden zueinander gefunden hatten. Überhaupt sprachen sie nur wenig miteinander. Nach einer Weile verzichtete Claire ganz auf die englische Sprache, zeigte stumm auf den Schlafsack, auf den Becher in ihrer Hand, hielt die aufeinandergelegten Hände an die Wange und lernte so ihre ersten italienischen Ausdrücke, il sacco a pelo, la tazze, und dormire.
Wie viel Geld sie zu diesem Zeitpunkt bei sich trug, würde sie mir ebenso wenig verraten wie den genauen Ort ihrer Herkunft. Sicher war nur, dass sie die folgende Woche damit verbrachte, verschiedene Läden aufzusuchen, wo sie Daunenjacken und hochwertige Schlafsäcke kaufte, um sie an all jene in der Stadt zu verteilen, die in diesen Tagen im Freien schliefen. In einer Hotellobby riss sie einen Stadtplan vom Block und ließ sich von Elena und Marco einschlägige Parks und Plätze einzeichnen. Unermüdlich klapperte sie diese Orte ab, erntete Misstrauen, manchmal gar Spott, wurde aber am Ende der Woche, als sie einen der Parks erneut aufsuchte, mit nostro angelo tedesco begrüßt.
Inzwischen hatte Claire den Entschluss gefasst, weiter Richtung Süden zu ziehen. Marco hatte ihr geraten, die Stadt zu verlassen. Er lege für jeden, den er persönlich kenne, die Hand ins Feuer, sagte er, inzwischen habe sich Claires Großzügigkeit jedoch herumgesprochen, und das sei ein Umstand, der sie in eine unangenehme Lage bringen könne. Claire hatte genickt, aber Marcos Befürchtungen waren nicht der wahre Grund ihrer Weiterreise. In der Nacht hatte der Herr zu ihr gesprochen und ihr bedeutet, die Suche habe eben erst begonnen.
Die nächsten zweihundert Kilometer legte Claire zu Fuß zurück. Tagelang säumten kahle Äcker und Felder, auf denen morgens Raureif lag, ihren Weg. Strommasten sirrten, Raubvögel kreisten am grauen Himmel. Sie sprach mit niemandem und betete viel, schlief in offen stehenden Kapellen, in Scheunen oder verlassenen Häusern. Weder die Dunkelheit noch das Rascheln der Tiere bereiteten ihr Angst. An Nebel und Kälte hatte sie sich gewöhnt, nur einmal, wohl weil sie Erfrierungen befürchtete, verbrachte sie die Nacht in einem heruntergekommenen Hotel. Die Kümmernis, die sie in den ersten Mailänder Tagen überwältigt hatte, kehrte indessen zurück. Seit ihrer Abreise hatte sie vier oder fünf Kilo abgenommen und fühlte sich von Tag zu Tag schwächer. Noch immer wusste sie nicht, wohin ihre Reise führte, noch immer kannte sie nicht den Ort ihrer Bestimmung. Und doch hatte sich Claires Brust geweitet, das Atmen fiel ihr leicht und ihr Geist gewährte Gott schrankenlosen Raum, als wäre die Flut in ihrem Kopf der Ebbe gewichen, als stünde die Sonne still über einem glitzernden Watt. In der immergleichen Ödnis der winterlichen Po-Ebene verblasste die Erinnerung an ihr bisheriges Leben. Die Familie, die sie zurückgelassen hatte, fühlte sich nicht mehr als die ihre an, die Gesichter ihrer kaltherzigen Eltern vermochte sie zu ihrem eigenen Erstaunen nur noch schemenhaft ins Gedächtnis zu rufen.
Nach zehn Tagen Wanderschaft erreichte Claire den Dom von Parma, wo sie sich beim Anblick von Corregios Kuppelfresko einen steifen Nacken holte, und einige Zeit später, auf der Landstraße zwischen Reggio Emilia und Modena, stellten sich ihr vier Männer in den Weg. Sie waren über die Felder gekommen, trugen Militärparkas mit Fellkapuzen und hohe Stiefel, und fragten auf Englisch und Italienisch, wer sie sei und woher sie komme. «Eine Dienerin des großen Königs bin ich. Was geht es euch an?», antwortete sie. Die Männer verstanden nicht. Sie lachten. Einer packte sie am Arm, der andere zog am Rucksack, sodass sie das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte. Der Anführer der Bande, der in der Folge Befehle erteilte, setzte sich auf Claires Bauch und legte ihr die Hände um den Hals, während die anderen ihre Taschen durchwühlten, ihr die Schuhe auszogen und unter deren Innensohlen alles Geld fanden, das sie besaß. Als sie sich wehrte, spuckte ihr der Anführer ins Gesicht, würgte sie noch heftiger, hob ihren Kopf an und schlug ihn gegen den Boden. Wie lange es dauerte, bis die Männer hatten, was sie wollten, konnte Claire nicht sagen, auf meine Frage, was sie ihr sonst noch angetan haben, würde sie in Schweigen verfallen. Am Ende schleiften die Kerle sie in den Straßengraben, wo sie mit einer blutenden Platzwunde am Kopf das Bewusstsein verlor.
Sie erwachte in der Dunkelheit, rollte sich auf den Rücken und blickte in den sternenlosen Himmel. Der Schmerz in ihrem Schädel überlagerte alle anderen Empfindungen, sie fühlte weder Kälte noch die Feuchtigkeit, die durch ihre Kleider drang. Die Versuchung, liegen zu bleiben und die Augen zu schließen, war immens. Für eine Weile gab sie ihr nach, doch dann begriff sie, dass sie auch diese Prüfung zu bestehen hatte. Sie rappelte sich hoch und schleppte ihren geschundenen Körper auf allen vieren ins nächste Dorf, wo sie an der Tür des einzigen Hauses klingelte, in dem Licht brannte und wo ein Priester lebt, der nachts nur selten schlafen kann. Der Anblick, den sie mir bot, war furchtbar. Blut klebte an Stirn und Lippen, mit zitternden Armen hielt sie sich am Türrahmen fest, bevor sie ein schwaches Krächzen ausstieß und in meine Arme fiel.
Ich rief Pietro an, der sich zehn Minuten später, das Hemd hastig in die Hose gesteckt, über Claire beugte, Puls und Blutdruck maß und ihre Wunden in Augenschein nahm. Gemeinsam schälten wir sie aus den nassen Kleidern und wickelten sie in Decken. Danach trugen wir sie in Pietros Wagen und fuhren sie ins Krankenhaus.
Claire schlief über vierzehn Stunden. Als sie die Augen aufschlug, dämmerte es draußen bereits wieder. Ich saß auf einem Stuhl am Fenster. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, wer sie war, wußte nicht, woher sie kam, aber ich ahnte, dass ihr Auftauchen eine Bedeutsamkeit besass, die meinen Verstand weit überstieg.
Claire trug keinen Ausweis bei sich. Die Ärzte mussten zur Kenntnis nehmen, dass sie sich für volljährig erklärte und im Übrigen jede Auskunft verweigerte, auch was den Überfall betraf. Als sie jedoch erfuhr, dass ich Priester bin, schickte sie alle anderen nach draußen und erzählte mir in aller Ausführlichkeit, wie sie hierhergekommen war. Die Offenheit, mit der sie sich mir anvertraute, erschütterte mich und erregte meinen Geist. Mit jedem Wort, das sie sprach, begriff ich ein wenig mehr. Es gab die Zeit des Vaters und es gab die Zeit des Sohnes. Mit dem Erscheinen Claires brach eine neues Zeitalter an, eine Epoche des Friedens, dessen war ich mir gewiss. Ich begriff auch, welche Rolle mir zuteil geworden war. Bald würde die ganze Welt ihren Namen kennen und meine Aufgabe war es, ihre Geschichte zu erzählen.
Am Ende eröffnete sie mir, sie müsse unverzüglich weiterziehen. Es sei nicht der Plan, dass sie hier im weichen Bett liege und sich verarzten lasse. Sie fühle sich bereit, sagte sie und während sie sich aufstützte, versuchte sie, die Schmerzen, die sie offensichtlich plagten, mit einem Lächeln zu überspielen. Als sie erfuhr, dass ihre Kleider bei mir daheim lagen, bat sie mich, sie unverzüglich dorthin zu fahren.
Ich stand an der Tür und winkte Claire zum Abschied. Sie hob die Hand zum Dank, dann drehte sie sich um und humpelte los. Sie hatte all meine Angebote abgelehnt: Essen, Decken, eine Taschenlampe. Sie ging gebückt und langsam und es zerriss mir das Herz.
Eine ganze Weile noch stand ich in der Kälte und blickte der Gestalt nach, die kleiner und immer kleiner wurde. Bald würde Pietro mich anrufen und mir meine Verantwortungslosigkeit vorhalten.
Habe ich richtig gehandelt? Ich vertraue auf Gott, vor Ihm werde ich mich rechtfertigen müssen. Denn ich bin bloß sein Instrument, so wie auch Claire sein Instrument ist, wenn auch ein ungleich gewaltigeres.