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Daniels Geheimnis

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28.12.2004
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Daniels Geheimnis

Es war einmal ein kleines Dorf und in diesem Dorf lebte ein Junge namens Daniel. Daniel war weder besonders klug noch witzig. Er hatte kaum Freunde und trotzdem war er glücklich. Denn Nachts, wenn seine Eltern längst schliefen, da kletterte er aus dem Fenster und schlich in den nahen Wald. Er liebte die Luft dort, die Geräusche der Tiere, das Rauschen der Blätter im Wind, er liebte auch die feuchten Spinnweben und wie sie im Mondlicht glänzten.
Doch Daniel wanderte nicht einfach nur ziellos durchs Dickicht. Meistens führte sein Weg hoch zum Hügel im Zentrum des Walds, wo seit Jahrhunderten eine knorrige Eiche dem Himmel entgegen wuchs. Dort setzte er sich hin, zwischen die Wurzeln, und er schloss die Augen. Nicht um zu schlafen, aber um zu träumen.
Am Morgen, wenn Daniel nach seinen langen Wanderungen heimkehrte, warteten seine Eltern jeweils schon mit dem Frühstück auf ihn. Sie fragten nicht, wo er seine Nächte verbrachte. Sie wollten es gar nicht wissen, denn sie wussten bereits, dass es ihn glücklich machte und nur das zählte. Wenn er zu müde war für die Schule, riefen sie seinen Lehrer an und erzählten, er sei krank. Dann brachte ihn seine Mutter ins Zimmer, liess ihn unter die Bettdecke kriechen und gab ihm einen Kuss. Wenn ihre Lippen Daniels Wangen berührten, war er meistens schon eingeschlafen und er träumte von Eichen und Föhren, sprach mit ihnen und hörte ihre Geschichten.
Aber Daniel wurde älter und mit ihm seine Schulkameraden. Und die träumten nicht von Bäumen, sie träumten von Freundinnen, von neuen Computerspielen, davon, dass ihre Eltern sich endlich mal um sie kümmerten und dass sie bei der nächsten Prüfung ausnahmsweise mal eine gute Note erhielten. Sie waren unglücklich, deshalb träumten sie nicht von Bäumen. Und sie sahen, dass Daniel, dieser stille kleine Aussenseiter, dass er glücklich war. Sie sahen sein zufriedenes Lächeln wenn er in der hintersten Reihe sass und der Lehrer ihn schalt, weil er eine Matheaufgabe nicht lösen konnte. Sie sahen, wie egal es Daniel war, wenn er im Sportunterricht als letzter ins Fussballteam gewählt wurde. Sie sahen, dass er weder Computerspiele noch Freundinnen brauchte um sich so zu fühlen, als hätte er all dies und noch viel mehr.
Sie hassten ihn. Weil sie alles hassten, was sie nicht verstehen konnten. Sie waren nun mal Menschen. Daniel war zwölf, als ihm ein Junge aus seiner Klasse die Nase brach. Er wusste nicht, weshalb. Er verstand es auch nicht. Aber er hatte Angst und als ein paar Wochen später auch noch jemand seine Schuhe stahl, war er immer öfters zu müde um morgens in die Schule zu gehen.
Einmal, spät in der Nacht, fragte Daniel die alte Eiche, weshalb ihn denn niemand verstehe. Der Baum ächzte in den Windböen. Ein Eichhörnchen floh den Stamm hinunter und verschwand in den Büschen. Dann hörte Daniel den Baum sagen, er solle besser Ausschau halten. Viele Leute würden ihn verstehen. Seine Eltern. Der alte Mann im Nachbarhaus, der ihn manchmal sah, wenn er abends aus dem Fenster kletterte. Madeleine, die Frau, die ihm einmal im Wald begegnet war und die seltsames Zeugs vor sich hin gemurmelt hatte. Aber diese Leute waren nicht entscheidend. Viel wichtiger waren diejenigen, die von ihm lernen wollten. Und es gab so jemanden, das sei wirklich bedeutend, darauf solle er sich konzentrieren.
Daniel wusste nicht, wen die Eiche meinte, aber er hielt Ausschau nach ihm. Und er fand ihn. Er fand sie.
Beim Fussballspielen trat er versehentlich gegen Sandros Schienbein. Der rächte sich auf dem Nachhauseweg. Er packte Daniel von hinten, schleuderte ihn ins Maisfeld und kickte ihm in den Magen. Daniel dachte an den Hirsch, der ihm letzte Nacht begegnet war, und an das Heulen der Eulen und er vergass die Tritte und Schläge und den Schmerz. Er liess alles über sich ergehen. Und dann sah er sie. Sie stand hinter Sandro. Sie war seine Freundin. Ihr Name war Arianne. Sie rührte sich nicht, aber in ihren Augen sah Daniel, dass sie etwas sagen wollte. Nicht nur, Sandro solle aufhören. Sie wollte fragen: Weshalb bist du so ruhig? Weshalb wehrst du dich nicht? Weshalb lächelst du sogar jetzt?
Daniel wusste nicht weshalb, aber als er ein paar Minuten später alleine, blutüberströmt und von Schmerzen geplagt zwischen den Maisstauden lag, da konnte er nur an sie denken. Er wollte ihr antworten auf alle Fragen und sie mitnehmen zur Eiche, damit sie mit ihm still zwischen den Wurzeln kauern konnte im Versuch, das Flüstern des alten Baums zu verstehen.
An diesem Abend war er glücklicher als je zuvor und deshalb fragten seine Eltern nicht, warum sein Leibchen rot war und das Gesicht voller Striemen. Er stieg aus dem Fenster, obwohl es noch hell war draussen und seine Eltern nicht schliefen, und er schlenderte nicht wie üblich den Waldweg hoch zur Eiche, sondern klingelte bei Arianne. Das Mädchen öffnete die Türe. Sie erschrak nicht, sagte kein Wort und wartete stattdessen darauf, dass Daniel zu sprechen begann. Er lächelte sie an. Dann sagte er, er wolle ihr etwas zeigen. Ob sie mit ihm kommen wolle. Sie nickte, aber da erschien ein Mann hinter ihr, raues Gesicht, hünenhaft und mit einer Pranke, die Ariannes Kopf wie eine Manderine hätte zerquetschen können. Daniel wusste, dass Arianne ihn heute Nacht nicht in den Wald begleiten würde und er schritt davon.
Aber Arianne vergass seinen Besuch nicht, denn sie war ein einsames, trauriges Mädchen und sie hatte sich tatsächlich all diese Fragen gestellt. Sie hatte versucht zu verstehen was Daniel glücklich machte und es nicht geschafft. Arianne hasste ihren Freund, sie hasste Sandro. Dafür, wie er mit ihr sprach, dafür, wie er andere verprügelte und quälte. Und trotzdem war er alles, was sie hatte. Daniel hatte nicht mal eine Freundin und war dennoch glücklich. Wie war das möglich?
Ein paar Tage später schaffte Arianne es, in der Pause für ein paar Sekunden alleine zusammen mit Daniel zu sein und ihn zu fragen, ob er ihr noch immer zeigen wolle, was er ihr einst versprochen hatte. Der Junge nickte mit seinem sorglosen Lächeln auf den Lippen.
In dieser Nacht schlichen sich zwei Kinder spät nachts aus ihren Zimmern um sich auf einen steilen Waldweg zu begeben, der in vielen Windungen einen Hügel hoch führte und zwischen den Wurzeln einer alten Eiche endete. Sie redeten nicht viel. Arianne entschuldigte sich dafür, dass Sandro so gemein zu Daniel war und sie nichts dagegen unternahm, aber der Junge schien das längst vergessen zu haben. Er sagte, sie solle ruhig sein und den Bäumen zuhören. Später in der Nacht murmelte sie, sie könne nur ihr Herz pochen hören.
Die Stunden vergingen und die beiden spürten weder die Eiseskälte der Herbstnacht noch die Regentropfen, die ihre Kleider durchnässten. Als am Morgen die Sonne aufging, küssten sie sich vorsichtig und wanderten hinunter ins Dorf. Noch einmal sahen sie sich in die Augen und wussten nicht, weshalb sie fühlten was sie fühlten. Dann war alles vorbei.
Sandro schlug Daniel wieder zusammen. Angeblich weil er über eine schlechte Deutschnote gelacht habe. Arianne stand daneben und fühlte sich wie in einer Folterkammer. Elend biss sie auf der Innenseite der Wange herum, während Sandro auf Daniels Körper einschlug. Sie schaute die anderen Mädchen auf dem Pausenplatz an und fragte sich, was die über sie reden würden, wenn sie plötzlich mit einem Nichts wie Daniel zusammen wäre anstatt dem coolen Sandro. Sie fragte sich, ob die Nacht mit Daniel wirklich so bezaubernd gewesen war oder sie es erst in ihrer Erinnerung geworden war. Sie zweifelte plötzlich daran, dass Daniel ihr alleine dasselbe Glück bringen konnte, wie ein halbes Dutzend Freundinnen. Denn Arianne wusste eines: Stoppte sie Sandro jetzt, gab es kein Zurück mehr. Dann war sie für immer eine der Anderen. Sie schloss die Augen. Sie wandte sich ab. Sie hörte Daniel noch ächzen, als ein Schlag sein Kinn traf. Dann verschwand sie auf der Toilette und weinte.
Sie sprach nie mehr mit Daniel. Er fragte sie einmal, ob sie wieder mit ihm in den Wald wolle, aber sie tat so, als höre sie ihn gar nicht. Er schrieb kleine Notizzettel und versteckte sie in ihrer Schultasche, aber Arianne zerriss sie mit wässrigen Augen und warf die Fetzen in den Papierkorb. Sie ging nie mehr in den Wald, weil sie nicht Daniel begegnen wollte. Sie wurde nicht glücklich. Sandro verliess sie bald und knutschte mit einem hübscheren und dümmeren Mädchen herum. Sie lag in ihrem Bett zuhause, starrte die Decke an und verlor sich in Selbstmitleid.
Daniel war nicht so wie sie. Er hatte noch immer die Eiche, auch wenn es nicht mehr dasselbe war, wenn er jetzt zwischen ihren Wurzeln kauerte und über das Tal schaute. Die Schule vergass er, genauso wie seine Eltern, die er nur noch ab und zu sah, wenn er zwischen langen Wanderungen nach Hause kam und auch diese Begegnungen wurden immer seltener. Er vergass bald ihre Namen, schliesslich auch, wo sie wohnten, dass er überhaupt Eltern hatte. Er vergass auch Arianne, Sandro, er vergass sich selber und wurde Teil des Walds. Niemand weiss, wohin ihn seine Wege führten. Nur Arianne denkt noch ab und zu an ihn, wenn sie einsam in ihrem kleiner Zimmer hockt, aus dem Fenster schaut und daran denkt, wie viel schöner die Sterne doch gefunkelt hatten in jener Nacht, als sie mit Daniel im Wald gelegen hatte.

 

Hallo Sorontur

Dort setzte er sich hin, zwischen die Wurzeln, und er schloss die Augen.

letztes "er" würde ich streichen.


Er wusste nicht, weshalb. Er verstand es auch nicht.

irgendwie das gleiche, oder?


Weshalb lächelst du sogar jetzt?

Meine minnimale psychologische Kenntnis sagt mir: Aus Verzweiflung und Ohnmacht; ebenso wie seine ganze Flucht in den Wald und Abschottung gegen andere Menschen - glücklich macht ihn das vielleicht, aber nur weil er eigentlich unglücklich ist.

An diesem Abend war er glücklicher als je zuvor und deshalb fragten seine Eltern nicht, warum sein Leibchen rot war und das Gesicht voller Striemen.

Die Eltern haben ganz schön einen an der Waffel würde ich sagen.

Daniel hatte nicht mal eine Freundin und war dennoch glücklich. Wie war das möglich?

Na ja, es ist halt ein Märchen. Ansonsten wäre dieser Satz schon ziemlich peinlich.

Allgemein:
Hm, deine Geschichte hinterlässt bei mir zwiespältige Eindrücke. Sprachlich gefällt es mir ziemlich gut. Angenehm fehlerarm, plastische Bilder und Stimmungen, und der märchenhafte Erzählstil ist mal eine interessante Abwechslung.
Was den Inhalt betrifft: Die Tatsache, das es so eindeutig ein Märchen ist, rettet einiges - so bleibt mir als Leser die Möglichkeit diese sehr schwarz-weiß gezeichnete Geschichte als eine Parabel auf ein grausam nüchternes und wohl leider auch alltägliches Drama zu sehen. Sollte das deine Absicht gewesen sein, nicht schlecht, aber in dem Fall hätte ich aus der Ich-Perspektive von Daniel geschrieben um die Subjektivität zu unterstreichen. Da du dies nicht getan hast, bin ich am zweifeln, ob du das vielleicht doch alles unmetaphorisch so meintest wie du es sagtest. Dann würde es mich doch ziemlich stören: Der buddhistisch-in-sich-ruhende, ewig glücklich lächelnde Daniel, die völlig unpedagogischen Eltern (die aus meiner Sicht ihren Sohn schlicht vernachlässigen), die einseitig ungerechte böse Gesellschaft und ganz besonders die unglückliche Unbekehrbare, die aber moralisch gerechterweise am Ende verlassen und depressiv werden muss... das alles wäre mir zu einseitig gestrickt. Wie schon gesagt, dieser Eindruck entsteht vor allem durch die Erzählperspektive, die auf mich, in Verbindung mit dem Stil, immer unterschwellig belehrend wirkt (wie das bei Märchen halt so ist).
Na ja, wie dem auch sei, auf jeden Fall ein interessantes Werk und ich bin gespannt darauf zu hören wie denn nun deine Intention eigentlich wirklich war (und ob ich mal wieder voll daneben spekuliert habe ;) )

schöne Grüße, Skalde.

 

Hallo Sorontur,
wenn es denn ein Märchen ist, dann ist die Moral von der Geschicht' wohl, dass es besser ist, eine Pflanze zu sein, als ein Mensch. Schon, weil Pflanzen nicht hassen, was sie nicht verstehen, weil sie auch in der Lage sind, etwas über Menschen zu wissen, die sie nie gesehen haben. Und weil Dein Prot. am Ende wie eine Pflanze in den Wäldern wohnt und nicht darauf angewiesen ist, sich wie ein Mensch zu ernähren.
Leider finde ich den Stil, im Gegensatz zu meinen Vorrednern, nicht besonders märchenhaft. Und auch an tpischen Märchen/Fantasy-Elementen fehlt es, wenn man von der einen Stelle absieht, wo der Baum redet (was von den Inhalten her aber mehr nach Daniels Gedanken klingt, als nach den Worten eines Baumes).
Für mich wird überhaupt nicht nachvollziehbar, was Daniel in seinen Nächten im Wald findet, und warum ihn das so glücklich macht. Du behauptest das, aber Du zeigst es nicht. Und dadurch funktioniert für mich die ganze Geschichte nicht, denn dies glücklich-sein muss ja aufwiegen, dass er zu einem Leben unter Menschen nicht in der Lage ist, Konflikte nicht austragen und Wünsche nicht äußern kann. Es muss die Eltern überzeugen, denn Du schreibst ja, dass ihre kriminelle Vernachlässigung des Sohnes (Unterlaufen der Schulpflicht) sich nicht auf Desinteresse gründet, sondern darauf, dass sie ihren Sohn für glücklich halten.
Aber, wie gesagt: wenn dies Argument greifen soll, musst Du dies Glück in der Geschichte spürbar werden lassen. Und für mich wird es das nicht, obwohl ich selbst zu den Menschen gehöre, die lieber im Wald als unter Leuten sind.
Sorry,
anzim

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo zusammen,

danke für die Rückmeldungen. Das hier war mein kleines Märchen-Experiment, daher der Stil und die Perspektive (ist glaube ich meine erste Geschichte ohne direkte Rede überhaupt). Die Moral ist offenbar nicht ganz rübergekommen: Ich bin überhaupt kein Fan der Einsam-im-Wald-leben-Philosophie, die Meinung war viel eher zu sagen: Wenn du etwas gefunden hast, was dich wirklich glücklich macht, dann lass es dir nicht gleich wieder wegnehmen. So in etwa. Was die Eltern angeht: Die sind wie er nicht ganz von dieser Welt ...

@anzim: Ich verstehe was du meinst mit dem nicht wirklich sichtbaren Glück der Hauptperson, aber wie soll ich das zeigen? Es gibt die Sätze darüber, wie er in der Schule vom Wald träumt etc., aber ich kann ihn ja nicht gut johlend durch die Gegend springen lassen ... Er ist nun mal ein ruhiger Typ der seine Gefühle nicht offen zeigt.

Viele Grüsse,
Sorontur

 

Hallo Sorontur,
ich habe nicht gemeint, dass nicht sichtbar ist, dass Daniel glücklich ist - das bringst Du ja über das Lächeln und die innere Ruhe rüber. Für mich wird nicht deutlich, was ihn glücklich macht.
Und da habe ich offenbar etwas getroffen, worüber Du Dir selber nicht ausreichend Gedanken gemacht hast, weil Du es selbst nicht kennst: Du beschreibst nicht, was denn daran so schön ist, alleine im Wald zu sein. Du behauptest nur, dass es schön sei.
Insofern ist es beim Geschichten-schreiben offenbar nicht egal, was einen glücklich macht: nur das, was wir kennen/uns sehr detailliert vorstellen können, können wir so beschreiben, dass es für andere nachvollziehbar wird.
Vielleicht solltest Du also die Geschichte noch mal umschreiben und Daniel etwas tun lassen, was Du Dir selber besser vorstellen kannst. Dann würde ich "die anderen" übrigens nicht so ausschließlich schlecht zeichnen, sonst klingt es nämlich, als sei Daniel nicht im Wald (oder wo auch immer), weil es ihn glücklich macht, sondern, weil die Menschen so fies zu ihm sind. Und das nimmt Deiner intendierten Aussage die Kraft.
Ich habe mich gefreut, dass Du noch mal nachgefragt hast und beantworte gerne Deine Fragen, bis Dir klar ist, was ich meine!
Grüße von anzim

 

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