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Das Café
Mithra erwachte in dem Nebel, ohne zu wissen, dass er ein Teil von ihm war. Er versuchte, sich zu erinnern. Mithra spürte, dass etwas gestorben war. Grausame Leere gähnte wie ein endloser Abgrund in seinem Inneren, dort, wo einst die Bilder seiner Erinnerung gewesen waren. Der Druck hinter seiner Stirn schmerzte. Die feuchte Kühle des Ortes erfasste ihn. Nichts war hier, außer dem trüben Weiß, als gäbe es keine Zeit.
Wo bin ich?
Nichts als Nebel. Keine Antwort für ihn, ohne Worte, ohne Erinnerung.
In der Unendlichkeit erblickte er ein Licht. Es gab keine Angst, kein Zögern für Mithra, der nicht wusste, dass er Mithra war. Immer wieder schrie er ein Wort, das er sofort darauf wieder vergaß. Die Stille verschlang seinen Namen, als hungere sie danach.
Er erkannte ein Haus mit beleuchteten Fenstern. Je näher er kam, desto deutlicher vernahm er den Klang von Musik und Lachen. Wärme und Antworten lockten. Außer Atem blickte er an der Fassade empor. Ein hölzernes Schild, aus einem Stück Treibholz geschnitzt, verriet ihm den ersten Namen: "Café der vergessenen Träume"
Er betrat die Herberge, fand Licht, Wärme und den Duft von süßen Früchten. Kerzen bestrahlten den großen Raum und die Geselligkeit der Anwesenden. Dicht gedrängt saßen fröhliche Gestalten an blanken Holztischen mit massiven Beinen. Einige Kellner rannten zuvorkommend umher, schenkten aus, lächelten. An den Wänden waren zahlreiche Gegenstände befestigt. Er sah kleine Autos, Pfeil und Bogen, eine Klarinette, ein winziges Raumschiff. Über den Köpfen der Leute schwirrten Glühwürmchen in allen erdenklichen Farben umher.
Wie auf einen Befehl hin blieb plötzlich alles stehen und wandte sich ihm zu. Die Stille der Menschen, Lichter, Wände wurde zu einem starren Blick, der tief in sein Innerstes eindrang. Es war wie ein vorgeschriebener Ritus, eine Prüfung, ausgeführt von der Gesamtheit des Ortes. Im nächsten Moment sah er eine weiß gekleidete, blonde Frau hinter der Theke auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Um ihr freundliches Lächeln spielten sanfte Falten. Die Zeit ging weiter, die Geselligkeit wandte sich wieder sich selbst zu. In der Hoffnung, das Lächeln eines Sinnes entdeckt zu haben, schritt er an die Theke und sprach die ältere Frau an. „Hallo.“ Mehr brachte er nicht heraus.
„Hallo“, erwiderte sie ruhig, während sie ein kristallenes Glas trocken wischte. „Du bist neu hier, nicht?“
„Wo bin ich?“
„Kannst du nicht lesen, Kleiner? Bestell erst mal was zu trinken, du siehst sehr erschöpft aus. Ronja! Bring dem Neuen mal ´ne heiße Schokolade oder so was, ja? Danke!“ Sie seufzte und lehnte sich schwer auf die Holzplatte vor ihr, als hätte sie diese Bewegung schon unendliche Male ausgeführt. „Du bist im ´Café der vergessenen Träume´ angekommen. Hast du dich nie gefragt, was mit den Träumen geschieht, die dem Bewusstsein der Menschen entschlüpfen? Vermutlich wirst du sehr viel vergessen haben, das kommt von der Reise durch die Schleier. Hier ist dein Kakao.“ Sie reichte ihm eine dampfende Tasse, wie aus dem Nichts gezaubert.
„Ich weiß nicht mehr, wer ich bin“, flüsterte Mithra.
„Nun, du selbst bist vergessen worden. Du bist einer von uns. Und solange dich niemand zurückholt, wird das auch so bleiben.“ Sie reichte ihm ihre kräftige Hand. „Man nennt mich Aleysha.“
Er erwiderte den Händedruck. In diesem Moment nahm er mit all seinen Sinnen ein klares Bild war, er berührte den zweiten Namen.
Ich will an einem gläsernen Tag mitten auf der Straße liegen und meine Finger in den Asphalt drücken wie in Knete. Ich will einmal, nur einmal, in vollkommene Stille tauchen. Ohne Luft holen zu müssen.
„Was war das?“ Verblüfft zuckte Mithras Hand zurück.
Aleysha griff nach einem Lappen und begann, die Theke abzuwischen. „Das war mein Name. Du hast ihn erlebt, als du mich berührtest. Und ich habe deinen gespürt, im selben Augenblick. Verzeih´, ich habe nicht gefragt, ob du es wolltest.“
„Wie lautete er? Wie lautet mein Name?“, rief er aufgeregt.
„Das darf ich dir nicht sagen.“ Sie zwinkerte mit dem rechten Auge. „Ich gehöre nicht zu den Spiegeln, weißt du? Aber einer der Ältesten wird dir helfen können, dich selbst zu finden und deinen Ursprung, wenn du das willst. Ich denke, Frieden müsste Zeit für dich haben. Wo sitzt sie denn?“ Ihre Augen wandern suchend umher. „Ich sehe sie nicht.“
Er nickte, gierig nach Wissen, nach einem Mittel gegen diese Leere in ihm. „Wie kann ich sie finden?“
Aleysha machte eine ausholende Geste und lächelte ermutigend. „Du musst sie schon suchen. Du wirst wissen, wenn du einen der Ältesten triffst. Lerne die Träume kennen und sammle sie, wie ein Puzzle zu dir selbst. Du wirst wissen, wann du sie gefunden hast.“ Mit diesen Worten ließ sie ihn zurück und wandte sich wieder dem Trubel zu. Alles drehte sich in seinem Kopf. Langsam begann der Verstand, seine Tore zu öffnen und Mithra wusste, was er tun musste. Entschlossen blickte er zu seiner Rechten hin und berührte die Schulter eines dunkelhaarigen Mannes.
Ich will mit Regenschirm unter der Dusche stehen.
Dies war der dritte vergessene Traum, der dritte Name, der ihm begegnete. Hastig wandte er sich nach links und berührte den Arm eines gekrümmten grauhaarigen Wesens, das vielleicht irgendwann einmal Ähnlichkeit mit einem greisen Menschen gehabt hatte.
Ich möchte in einem Feld voller gelber Lilien liegen, ohne eine einzige zu zerstören.
Mithra lächelte, erfreut über seinen Erfolg, über sein Wissen. Er musste weiter suchen, um den richtigen unter den Vergessenen zu finden. Unauffällig, um niemanden zu belästigen, schritt er durch das Café und berührte Menschen und andere Wesen, Gegenstände und Lichter. Ich hätte gerne einmal einen Sommerregen, der wirklich warm ist. Er sammelte sie alle, wild entschlossen, den richtigen zu erwischen. Den mit den Antworten. Von Zeit zu Zeit erschrak er vor einem der Namen, vor den Gefühlen, die eine Berührung mit ihnen auslöste. Ihre Botschaft erfasste seinen Körper und füllte für einen kurzen Augenblick die Leere in seinem Inneren. Dann wieder spülte ein anderer verschollener Traum eine herrliche Woge menschlicher Schönheit in sein Herz. Ich möchte einmal aus endloser Höhe fallen. Ich möchte Pizzateig an meine Wände werfen. Ich möchte den Schulbus mit Wasser füllen und über alle Köpfe hinweg tauchen. Ohne Luft holen zu müssen. Er trug noch andere Dinge mit sich, die er vergessen hatte. Und so suchte er weiter. Ich möchte ein Ton sein. In einer Harmonie, die funktioniert.
Schließlich fand er, was er suchte. Sie saß abseits von den größeren Menschenmengen und blickte ihn schon lange an. Ihr forschender Blick lud ihn ein, sie zu berühren. Ihr Name war von grausam schöner Schlichtheit, ein kurzer Schmerz, wie ein Nadelstich und dann erfasste ihn das schwere Gewicht seiner vollen Bedeutung in einem Augenblick, den die Zeit nicht kannte.
Friede.
Sie war dunkelhäutig. Eine schwarze Perle. Ihre Augen waren tief wie der Ozean, dunkel, weise und auf eine sanfte Art bedrohlich. Ihr Haar war mit bunten Kugeln geschmückt, ihre Haut warm und glatt, zu glatt für ihr Alter.
„Nun“, schmunzelte sie, „du kannst dich gerne setzen.“
Mithra erwachte aus einem faszinierten Starren und nahm verlegen neben ihr Platz, den Blick in stiller Demut gesenkt. „Du kannst mir helfen, nicht? Du kannst mir meinen Namen sagen. Ich werde verrückt, wenn ich weiter mit diesem Nichts in mir leben muss. Ich ertrage es nicht länger, in mir häufen sich Namen, aber keiner gehört zu mir und keiner von ihnen kann mir sagen, woher ich komme.“ Er blickte auf, seine Augen flehten: „Bitte, hilf mir.“
„Du hast mein Beileid. Die Nebel tauften dich auf den Namen Mithra. Doch von viel größerer Bedeutung ist dein wahrer Name, der Traum, den du in dir trägst, der du bist. Ich kenne deinen Schmerz. Und ich hoffe, mein Wissen lindert ihn. Siehst du, ich werde in jedem Atemzug, den ein Mensch tut, neu geboren und tausendmal in demselben Augenblick sterbe ich. Das Vergessen ist ein erbarmungsloser Feind. Du wirst warten müssen, bis ein Mensch sich deiner wieder erinnert. Erst dann, wirst du den letzten Teil deines Rätsels lösen können. Ein Name alleine genügt nicht, Mithra, um zu wissen, wer du bist und zu wem du einmal gehört hast. Das Einzige, was ich für dich tun kann, ist, dir einen Blick in den Spiegel zu gewähren. Willst du das?“
Seine Stimme zitterte vor Aufregung. „Ja“, hauchte er und die Töne gingen unter in dem Lachen eines Kindes, das auf dem Fußboden spielte. Ihre Augen verstanden seine Sehnsucht und ließen ihn ein. In ihnen empfand er, wer er war.
Ihr Lächeln leuchtet wie ein Licht. Du trinkst es, wie Wasser aus einem Teich. Sie küsst dich. Atemlos.
Das also, war er. Das war sein Name. Seine Bedeutung. Sein Fluch. Mithra, ein Traum. Einer von vielen unter den Vergessenen.
„Sei nicht traurig, junger Mithra. Irgendwann wird sich jemand deiner erinnern. Und du wirst wiedergeboren werden. Sieh dich um, hier sind viele von uns. Sie warten alle. Du bist in guter Gesellschaft. Und jetzt sei still, es kommen noch viele, denen ich helfen muss.“
In diesem Moment öffnete sich die Tür des Lokals. Wieder hielt die Welt den Atem an. Die Träume begrüßten den Neuankömmling mit ihrer kostbaren Stille und Aufmerksamkeit. Ein kleiner Junge, von etwa zehn Jahren stand auf der Grenze zwischen den Nebeln und dem Ort der Vergessenen. Seine Augen geweitet, sein Atem rasselnd, suchte er den Raum nach etwas ab, das ihm Erlösung geben konnte. Verwirrt. Namenlos.
Mithra lehnte sich zurück in seinen Stuhl zur Seite der Ältesten und winkte den Jungen zu sich. Liebevoll nahm er sich seiner an. Auch er würde wiedergeboren werden. Der Atem der Welt setzte wieder ein. Mithra beschloss, zu warten. Hoffnung flackerte in seinem Inneren, eine ewige Flamme in den Händen Sterblicher.