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- 09.12.2019
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Collector
Es war wahrscheinlich das Bistro mit der außergewöhnlichsten Aussicht im Universum.
Lissy setzte sich mit ihrem Kaffee an einen der kleineren Tische direkt an dem Panoramafenster und blickte auf „A0620-00“, das Schwarze Loch im Sternbild Einhorn.
„Woran denkst du?“, fragte ihr Kollege Scott, nachdem sie einige Minuten dort gesessen hatte. Er hatte sich ebenfalls einen Kaffee geholt und setzte sich zu ihr.
„Es ist wunderschön, aber auch ... ich weiß nicht, so fremdartig, beängstigend“, antwortete sie. Lissy sah erneut aus dem Fenster, sie umkreisten das Schwarze Loch in einem sicheren Abstand zum Ereignishorizont. In jedem Fall fand sie es faszinierend, umgeben von Partikeln in allen erdenklichen Farben. Rotierend wie ein bunter Wasserstrudel, der für immer im Nichts verschwand. Was mochte in seinem Inneren passieren?
„Wir sind noch lange genug hier, du wirst dir schon noch darüber klar werden“, meinte Scott.
„Ja, sieht wohl so aus. Ich hab einfach zu viel Zeit, aber das ist ja auch ein gutes Zeichen.“
„Wird die Föderation freuen, alle Versuchskaninchen gesund und munter.“ Scott blickte sich um, aber es war niemand in der Nähe. „Und wie sieht es mit Vince aus?“
„Im Moment ist er unauffällig, seine Stresswerte sind zwar noch etwas erhöht, aber nicht bedenklich. Ich erhalte direkt eine Nachricht, wenn seine Werte wieder steigen, genau wie bei allen anderen Crewmitgliedern.“ Sie hob ihr Handgelenk mit dem Kommunikator. „Aber ich spreche auch weiterhin regelmäßig mit ihm, werde mich auch gleich noch dransetzen, mit allen anderen an Bord einen Termin zu vereinbaren. Habe, glaube ich, etwas den persönlichen Kontakt verloren, aber es läuft alles so ruhig, seit wir hier angekommen sind.“
„Wir haben halt alle nicht allzu viel zu tun. Im Moment prüfen wir hauptsächlich, dass die Systeme der Collector fleißig Daten sammeln.“
„Falls ich über meine Zeit hier mal etwas schreibe, nenne ich den Artikel vielleicht ‚Ereignislos am Ereignishorizont‘, oder so ähnlich“, meinte Lissy.
Scott sah sich erneut kurz um. „Es muss ja nicht alles ereignislos sein. Sehen wir uns später noch?“, flüsterte er.
„Vielleicht.“
Lissy hatte in ihrem Behandlungszimmer den Ausblick auf das Schwarze Loch durch eine Seenlandschaft ersetzt. Beruhigende Farbtöne, blau und grün.
„Wie geht es Ihnen heute, Vince?“, fragte sie, nachdem er sich ihr gegenüber hingesetzt hatte.
„Auf jeden Fall besser als an den ersten Tagen, nachdem wir die Schlafkammern verlassen haben. Ich glaube, der Anblick des Schwarzen Lochs hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen.“
„Ihre Werte sehen nun stabil aus, aber ich denke, wir behalten mal eine geringe Medikation bei. Vielleicht sprechen wir nochmal darüber. Macht Ihnen im Moment etwas Angst?“
„Na ja, ich … ich glaube, durch das Medikament geht es nun. Aber ich denke immer mal wieder darüber nach, wie ein kleiner Fehler dazu führen könnte, dass wir in das Schwarze Loch gezogen werden. Ich bin zwar nur als Sicherheitsoffizier an Bord, aber … na ja, so sehe ich es halt.“
„Ich denke, das müssen Sie nun nicht mehr. Wir sind schon einige Tage hier auf einem stabilen Kurs, und so bleibt es auch, bis wir wieder den Rückflug zur Erde beginnen. Wir fliegen nicht mehr näher heran. Wie wäre es, wenn Sie Scott mal ansprechen? Er kann Ihnen als Chefingenieur genau erklären, weswegen keine Gefahr droht. Dann sind sie bestimmt noch etwas beruhigter.“
Vince sah sie einige Sekunden an, ohne zu antworten und betrachtete dann mit glasigen Augen das Bild der Seenlandschaft. So als würde er hindurch sehen und das Schwarze Loch betrachten. Schließlich sagte er: „Es ist wahrscheinlich das Unbekannte, das mir Angst macht. Der Anblick ist so fremdartig, aber auch gleichzeitig so anziehend. So als würde es uns rufen, in sein Innerstes zu fliegen.“
„Aber sie wissen, dass es das nicht tut? Es ist nur die Faszination, die es ausübt. Seine Fremdartigkeit, die wir versuchen zu verstehen“, erklärte Lissy. „Vince?“
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn aus einer Trance geweckt und sah sie wieder an. „Ja, fremdartig ... Was wollte ich … Haben Sie je von dem Vorgehen der Föderation gehört, eine versteckte weitere Mission unterzubringen, von der die gesamte Crew nichts weiß? Bis eine entsprechende Person aktiviert wird?“
Lissy betrachtete Vinces Werte auf dem Holodisplay, aber sie waren weiterhin im Normbereich. „Ja, während der Akademie, und natürlich ist es immer wieder mal ein Gesprächsthema unter Kollegen. Aber soweit ich weiß, ist die ‚Mission Zwei‘ nur ein Gerücht, das bisher nie bestätigt wurde. Ich habe die Föderation immer als offen und kommunikativ erlebt, ich kann mir also eigentlich nicht vorstellen, dass sie ihre Mitarbeiter gegeneinander ausspielt.“
„Nein, wahrscheinlich nicht. Weiß auch nicht, wie ich jetzt darauf komme. Ich habe in der Nähe dieses Ungeheuers wahrscheinlich einfach nur Angst, dass jemand einen Fehler macht.“
„Also, Vince, Sie wissen ja, dass sie sich jederzeit bei mir melden können, wenn es Ihnen nicht gut geht, oder sie über etwas sprechen möchten. Falls ihre Angstgefühle wieder stärker werden, haben wir auch noch die Möglichkeit, die Medikation etwas zu erhöhen. In Ordnung?“
„Ja, danke, ich denke es wird gehen, und ich werde demnächst mal bei Scott vorbeischauen.“
„Machen Sie das. Falls vorher nichts ist, sehen wir uns in einer Woche wieder, zur gleichen Zeit.“
Lissy genoss die Ruhe in ihrem Behandlungszimmer. Alle Gespräche und Untersuchungen für diesen Tag waren erledigt. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl zum Fenster und entfernte per Sprachbefehl die Seenlandschaft. Sie wollte schon immer das Weltall und fremde Welten sehen, inspiriert durch die Erzählungen ihres Vaters. Auch in der Finsternis des Alls war die Verzerrung zu spüren, je näher sie in Richtung des Zentrums des Schwarzen Lochs sah. Als würden sich Raum und Zeit auflösen und zu etwas völlig Neuartigem werden.
Es war zunächst ein kaum merkliches Gefühl, als würde sie ganz leicht durch eine unsichtbare Kraft nach vorne gezogen. Im Zentrum des Lochs breitete sich ein rötliches Licht aus. Die Kraft wurde stärker, zog sie immer schneller in Richtung des Leuchtens. Nicht nur sie, die gesamte Collector. Etwas kam aus dem roten Licht …
Lissy wachte schweißgebadet auf. Ihr Puls raste. Sie sah sich um und war natürlich in ihrer Kabine, alles war in Ordnung. Durch Konzentration auf ihre Atmung versuchte sie sich zu beruhigen, es dauerte dennoch einige Minuten, bis sie wieder etwas klarer denken konnte. Scott lag neben ihr und schlief tief und fest. Sie strich ihm über seine kurzen schwarzen Haare, als wollte sie sich davon überzeugen, dass er wirklich da war.
Es war kurz nach fünf Uhr morgens, nur noch knapp zwei Stunden, bis sie aufstehen musste. Sie war nun hellwach und entschloss sich, im Bistro einen Kaffee zu trinken, bevor sie duschte und ihre Arbeit begann. Sie band ihre langen blonden Haare zusammen und verließ leise die Kabine. Die Flure waren verlassen und Lissy genoss die Ruhe, genau wie zu Beginn ihres Traumes.
„Vince?“, fragte sie, als sie das Bistro betrat. Er stand vor dem Panoramafenster und blickte nach draußen. Neben ihm lag eine zerbrochene Kaffeetasse. Der Kaffee breitete sich weiter aus, erreichte seine Füße. „Was machen Sie hier um diese Zeit?“
Er antwortete, ohne sich zu ihr umzudrehen: „Wir hätten nicht hierher kommen sollen.“
Lissy prüfte ihren Kommunikator, bekam jedoch keinen Hinweis auf erhöhte Stresswerte. Sie ging näher an ihn heran und fragte: „Wie kommen Sie darauf? Haben sie mit Scott gesprochen?“
„Keine Technik kann dieser Macht etwas entgegensetzen. Ich werde nicht in seiner ewigen Finsternis gefangen sein.“
Erst jetzt bemerkte sie, dass er etwas in der Hand hielt. Eine große Scherbe der zerbrochenen Tasse. „Vince, lassen Sie uns reden. Ich sagte Ihnen doch ...“
Er drehte sich zu ihr um und unterbrach sie: „Sie müssen sich schützen. Ich kann es nicht.“
„Ich weiß nicht, was ...“ Weiter kam sie nicht. Mit einer schnellen Bewegung, der sie kaum folgen konnte, stach sich Vince mit der Scherbe in die Halsschlagader. Wieder und wieder. Sie wollte zu ihm laufen, ihn daran hindern. Stattdessen stolperte sie rückwärts und fiel hin. Rief über ihren Kommunikator nach Scott, er war der erste, an den sie dachte. Vince ging in die Knie, sein Hals war nur noch eine rote Masse. Das Blut lief die weiße Uniform herab, vermischte sich auf dem Boden mit dem Kaffee.
„Ich dachte, er wäre körperlich und mental stabil? Erklären Sie mir das!“, forderte Kapitän Glen von Lissy.
„Ich …“ Sie sah zu Scott, als könnte er ihr helfen die richtigen Worte zu finden. „Ich kann es noch nicht, aber ich werde gleich die Autopsie durchführen, zusammen mit Ilan.“
„Ich erwarte direkt im Anschluss Ihren Bericht. Bis dahin läuft hier alles so weiter, als wäre nichts passiert. Niemand außer den hier Anwesenden und Ilan weiß bisher davon, und ich erwarte, dass das so bleibt!“
„Und wenn jemand nach Vince fragt?“, wollte Rikon wissen, der Sicherheitschef der Collector. Er hatte geholfen die Leiche in den Operationsraum zu bringen, bevor ein Reinigungsroboter das Blut und den Kaffee beseitigte.
„Dann hat er eine Magen-Darm-Grippe und ruht sich in seinem Zimmer aus“, antwortete Glen. „Wir treffen uns hier in zwei Stunden wieder. Sonst noch etwas?“ Er blickte in die Runde, sie saßen in dem Besprechungsraum nahe der Brücke.
„Ja“, sagte Lissy. Alle sahen sie an, während sie überlegte, wie sie anfangen sollte. „Vince hat …“
„Sie unterliegen nach seinem Tod nicht mehr der ärztlichen Schweigepflicht, Doktor Plato. Also raus damit!“
„Vince fragte mich, ob ich je von der ‚Mission Zwei‘ gehört habe. Er schien nicht aufgebracht oder ängstlich, aber es beschäftigte ihn.“
„Ich weiß auch nach über zwanzig Jahren bei der Föderation nicht, wie dieser Unsinn entstanden ist. Die primäre und sekundäre Mission ist hier ja hoffentlich jedem bekannt. Wir sind die Ersten bei denen beobachtet wird, wie wir auf die Nähe eines Schwarzen Lochs reagieren. Eine versteckte weitere Mission existiert an Bord meines Schiffes nicht. War es das?“
Kapitän Glen blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Runde. Keiner sagte mehr etwas.
Vince Leiche lag auf dem Obduktionstisch. Ilan war als Allgemeinmediziner und Chirurg an Bord und hatte bereits alles vorbereitet. „Ich habe die Wunde am Hals gereinigt, ansonsten ist er unverändert, ich habe ihm nur die Kleidung ausgezogen“, sagte er.
Obwohl er ein erfahrener Arzt war merkte Lissy an seiner leisen Stimme, dass die Obduktion eines Kollegen auch für ihn eine belastende Situation war. Es war als Neurologin und Psychiaterin noch weniger ihr Gebiet als seins, aber sie mussten dies abdecken, an Bord eines Raumschiffes. Sie betrachtete Vinces nackten Körper, und konnte außer seinem zerstörten Hals keine weiteren Verletzungen oder Hautunreinheiten erkennen. Kein Hinweis darauf, dass er Drogen genommen hatte. „Haben Sie etwas Auffälliges in seinen Blutwerten gefunden?“, fragte sie.
„Nein, nur das Medikament, das Sie ihm verschrieben haben. Und keiner ihrer vorherigen Tests wies auf eine Suidi … Suizidalität hin. Auerde … Außerdem … Entschuldigung ...“
„Ilan? Ist Ihnen nicht gut?“, fragte Lissy besorgt. Ilan stütze sich mit beiden Händen auf den Obduktionstisch, er war kreidebleich geworden.
„Habe schon seit fast einer Stunde Koschme … Kopfschmerzen, und …“
„Setzen Sie sich erst mal, ich hole Ihnen ein Glas Wasser!“
Ilan blickte auf, seine Augen waren blutunterlaufen. „Es ruft uns. Sie werden mich nicht aufhalten.“
„Ilan, was …“ Er griff mit einer schnellen Bewegung über den Obduktionstisch, packte sie am Kragen des Kittels und zog sie zu sich. Sie versuchte, ihn wegzudrücken, aber er war zu stark. Mit seiner anderen Hand tastete er nach dem Skalpell, das er bereits für die Obduktion neben die Leiche gelegt hatte. Lissy versuchte, seinen Arm festzuhalten, aber es war zu spät. Er umgriff das Skalpell und versuchte damit in Lissys Hals zu stechen. In letzter Sekunde schaffte sie es, seinen Arm nach unten zu ziehen, die Klinge stach in ihre Schulter. Sie schrie auf vor Schmerz. Ilan zog das Skalpell heraus und holte erneut damit aus. Lissy handelte instinktiv und rammte ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Es gab ein Knacken, als seine Nase brach. Er ließ sie los, und sie taumelte zurück.
Ilan stand nach vorne gebeugt direkt hinter dem Obduktionstisch, griff sich an die Nase und betrachtete das Blut an den Händen. So als könnte er nicht glauben, was passiert war. Das Skalpell hatte er fallen gelassen. Lissy trat so fest sie konnte gegen den Tisch und traf Ilan damit an der Stirn, als er gerade aufblicken wollte. Sein Kopf wurde zurück in den Nacken geworfen. Er fiel nach hinten und blieb bewegungslos liegen. Blut lief aus seiner Nase und der Wunde an seiner Stirn.
„Zimmerservice!“, sagte Scott, als er ihre Kabine mit einem Tablett betrat. „Wie geht es dir?“
Lissy blickte ihn an, ihr Gesicht noch immer kreidebleich. „Danke, es geht schon. Aber wie geht es Ilan?“, fragte sie.
„Er kann sich an nichts erinnern.“ Er stellte das Tablett neben ihr auf dem Bett ab. „Aber er ist auf dem Weg der Besserung, hat nur eine leichte Gehirnerschütterung.“
„Gott sei Dank, ich hatte Angst, dass er eine Verletzung an der Halswirbelsäule hat. Aber was ist hier bloß los?“
„Bisher hat niemand eine Erklärung. Ich denke, Glens Entscheidung ist richtig, es wird bereits alles vorbereitet um hier wegzukommen, erst mal in eine sichere Entfernung zu diesem Ungetüm. Wahrscheinlich geht es morgen gegen Mittag zurück in die Schlafkammern.“
Lissy hatte trotz der Geschehnisse ihren Appetit nicht verloren und begann zu essen. „Ja, ist wohl das Beste. Obwohl es ja bisher keinen Beweis dafür gibt, dass das Schwarze Loch etwas damit zu tun hat“, meinte sie zwischen den Bissen.
„Nein, aber wenn wir später die Daten auswerten, werden wir schon dahinter kommen. Vielleicht eine bisher nicht entdeckte Strahlung.“
„Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit. Ich muss immer wieder an Vinces Worte denken, seine Frage nach einer ‚Mission Zwei‘.“
„Lissy, bitte, das ist doch …“
„Warte doch mal, so abwegig ist es nicht. Es ist ja auch egal, ob man es ‚Mission Zwei‘ oder sonst wie nennt, aber irgendetwas Wahres ist an solchen Gerüchten immer dran. Also nur mal angenommen, irgendein geheimes Programm der Föderation versucht nach und nach, einen geeigneten Mitarbeiter zu finden und aktivieren. Was könnte der Zweck hiervon sein? Was soll derjenige machen?“
„Kann ich dir nicht sagen und ich glaube auch nicht, dass es so ist. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, du wirst sehen, es wird sich später alles aufklären. Tut mir leid, ich würde gerne weiter mit dir hierüber sprechen, aber ich muss zurück an die Arbeit. Wir sehen uns später.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Lissy sagte nichts mehr, als er die Kabine verließ. Sie würde jemanden finden müssen, der ihr dabei half, diese Spur zu verfolgen. Sie aktivierte per Sprachbefehl ein Holodisplay und stellte eine Verbindung zu Rikon her.
„Sie sollten sich noch schonen“, meinte Rikon als sie sein Büro betrat. Sein Gesicht war wie üblich kaum zu sehen unter seinem Cappy und dem Vollbart.
„Es geht schon, ich kann mich im Moment einfach nicht ausruhen, bei allem was passiert ist. Haben Sie etwas gefunden?“, fragte Lissy.
„Ich habe nicht die höchste Berechtigungsstufe, kann jedoch die meisten Daten einsehen. Habe aber keinen Hinweis auf einen weiteren Missionsinhalt gefunden. Und auch sonst nichts in den Daten der letzten Tage, was auf eine Unregelmäßigkeit hindeutet. Die Zusammensetzung der Luft an Bord ist wie sie sein sollte und die Daten der Crewmitglieder haben Sie ja im Blick.“
„Ja, bei keinem der Drei gab es Auffälligkeiten, es bleibt ein Rätsel.“
„Ich habe eben eine Information eines Mitarbeiters von Scott erhalten, aber ich glaube nicht, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Das Tiefenscan-Modul ist ausgefallen, ungefähr eine Stunde bevor Vince sich umbrachte.“
„Ach! Wofür ist es da?“, wollte Lissy wissen.
„Es analysiert den Bereich am Ereignishorizont, an der Grenze hinter der Licht und Materie dem Schwarzen Loch nicht mehr entkommen können. Das ist zumindest mein laienhaftes Verständnis, sonst müssten Sie Scott oder seine Mitarbeiter mal ansprechen, die können es Ihnen besser erklären“, erläuterte Rikon.
„Und was ist nun damit?“
„Das Modul ist wohl technisch in Ordnung, scheint ein Softwarefehler zu sein. Teile des Codes wurden durch kryptische Zeichen überschrieben, dadurch hat das ganze Modul seinen Dienst eingestellt.“
„Wurde die Software sabotiert?“
„Nein, es gibt keinen Hinweis auf einen manuellen Eingriff. Als hätte irgendetwas den Code überschrieben, vorbei an allen Sicherheitsmechanismen.“
Diesmal wusste Lissy, dass es ein Traum war. Aber es war mehr als das, etwas versuchte sie zu erreichen, wie schon in der letzten Nacht. Sie saß wieder in ihrem Behandlungszimmer und betrachtete das Schwarze Loch.
Vince lag auf der Patientenliege. Sein Hals war eine grässliche Wunde, dennoch versuchte er zu sprechen, kaum hörbar: „Ich kann Ihnen nicht helfen. Sie müssen selbst entscheiden.“
Das rötliche Leuchten begann sich erneut im Zentrum des Lochs auszubreiten. Etwas kam daraus hervor, schwarze Tentakel, die nur durch das rote Licht zu sehen waren. Sie kamen auf die Collector zu, immer schneller. Eins davon durchschlug die Scheibe und griff nach ihr …
Lissy wachte auf, fühlte sich diesmal sehr ruhig. Etwas war in ihrem Bewusstsein und würde ihr den Weg zeigen. Sie blickte zu Scott. Seine Augen waren offen, ausdruckslos nach oben gerichtet. Das Bettlaken war blutgetränkt, er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Sie betrachtete die Wunden teilnahmslos. Nichts spielte mehr eine Rolle, sie würden bald woanders sein.
Sie nahm die Rasierklinge, die neben Scott lag, stand auf und zog ihre Uniform an. Die Flure waren verlassen, als sie zum Kontrollraum ging. Der wachhabende Offizier saß an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Er war über einem Artikel auf seinem Holodisplay eingeschlafen. Lissy ging zu ihm, zog seinen Kopf an den Haaren zurück und durchschnitt die Kehle. Sie ging zu den Kontrollelementen, es war fast geschafft.
Lissy saß im Bistro und frühstückte. Niemand wusste bisher von Scotts Tod, aber es würde nicht lange dauern, bis jemand nach ihm fragte. Die Leiche des Offiziers im Kontrollraum hatte mittlerweile wahrscheinlich jemand gefunden, aber sie würden davon ausgehen, dass auch er sich selber umgebracht hatte. Die Rasierklinge lag zu seinen Füßen.
Aber es spielte ohnehin keine Rolle mehr, denn der kritische Punkt war überschritten. Niemand hatte ihre Kurskorrektur bemerkt. Sie spürte die magnetische Kraft, die sie bereits aus ihren Träumen kannte. Die gesamte Collector näherte sich immer schneller dem Ende von Raum und Zeit.
Ihre Umgebung begann sich auszudehnen und dabei gleichzeitig zu verblassen. Alles verschwand nach und nach, bis sie nur noch von Finsternis umgeben war. Waren dies die letzten Erlebnisse, die an die Föderation übermittelt wurden?
Sie hatte keinen Körper mehr, aber ihr Bewusstsein war noch da. Ein nie gekanntes Gefühl von Frieden, befreit von allen körperlichen und seelischen Schmerzen. Und es war nicht mehr nur Finsternis um sie herum. Um sie befand sich ihr ganzes Leben, in allen denkbaren Varianten. Wie in Seifenblasen eingefangene Projektionen. Ihre Kindheit, wie sie war und hätte sein können. Eine Zukunft, wenn sie die Collector nie betreten hätte. Ihr Leben, wenn sie dem Weg ihres Vaters gefolgt wäre, als Pilotin.
Es gab keinen Grund mehr zur Eile. Sie begann bereits zu vergessen, was Zeit war. Hier war alles vorhanden, immer. Würde sie einfach hier verweilen? Oder hatte sie die Möglichkeit, eine der Realitäten zu betreten, die sich um sie herum befanden?
„Was liest du?“, fragte seine Kollegin. „Du solltest längst zu Hause sein.“
„Ja“, erwiderte Carl. „Eigentlich ist die Auswertung der Daten abgeschlossen, aber ich bin über eine Datei gestolpert, die ich einfach nicht verstehe.“
„Immer noch die Collector? Sieh mal zu, dass unser Chef das nicht erfährt, du solltest eigentlich schon beim nächsten Projekt sein!“
„Ja, ab morgen, versprochen. Aber schau mal. Hier ist eine manuell erstellte Datei, sie fiel mir wegen ihrem ungewöhnlichen Namen auf: ‚Ereignislos am Ereignishorizont‘. Wer schreibt denn so was?“, fragte Carl.
„Lass mal sehen, scheint ja sehr spannend da oben gewesen zu sein.“
„Die Datei enthält kaum Worte, vieles scheint bei der Übertragung verloren gegangen zu sein. Es fehlen bei den noch vorhandenen Worten auch einzelne Buchstaben. Aber ich habe nun zumindest eine Idee, was der Inhalt sein könnte: Andere Seite. Keine Gefahr. Alle Möglichkeiten. Frieden.“
„Sehr tiefgründig. Und dafür sitzt du hier noch, abends nach 21 Uhr?“
„Das Interessanteste ist das Speicherdatum. Muss ein Übertragungsfehler sein. Es besteht nur aus kryptischen Zeichen, was eigentlich gar nicht möglich ist. Wo kommt diese Datei her?“
„Kannst du erkennen, wer sie gespeichert hat?“, fragte seine Kollegin.
„Sie wurde ursprünglich angelegt von Dr. Lissiana Plato, einen Tag bevor die Collector in das Schwarze Loch stürzte. Der Benutzername der letzten Änderung besteht wieder nur aus kryptischen Zeichen.“
„Vielleicht ein Geist in der Maschine?“
„Ja, vielleicht. Ein Geist, irgendwo.“ Er wollte gerade das Holodisplay beenden, als ein Messenger-Fenster aufging. Der Benutzername bestand nur aus Zeichen, ähnlich dem Speicherdatum der Datei. Nach einigen Sekunden erschien eine Nachricht:
„$“%$§& ha §/%(/$/ hallo ca §%/$/&/ carl &/$!§“$§) liss $! y (%§&$“! habe hie r $)/§!$§% frieden §(/)%“$! ko &)§ kommen sie !)§%§$/( alle mögl §“&§(&!/ möglichkeiten $/%(/"§$ kein e "%§/§(%! ge )§(!%§$§ gefahr §)%(/!)§“
Lissy setzte sich mit ihrem Kaffee an einen der kleineren Tische direkt an dem Panoramafenster und blickte auf „A0620-00“, das Schwarze Loch im Sternbild Einhorn.
„Woran denkst du?“, fragte ihr Kollege Scott, nachdem sie einige Minuten dort gesessen hatte. Er hatte sich ebenfalls einen Kaffee geholt und setzte sich zu ihr.
„Es ist wunderschön, aber auch ... ich weiß nicht, so fremdartig, beängstigend“, antwortete sie. Lissy sah erneut aus dem Fenster, sie umkreisten das Schwarze Loch in einem sicheren Abstand zum Ereignishorizont. In jedem Fall fand sie es faszinierend, umgeben von Partikeln in allen erdenklichen Farben. Rotierend wie ein bunter Wasserstrudel, der für immer im Nichts verschwand. Was mochte in seinem Inneren passieren?
„Wir sind noch lange genug hier, du wirst dir schon noch darüber klar werden“, meinte Scott.
„Ja, sieht wohl so aus. Ich hab einfach zu viel Zeit, aber das ist ja auch ein gutes Zeichen.“
„Wird die Föderation freuen, alle Versuchskaninchen gesund und munter.“ Scott blickte sich um, aber es war niemand in der Nähe. „Und wie sieht es mit Vince aus?“
„Im Moment ist er unauffällig, seine Stresswerte sind zwar noch etwas erhöht, aber nicht bedenklich. Ich erhalte direkt eine Nachricht, wenn seine Werte wieder steigen, genau wie bei allen anderen Crewmitgliedern.“ Sie hob ihr Handgelenk mit dem Kommunikator. „Aber ich spreche auch weiterhin regelmäßig mit ihm, werde mich auch gleich noch dransetzen, mit allen anderen an Bord einen Termin zu vereinbaren. Habe, glaube ich, etwas den persönlichen Kontakt verloren, aber es läuft alles so ruhig, seit wir hier angekommen sind.“
„Wir haben halt alle nicht allzu viel zu tun. Im Moment prüfen wir hauptsächlich, dass die Systeme der Collector fleißig Daten sammeln.“
„Falls ich über meine Zeit hier mal etwas schreibe, nenne ich den Artikel vielleicht ‚Ereignislos am Ereignishorizont‘, oder so ähnlich“, meinte Lissy.
Scott sah sich erneut kurz um. „Es muss ja nicht alles ereignislos sein. Sehen wir uns später noch?“, flüsterte er.
„Vielleicht.“
Lissy hatte in ihrem Behandlungszimmer den Ausblick auf das Schwarze Loch durch eine Seenlandschaft ersetzt. Beruhigende Farbtöne, blau und grün.
„Wie geht es Ihnen heute, Vince?“, fragte sie, nachdem er sich ihr gegenüber hingesetzt hatte.
„Auf jeden Fall besser als an den ersten Tagen, nachdem wir die Schlafkammern verlassen haben. Ich glaube, der Anblick des Schwarzen Lochs hat mich ziemlich aus der Bahn geworfen.“
„Ihre Werte sehen nun stabil aus, aber ich denke, wir behalten mal eine geringe Medikation bei. Vielleicht sprechen wir nochmal darüber. Macht Ihnen im Moment etwas Angst?“
„Na ja, ich … ich glaube, durch das Medikament geht es nun. Aber ich denke immer mal wieder darüber nach, wie ein kleiner Fehler dazu führen könnte, dass wir in das Schwarze Loch gezogen werden. Ich bin zwar nur als Sicherheitsoffizier an Bord, aber … na ja, so sehe ich es halt.“
„Ich denke, das müssen Sie nun nicht mehr. Wir sind schon einige Tage hier auf einem stabilen Kurs, und so bleibt es auch, bis wir wieder den Rückflug zur Erde beginnen. Wir fliegen nicht mehr näher heran. Wie wäre es, wenn Sie Scott mal ansprechen? Er kann Ihnen als Chefingenieur genau erklären, weswegen keine Gefahr droht. Dann sind sie bestimmt noch etwas beruhigter.“
Vince sah sie einige Sekunden an, ohne zu antworten und betrachtete dann mit glasigen Augen das Bild der Seenlandschaft. So als würde er hindurch sehen und das Schwarze Loch betrachten. Schließlich sagte er: „Es ist wahrscheinlich das Unbekannte, das mir Angst macht. Der Anblick ist so fremdartig, aber auch gleichzeitig so anziehend. So als würde es uns rufen, in sein Innerstes zu fliegen.“
„Aber sie wissen, dass es das nicht tut? Es ist nur die Faszination, die es ausübt. Seine Fremdartigkeit, die wir versuchen zu verstehen“, erklärte Lissy. „Vince?“
Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn aus einer Trance geweckt und sah sie wieder an. „Ja, fremdartig ... Was wollte ich … Haben Sie je von dem Vorgehen der Föderation gehört, eine versteckte weitere Mission unterzubringen, von der die gesamte Crew nichts weiß? Bis eine entsprechende Person aktiviert wird?“
Lissy betrachtete Vinces Werte auf dem Holodisplay, aber sie waren weiterhin im Normbereich. „Ja, während der Akademie, und natürlich ist es immer wieder mal ein Gesprächsthema unter Kollegen. Aber soweit ich weiß, ist die ‚Mission Zwei‘ nur ein Gerücht, das bisher nie bestätigt wurde. Ich habe die Föderation immer als offen und kommunikativ erlebt, ich kann mir also eigentlich nicht vorstellen, dass sie ihre Mitarbeiter gegeneinander ausspielt.“
„Nein, wahrscheinlich nicht. Weiß auch nicht, wie ich jetzt darauf komme. Ich habe in der Nähe dieses Ungeheuers wahrscheinlich einfach nur Angst, dass jemand einen Fehler macht.“
„Also, Vince, Sie wissen ja, dass sie sich jederzeit bei mir melden können, wenn es Ihnen nicht gut geht, oder sie über etwas sprechen möchten. Falls ihre Angstgefühle wieder stärker werden, haben wir auch noch die Möglichkeit, die Medikation etwas zu erhöhen. In Ordnung?“
„Ja, danke, ich denke es wird gehen, und ich werde demnächst mal bei Scott vorbeischauen.“
„Machen Sie das. Falls vorher nichts ist, sehen wir uns in einer Woche wieder, zur gleichen Zeit.“
Lissy genoss die Ruhe in ihrem Behandlungszimmer. Alle Gespräche und Untersuchungen für diesen Tag waren erledigt. Sie drehte sich auf ihrem Stuhl zum Fenster und entfernte per Sprachbefehl die Seenlandschaft. Sie wollte schon immer das Weltall und fremde Welten sehen, inspiriert durch die Erzählungen ihres Vaters. Auch in der Finsternis des Alls war die Verzerrung zu spüren, je näher sie in Richtung des Zentrums des Schwarzen Lochs sah. Als würden sich Raum und Zeit auflösen und zu etwas völlig Neuartigem werden.
Es war zunächst ein kaum merkliches Gefühl, als würde sie ganz leicht durch eine unsichtbare Kraft nach vorne gezogen. Im Zentrum des Lochs breitete sich ein rötliches Licht aus. Die Kraft wurde stärker, zog sie immer schneller in Richtung des Leuchtens. Nicht nur sie, die gesamte Collector. Etwas kam aus dem roten Licht …
Lissy wachte schweißgebadet auf. Ihr Puls raste. Sie sah sich um und war natürlich in ihrer Kabine, alles war in Ordnung. Durch Konzentration auf ihre Atmung versuchte sie sich zu beruhigen, es dauerte dennoch einige Minuten, bis sie wieder etwas klarer denken konnte. Scott lag neben ihr und schlief tief und fest. Sie strich ihm über seine kurzen schwarzen Haare, als wollte sie sich davon überzeugen, dass er wirklich da war.
Es war kurz nach fünf Uhr morgens, nur noch knapp zwei Stunden, bis sie aufstehen musste. Sie war nun hellwach und entschloss sich, im Bistro einen Kaffee zu trinken, bevor sie duschte und ihre Arbeit begann. Sie band ihre langen blonden Haare zusammen und verließ leise die Kabine. Die Flure waren verlassen und Lissy genoss die Ruhe, genau wie zu Beginn ihres Traumes.
„Vince?“, fragte sie, als sie das Bistro betrat. Er stand vor dem Panoramafenster und blickte nach draußen. Neben ihm lag eine zerbrochene Kaffeetasse. Der Kaffee breitete sich weiter aus, erreichte seine Füße. „Was machen Sie hier um diese Zeit?“
Er antwortete, ohne sich zu ihr umzudrehen: „Wir hätten nicht hierher kommen sollen.“
Lissy prüfte ihren Kommunikator, bekam jedoch keinen Hinweis auf erhöhte Stresswerte. Sie ging näher an ihn heran und fragte: „Wie kommen Sie darauf? Haben sie mit Scott gesprochen?“
„Keine Technik kann dieser Macht etwas entgegensetzen. Ich werde nicht in seiner ewigen Finsternis gefangen sein.“
Erst jetzt bemerkte sie, dass er etwas in der Hand hielt. Eine große Scherbe der zerbrochenen Tasse. „Vince, lassen Sie uns reden. Ich sagte Ihnen doch ...“
Er drehte sich zu ihr um und unterbrach sie: „Sie müssen sich schützen. Ich kann es nicht.“
„Ich weiß nicht, was ...“ Weiter kam sie nicht. Mit einer schnellen Bewegung, der sie kaum folgen konnte, stach sich Vince mit der Scherbe in die Halsschlagader. Wieder und wieder. Sie wollte zu ihm laufen, ihn daran hindern. Stattdessen stolperte sie rückwärts und fiel hin. Rief über ihren Kommunikator nach Scott, er war der erste, an den sie dachte. Vince ging in die Knie, sein Hals war nur noch eine rote Masse. Das Blut lief die weiße Uniform herab, vermischte sich auf dem Boden mit dem Kaffee.
„Ich dachte, er wäre körperlich und mental stabil? Erklären Sie mir das!“, forderte Kapitän Glen von Lissy.
„Ich …“ Sie sah zu Scott, als könnte er ihr helfen die richtigen Worte zu finden. „Ich kann es noch nicht, aber ich werde gleich die Autopsie durchführen, zusammen mit Ilan.“
„Ich erwarte direkt im Anschluss Ihren Bericht. Bis dahin läuft hier alles so weiter, als wäre nichts passiert. Niemand außer den hier Anwesenden und Ilan weiß bisher davon, und ich erwarte, dass das so bleibt!“
„Und wenn jemand nach Vince fragt?“, wollte Rikon wissen, der Sicherheitschef der Collector. Er hatte geholfen die Leiche in den Operationsraum zu bringen, bevor ein Reinigungsroboter das Blut und den Kaffee beseitigte.
„Dann hat er eine Magen-Darm-Grippe und ruht sich in seinem Zimmer aus“, antwortete Glen. „Wir treffen uns hier in zwei Stunden wieder. Sonst noch etwas?“ Er blickte in die Runde, sie saßen in dem Besprechungsraum nahe der Brücke.
„Ja“, sagte Lissy. Alle sahen sie an, während sie überlegte, wie sie anfangen sollte. „Vince hat …“
„Sie unterliegen nach seinem Tod nicht mehr der ärztlichen Schweigepflicht, Doktor Plato. Also raus damit!“
„Vince fragte mich, ob ich je von der ‚Mission Zwei‘ gehört habe. Er schien nicht aufgebracht oder ängstlich, aber es beschäftigte ihn.“
„Ich weiß auch nach über zwanzig Jahren bei der Föderation nicht, wie dieser Unsinn entstanden ist. Die primäre und sekundäre Mission ist hier ja hoffentlich jedem bekannt. Wir sind die Ersten bei denen beobachtet wird, wie wir auf die Nähe eines Schwarzen Lochs reagieren. Eine versteckte weitere Mission existiert an Bord meines Schiffes nicht. War es das?“
Kapitän Glen blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Runde. Keiner sagte mehr etwas.
Vince Leiche lag auf dem Obduktionstisch. Ilan war als Allgemeinmediziner und Chirurg an Bord und hatte bereits alles vorbereitet. „Ich habe die Wunde am Hals gereinigt, ansonsten ist er unverändert, ich habe ihm nur die Kleidung ausgezogen“, sagte er.
Obwohl er ein erfahrener Arzt war merkte Lissy an seiner leisen Stimme, dass die Obduktion eines Kollegen auch für ihn eine belastende Situation war. Es war als Neurologin und Psychiaterin noch weniger ihr Gebiet als seins, aber sie mussten dies abdecken, an Bord eines Raumschiffes. Sie betrachtete Vinces nackten Körper, und konnte außer seinem zerstörten Hals keine weiteren Verletzungen oder Hautunreinheiten erkennen. Kein Hinweis darauf, dass er Drogen genommen hatte. „Haben Sie etwas Auffälliges in seinen Blutwerten gefunden?“, fragte sie.
„Nein, nur das Medikament, das Sie ihm verschrieben haben. Und keiner ihrer vorherigen Tests wies auf eine Suidi … Suizidalität hin. Auerde … Außerdem … Entschuldigung ...“
„Ilan? Ist Ihnen nicht gut?“, fragte Lissy besorgt. Ilan stütze sich mit beiden Händen auf den Obduktionstisch, er war kreidebleich geworden.
„Habe schon seit fast einer Stunde Koschme … Kopfschmerzen, und …“
„Setzen Sie sich erst mal, ich hole Ihnen ein Glas Wasser!“
Ilan blickte auf, seine Augen waren blutunterlaufen. „Es ruft uns. Sie werden mich nicht aufhalten.“
„Ilan, was …“ Er griff mit einer schnellen Bewegung über den Obduktionstisch, packte sie am Kragen des Kittels und zog sie zu sich. Sie versuchte, ihn wegzudrücken, aber er war zu stark. Mit seiner anderen Hand tastete er nach dem Skalpell, das er bereits für die Obduktion neben die Leiche gelegt hatte. Lissy versuchte, seinen Arm festzuhalten, aber es war zu spät. Er umgriff das Skalpell und versuchte damit in Lissys Hals zu stechen. In letzter Sekunde schaffte sie es, seinen Arm nach unten zu ziehen, die Klinge stach in ihre Schulter. Sie schrie auf vor Schmerz. Ilan zog das Skalpell heraus und holte erneut damit aus. Lissy handelte instinktiv und rammte ihm den Ellenbogen ins Gesicht. Es gab ein Knacken, als seine Nase brach. Er ließ sie los, und sie taumelte zurück.
Ilan stand nach vorne gebeugt direkt hinter dem Obduktionstisch, griff sich an die Nase und betrachtete das Blut an den Händen. So als könnte er nicht glauben, was passiert war. Das Skalpell hatte er fallen gelassen. Lissy trat so fest sie konnte gegen den Tisch und traf Ilan damit an der Stirn, als er gerade aufblicken wollte. Sein Kopf wurde zurück in den Nacken geworfen. Er fiel nach hinten und blieb bewegungslos liegen. Blut lief aus seiner Nase und der Wunde an seiner Stirn.
„Zimmerservice!“, sagte Scott, als er ihre Kabine mit einem Tablett betrat. „Wie geht es dir?“
Lissy blickte ihn an, ihr Gesicht noch immer kreidebleich. „Danke, es geht schon. Aber wie geht es Ilan?“, fragte sie.
„Er kann sich an nichts erinnern.“ Er stellte das Tablett neben ihr auf dem Bett ab. „Aber er ist auf dem Weg der Besserung, hat nur eine leichte Gehirnerschütterung.“
„Gott sei Dank, ich hatte Angst, dass er eine Verletzung an der Halswirbelsäule hat. Aber was ist hier bloß los?“
„Bisher hat niemand eine Erklärung. Ich denke, Glens Entscheidung ist richtig, es wird bereits alles vorbereitet um hier wegzukommen, erst mal in eine sichere Entfernung zu diesem Ungetüm. Wahrscheinlich geht es morgen gegen Mittag zurück in die Schlafkammern.“
Lissy hatte trotz der Geschehnisse ihren Appetit nicht verloren und begann zu essen. „Ja, ist wohl das Beste. Obwohl es ja bisher keinen Beweis dafür gibt, dass das Schwarze Loch etwas damit zu tun hat“, meinte sie zwischen den Bissen.
„Nein, aber wenn wir später die Daten auswerten, werden wir schon dahinter kommen. Vielleicht eine bisher nicht entdeckte Strahlung.“
„Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit. Ich muss immer wieder an Vinces Worte denken, seine Frage nach einer ‚Mission Zwei‘.“
„Lissy, bitte, das ist doch …“
„Warte doch mal, so abwegig ist es nicht. Es ist ja auch egal, ob man es ‚Mission Zwei‘ oder sonst wie nennt, aber irgendetwas Wahres ist an solchen Gerüchten immer dran. Also nur mal angenommen, irgendein geheimes Programm der Föderation versucht nach und nach, einen geeigneten Mitarbeiter zu finden und aktivieren. Was könnte der Zweck hiervon sein? Was soll derjenige machen?“
„Kann ich dir nicht sagen und ich glaube auch nicht, dass es so ist. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, du wirst sehen, es wird sich später alles aufklären. Tut mir leid, ich würde gerne weiter mit dir hierüber sprechen, aber ich muss zurück an die Arbeit. Wir sehen uns später.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
Lissy sagte nichts mehr, als er die Kabine verließ. Sie würde jemanden finden müssen, der ihr dabei half, diese Spur zu verfolgen. Sie aktivierte per Sprachbefehl ein Holodisplay und stellte eine Verbindung zu Rikon her.
„Sie sollten sich noch schonen“, meinte Rikon als sie sein Büro betrat. Sein Gesicht war wie üblich kaum zu sehen unter seinem Cappy und dem Vollbart.
„Es geht schon, ich kann mich im Moment einfach nicht ausruhen, bei allem was passiert ist. Haben Sie etwas gefunden?“, fragte Lissy.
„Ich habe nicht die höchste Berechtigungsstufe, kann jedoch die meisten Daten einsehen. Habe aber keinen Hinweis auf einen weiteren Missionsinhalt gefunden. Und auch sonst nichts in den Daten der letzten Tage, was auf eine Unregelmäßigkeit hindeutet. Die Zusammensetzung der Luft an Bord ist wie sie sein sollte und die Daten der Crewmitglieder haben Sie ja im Blick.“
„Ja, bei keinem der Drei gab es Auffälligkeiten, es bleibt ein Rätsel.“
„Ich habe eben eine Information eines Mitarbeiters von Scott erhalten, aber ich glaube nicht, dass es hier einen Zusammenhang gibt. Das Tiefenscan-Modul ist ausgefallen, ungefähr eine Stunde bevor Vince sich umbrachte.“
„Ach! Wofür ist es da?“, wollte Lissy wissen.
„Es analysiert den Bereich am Ereignishorizont, an der Grenze hinter der Licht und Materie dem Schwarzen Loch nicht mehr entkommen können. Das ist zumindest mein laienhaftes Verständnis, sonst müssten Sie Scott oder seine Mitarbeiter mal ansprechen, die können es Ihnen besser erklären“, erläuterte Rikon.
„Und was ist nun damit?“
„Das Modul ist wohl technisch in Ordnung, scheint ein Softwarefehler zu sein. Teile des Codes wurden durch kryptische Zeichen überschrieben, dadurch hat das ganze Modul seinen Dienst eingestellt.“
„Wurde die Software sabotiert?“
„Nein, es gibt keinen Hinweis auf einen manuellen Eingriff. Als hätte irgendetwas den Code überschrieben, vorbei an allen Sicherheitsmechanismen.“
Diesmal wusste Lissy, dass es ein Traum war. Aber es war mehr als das, etwas versuchte sie zu erreichen, wie schon in der letzten Nacht. Sie saß wieder in ihrem Behandlungszimmer und betrachtete das Schwarze Loch.
Vince lag auf der Patientenliege. Sein Hals war eine grässliche Wunde, dennoch versuchte er zu sprechen, kaum hörbar: „Ich kann Ihnen nicht helfen. Sie müssen selbst entscheiden.“
Das rötliche Leuchten begann sich erneut im Zentrum des Lochs auszubreiten. Etwas kam daraus hervor, schwarze Tentakel, die nur durch das rote Licht zu sehen waren. Sie kamen auf die Collector zu, immer schneller. Eins davon durchschlug die Scheibe und griff nach ihr …
Lissy wachte auf, fühlte sich diesmal sehr ruhig. Etwas war in ihrem Bewusstsein und würde ihr den Weg zeigen. Sie blickte zu Scott. Seine Augen waren offen, ausdruckslos nach oben gerichtet. Das Bettlaken war blutgetränkt, er hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Sie betrachtete die Wunden teilnahmslos. Nichts spielte mehr eine Rolle, sie würden bald woanders sein.
Sie nahm die Rasierklinge, die neben Scott lag, stand auf und zog ihre Uniform an. Die Flure waren verlassen, als sie zum Kontrollraum ging. Der wachhabende Offizier saß an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Er war über einem Artikel auf seinem Holodisplay eingeschlafen. Lissy ging zu ihm, zog seinen Kopf an den Haaren zurück und durchschnitt die Kehle. Sie ging zu den Kontrollelementen, es war fast geschafft.
Lissy saß im Bistro und frühstückte. Niemand wusste bisher von Scotts Tod, aber es würde nicht lange dauern, bis jemand nach ihm fragte. Die Leiche des Offiziers im Kontrollraum hatte mittlerweile wahrscheinlich jemand gefunden, aber sie würden davon ausgehen, dass auch er sich selber umgebracht hatte. Die Rasierklinge lag zu seinen Füßen.
Aber es spielte ohnehin keine Rolle mehr, denn der kritische Punkt war überschritten. Niemand hatte ihre Kurskorrektur bemerkt. Sie spürte die magnetische Kraft, die sie bereits aus ihren Träumen kannte. Die gesamte Collector näherte sich immer schneller dem Ende von Raum und Zeit.
Ihre Umgebung begann sich auszudehnen und dabei gleichzeitig zu verblassen. Alles verschwand nach und nach, bis sie nur noch von Finsternis umgeben war. Waren dies die letzten Erlebnisse, die an die Föderation übermittelt wurden?
Sie hatte keinen Körper mehr, aber ihr Bewusstsein war noch da. Ein nie gekanntes Gefühl von Frieden, befreit von allen körperlichen und seelischen Schmerzen. Und es war nicht mehr nur Finsternis um sie herum. Um sie befand sich ihr ganzes Leben, in allen denkbaren Varianten. Wie in Seifenblasen eingefangene Projektionen. Ihre Kindheit, wie sie war und hätte sein können. Eine Zukunft, wenn sie die Collector nie betreten hätte. Ihr Leben, wenn sie dem Weg ihres Vaters gefolgt wäre, als Pilotin.
Es gab keinen Grund mehr zur Eile. Sie begann bereits zu vergessen, was Zeit war. Hier war alles vorhanden, immer. Würde sie einfach hier verweilen? Oder hatte sie die Möglichkeit, eine der Realitäten zu betreten, die sich um sie herum befanden?
„Was liest du?“, fragte seine Kollegin. „Du solltest längst zu Hause sein.“
„Ja“, erwiderte Carl. „Eigentlich ist die Auswertung der Daten abgeschlossen, aber ich bin über eine Datei gestolpert, die ich einfach nicht verstehe.“
„Immer noch die Collector? Sieh mal zu, dass unser Chef das nicht erfährt, du solltest eigentlich schon beim nächsten Projekt sein!“
„Ja, ab morgen, versprochen. Aber schau mal. Hier ist eine manuell erstellte Datei, sie fiel mir wegen ihrem ungewöhnlichen Namen auf: ‚Ereignislos am Ereignishorizont‘. Wer schreibt denn so was?“, fragte Carl.
„Lass mal sehen, scheint ja sehr spannend da oben gewesen zu sein.“
„Die Datei enthält kaum Worte, vieles scheint bei der Übertragung verloren gegangen zu sein. Es fehlen bei den noch vorhandenen Worten auch einzelne Buchstaben. Aber ich habe nun zumindest eine Idee, was der Inhalt sein könnte: Andere Seite. Keine Gefahr. Alle Möglichkeiten. Frieden.“
„Sehr tiefgründig. Und dafür sitzt du hier noch, abends nach 21 Uhr?“
„Das Interessanteste ist das Speicherdatum. Muss ein Übertragungsfehler sein. Es besteht nur aus kryptischen Zeichen, was eigentlich gar nicht möglich ist. Wo kommt diese Datei her?“
„Kannst du erkennen, wer sie gespeichert hat?“, fragte seine Kollegin.
„Sie wurde ursprünglich angelegt von Dr. Lissiana Plato, einen Tag bevor die Collector in das Schwarze Loch stürzte. Der Benutzername der letzten Änderung besteht wieder nur aus kryptischen Zeichen.“
„Vielleicht ein Geist in der Maschine?“
„Ja, vielleicht. Ein Geist, irgendwo.“ Er wollte gerade das Holodisplay beenden, als ein Messenger-Fenster aufging. Der Benutzername bestand nur aus Zeichen, ähnlich dem Speicherdatum der Datei. Nach einigen Sekunden erschien eine Nachricht:
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