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Das Auge und das Ohr

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21.04.2004
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Das Auge und das Ohr

»Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn‘s dem bösen Nachbarn nicht gefällt.«
— Nach Schiller: Wilhelm Tell (IV, 3)

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Fensterlos, aber zu groß für Gefängniszellen und möbliert mit Tisch und Stuhl; ein Regal aus Holzbrettern, das Waschbecken – eine Toilette, deren Keramik dunkel glänzt. Ich habe kein Bett. Und ich bin allein …
Bin ich nicht.
Durch die Wände höre ich Stimmen von allen Seiten, von oben, von unten, und wenn ich mich konzentriere, kann ich einzelne Worte verstehen: Männer, die brüllen; Frauen, die schreien – ein Mädchen weint. Manchmal Musik, jemand singt oder hat ein Radio laut gestellt, das zwischen Märschen von der Front berichtet, mit diesem euphorischen Vokabular eines fast gewonnenen Krieges: Es fehlt nur noch ein kleines bisschen … Ja.
An Proviant, Munition, Panzern, Granaten und natürlich Soldaten, die wir in den Reißwolf werfen.
Kein Wunder, dass sie mich ausgemustert haben. Mehr weiß ich nicht vom Leben davor, lag möglicherweise selbst im Schützengraben oder habe Propagandatexte verfasst; dann hat die Droge alle Erinnerungen ausgelöscht, ganz leise, ganz sanft wie eine Welle, die über den Strand streicht.
Nun bin ich hier, in diesem Raum, an dessen Decke eine leere Fassung für die Glühbirne als Kindergalgen hängt. Etwas Licht fällt durch den Lüftungsschlitz über dem Klo, sonst Schatten.

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Mittig liegt der Teppich, struppiger, toter Straßenköter – und dort hocke ich, eine offene Büchse in der Hand, aus der ich Brei rauslöffle, pürierte Erbsen, vielleicht. Notrationen. Ich höre zu, allein, um mich abzulenken, weil die Zeit nicht vergeht. Weder ein Buch, selbst Heftromane hätte ich verschlungen, noch Stift und Papier, ich muss mir alle Worte merken.
Hinter der Stirnseite: Stille.
Links streitet sich ein Paar über den Abwasch, lautes Gekläff.
Rechts dumpfe Schläge … wie ein Ball, der wieder und wieder gegen die Wand prallt.
In meinem Rücken schnarcht einer, und ich frage mich, ob‘s Tag oder Nacht ist.
Oben scheppern Kochtöpfe, jemand hackt etwas klein.
Unten wird gefickt, das Grunzen von Schweinen.
Oh Gott! Ich habe die Büchse der Pandora geöffnet und höre das kleinste Geräusch.

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Hingelegt, im Nacken juckt der Läufer; doch ich kann nicht schlafen. Starre zur Decke. Atme ein, atme aus ...
Als wäre das Abflussrohr leck, sickern ihre Gerüche ein: der scharfe Hauch von Reinigungsmitteln oder Katzenpisse – von Fäkalien, Schweiß, süßlich wie Blumen oder frisch gebackener Kuchen; warme Luft, dann muffiger Schimmel.
Habe aufgehört, mir die Nase oder Ohren zuzuhalten; im Schatten nehme ich alles in mich auf. Ist das meine Strafe? Für ein Delikt, an das ich mich nicht erinnern kann? Oder soll?
Mir ist schlecht.


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Es zischt, die Rohrpost ist da; hinter der Klappe nehme ich neben Konserven auch eine Glasbombe raus, die einen um Bleistifte gerollten Schreibblock enthält; darauf steht in zierlicher Handschrift:
Finde Parasiten, die am Volkskörper saugen.
Belohnung!

Darum geht es also.

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Fünfzig Blatt an Papier, erste Rückseite – schreibe eng und klein, um mehr Platz zu sparen. Teppich kratzt am Unterarm. Hinter der Stirnwand immer noch kein Ton. Die anderen umso lauter:
Das Paar zur Linken streitet sich wieder, aber leiser, dass ich nichts verstehen kann.
Rechts heult das Kind, wie so oft.
Hinter mir dreht er – oder sie? – nein, sicher ein er, das Radio auf einen Sender mit klassischen Sinfonien.
An der Decke wird laut gesaugt.
Unten reden sie über … was? Das sollte ich rausfinden; doch ich mag nicht. Ich habe keine Lust, ein Spitzel zu sein.

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Vorgestern lag eine einzige Dose im Ausgabefach: Nudeln, wohl Cannelloni: Wie blutleere Adern, weiß, schwimmen sie in roter Soße.

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Gestern und heute kam nichts. Schöpfe Wasser aus dem Klo. Werde dürr an Rippen und Hüfte. Stundenlang mein Schamhaar ausgezupft. Verrückt.
So geht es nicht weiter!
Ich schiebe den Stuhl zum Lüftungsschacht, steige hoch, äuge hinein, aber da ist nichts, nur käsiger Schein. Also klopfe ich die Wand nach durchlässigen Stellen ab, finde welche, markiere sie mit einem Bleistiftpunkt, wo ich das Trinkglas gegen pressen kann, mein Ohr hinein. Oder war das andersrum?
Ich höre sie deutlich.
Lausche ...

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Links wohnen Defätisten, gemeldet: nur einen klitzekleinen Zettel in die Büchse gelegt und abgeschickt. Lange gezögert, ja, es ist falsch – aber mein Hunger ist zu groß.
Die Wohnung vorne scheint tatsächlich leer zu sein.
Rechts: Familie mit Kind, ein Mädchen, das sie schlagen, wenn sie Milch verschüttet oder Schießpulver für Patronen, die sie am Küchentisch herstellen. Gemeldet.
Hinter mir lebt ein alter Mann, schläft viel; redet mit sich selbst, sobald er wach ist; viel Unsinn; manchmal erzählt von seiner Jugend auf dem Lande oder wie sein Bruder starb. Traurig, ihm zuzuhören. Er hustet oft.

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Fand heute eine Glühbirne im Ausgabefach und habe den Stuhl rangerückt, um sie in die Fassung zu schrauben. Aber sie leuchtet nicht: Draht gebrochen.

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Mehr Achselhaare ausgerissen; tut gar nicht so weh, bloß Nadelstiche; doch mit der Zeit brennt die Haut lichterloh; mit Butter eingeschmiert.
Keine Seife.
Stinke.

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Muss mir etwas überlegen, seit Tagen keine Rohrpost. Keine Konserven. Nichts. Schreibe Lügen auf Zettel, die ich vorsichtig vom Block abreiße.
Der alte Mann ist ein Staatsfeind!

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Es zeigt Wirkung, die Rohrpost spuckt neue Rationen aus – und stiller als sonst: Sie haben alle Verräter abgeholt.
Eine Wohltat.
Dann gleitet die Nordwand hoch – und ich springe auf! Dahinter liegt ein Raum wie dieser, leer, aber mit Waschbecken und Herd. Ein Fenster, sogar ein Balkon. Mein Gott, die Sonne!

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Und diese Luft, so frisch, obwohl sie ölig schmeckt. Stehe im Freien, barfuß auf den Steinplatten; grünes Moos wächst in den Spalten, wo Unkraut blüht, vom Wind hergetragen oder im Kot von Vögeln gekeimt …
Es ist blau.
Geländer verrostet, einst grün oder gelb – dort starre ich auf die Stadtlandschaft, eine Betonwüste aus Hochhäusern, die wie gestapelte Kreuze oder Orden zum Himmel aufragen; verspiegelte Fenster und kaum Schatten in den Winkeln; tausend Spitzen eines Nagelbretts, die am Horizont zum Muster werden … Brutstätten eines längst verlorenen Krieges. In der Ferne die Fabriken, auch der Bahnhof; von dort aus verschicken sie Männer, Frauen, bald wohl auch Kinder an die Front.
Plötzlich eine Stimme aus den Wolken:
Hast du Backpulver da?

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Wir tauschen nachts über einen Korb, den sie am langen Gürtel zu mir runterlässt: Ich lege Dosen hinein, kriege eine Schere dafür und einen Apfel, den ich gierig verschlinge.

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Einmal träume ich vom Segelschiff auf offenem Meer, einer mächtigen Fregatte, die meine Wohnung ist, die Markise in steifer Brise gebläht; und das Licht glitzert, alle Farben entsättigt und grell; es riecht nach Sommer, Strand und Palmen – und dann wache ich auf.

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Gerade trage ich den Stuhl durch beide Räume zum Balkon, als die Warnsirene schrillt: Fliegeralarm? Ich warte geduckt, als die Rohrpost faucht: In der gläsernen Bombe liegt eine Notiz auf Karton, abgestempelt mit Datum und Uhrzeit wie eine Ansichtspostkarte:
Kollaborateur!
Die Schere liegt griffbereit.
Noch diese Notizen verstecken …

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»Die schlimmsten Tyranneien unserer Tage sind auf den Dienst an der Menschheit eingeschworen und können nur funktionieren, indem sie Nachbarn gegen Nachbarn ausspielen. Das allwissende Auge eines totalitären Regimes ist in der Regel das wachsame Auge des Nachbarn von nebenan«

— Nach Eric Hoffer

FIN.

 

Hallo Dante,

perfekt inszeniert und es spielt keine Rolle, welches Jahr wir schreiben, in welchem Land, welche Stadt und Namen sind Schall und Rauch. Einfach nur die Menschlichkeit in ihren Auswüchsen, ihrem Gebaren um Platz und Sieg. Es wirft die Frage auf: Wann hat das alles nur begonnen, wann hört das endlich wieder auf. Diese beklemmende Aussichtslosigkeit dringt wie ein zäher Sirup durch die Worte, aber fesselt ungemein. Super!
Grüße
Detlev

 

Hey Detlev,
vielen Dank für deine warmen^^ Worte. ;D Habe noch ein wenig dran rumgefummelt ... Aber im Großen und Ganzen kann das so funktionieren ... :)

Liebe Grüße.

Der Dante

 

Hallo Dante,

Die "Textfetzen" greifen sehr schön und stimmungsvoll ineinander. Es bleiben im Anschluss einige starke Bilder in Kopf zurück. Natürlich bleiben bei der Textlänge viele Fragen offen und das ist auch gut so.

Das einzige wäre, und das ist mehr Frage als Anmerkung, dass du an manchen Stellen sehr häufig "Ich" verwendest. Ist beim Ich-Erzähler ja sinnvoll, nur meide ich selbst diese Form genau aus dem Grund. Mir kommen die Wortwiederholungen, die sich daraus ergeben, zu viel vor und darum bin ich mit meinen Texten dann auch ein wenig unglücklich. Vielleicht passt das aber auch so.

Ich habe kein Bett. Und ich bin allein …
Bin ich nicht.
Durch die Wände höre ich Stimmen von allen Seiten, von oben, von unten, und wenn ich mich konzentriere, kann ich einzelne Worte verstehen

An anderen Stellen hast du das mit dem Weglassen des Pronomen gelöst.

Vielen Dank für die Geschichte,

Joste

 
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Habe aufgehört, mir die Nase oder Ohren zuzuhalten; ...

Finde Parasiten, die am Volkskörper saugen.
Belohnung!

Mich hat – kann’s anders sein? - der Schiller neugierig gemacht,

lieber Dante.

Konnte in Wolf Biermanns Biografie noch von einem staatlich geförderten Spitzelsystem ausgegangen werden und Wände Ohren haben, so haben sich mit dem „Netz“ neue Formen von peergroups und sozialer Kontrolle entwickelt. Da wäre es m. E. durchaus logisch, wie schon der junge Kollege, @Joste - herzlich willkommen hierorts! - zuvor vorgeschlagen hat, aufs „ich“ zu verzichten, was ja im Eingangszitat schon angestoßen wird - quasi mittels Ellipse den Verlust seines Selbst darzustellen.

ICH zieh’s mal ein bisschen nach, denn tatsächlich funktionierts über die Verbform – wie schon im Eingangszitaten belegt –

Habe kein Bett. Und ... bin allein …
aber nicht überall - wenns zB zur Negation kommt
Bin ich nicht. Höre durch die Wände Stimmen …

Eine winzige Flusenlese
Manchmal Musik, jemand singt oder hat ein Radio laut[...]gestellt, das zwischen Märschen von der Front berichtet, …

Schließlich kommt eine Passage, die wir beide nicht als erste hierorts angestoßen haben
Manchmal träume ich vom Segelschiff auf offenem Meer, einer mächtigen Fregatte, die meine Wohnung ist, die Markise in steifer Brise gebläht; und das Licht glitzert, alle Farben entsättigt und grell; es riecht nach Sommer, Strand und Palmen – und dann wache ich auf.
wenn Jaron Lanier schon vor Jahr und Tag darauf hinweist, dass Eliten davon träumen, auf den Weltmeeren zu siedeln und so der modernen Sintflut zu entgehen ...

Den Namen Eric Hoffer kannte ich bisher nicht.
Schon allein dafür hat sichs Lesen gelohnt!,

findet der Friedel

 

Hallo Joste, willkommen!
Hallo Friedrichard!

@Ich: Ach, mein Schreibstil ist auch so schon recht stakkato und verkürzt, da würde ich jetzt nicht noch mehr Pronomen killen wollen ... Klar kann man noch ein "hört man Stimmen" tauschen, aber nur um Word-Wiederholungen zu vermeiden, wirkt das dann doch recht zwanghaft. Finde ich umkritisch. :D

Ansonsten danke ich herzlich für eurer positives Feedback. :)

Sonnige Grüße!
Der Dante

 

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