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Das Etwas

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12.06.2020
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Anmerkungen zum Text

Es geht um eine zwiegespaltene Beziehung zwischen einem Jungen und seiner depressiven Mutter, die immer verschwindet und (eigentlich) wiederkommt. Der Junge hat schon immer ihr Leid gespürt, sich nach ihrem Leid ausgerichtet. Und Stück für Stück wirkt sich die Depression auf den Jungen aus: er wird selber depressiv und sehnt sich nun sehr nach der Liebe seiner Mutter. Die einzige Liebe, die er von ihr erhielt, war während des Vorlesens.
Carmèn dient nur der Funktion seine Unerreichbarkeit demonstrieren und wie unbedeutend andere Menschen für ihn sind.
Falls nicht bekannt ist, was eine Mikwe ist: Eine Mikwe ist, laut Wikipedia, „im Judentum das Tauchbad, das der Reinigung von ritueller Unreinheit durch Ablution dient“.

Das Etwas

Die S-Bahntür öffnete sich automatisch, ich ging hinein und Carmèn folgte mir. Die Tür schloss sich wieder, ich lehnte mich ans Fenster und blickte hinaus, wie ich es immer tat, egal womit und wohin ich fuhr. Meistens hatte ich ein Buch dabei, wenn ich längere Fahrten antreten musste aber ich las sie nie, weil ich lieber aus dem Fenster schaute. Meine Augen nahmen die ganze Umgebung auf, die Eindrücke füllten mich und ich hab mich eine zeitlang nicht mehr gespürt.
Carmèn redete mit mir, ihre Worte waren wie ein Lied, was mich umtanzte, nicht zu mir gelangte, und aus einer fremden Sprache kam. Ich wand mein Blick vom Fenster ab, schaute sie an, in ihre braunen Augen mit grünen Punkten, gerahmt von vollen Wimpern. Ich verstand nichts von dem, was sie sagte, und gab ein „Aha“ oder „Ok“ von mir in periodischen Abständen. Sie wusste, dass ich keine Lust hatte mit ihr zu reden aber sie besäuselte mich unbeirrt weiter mit ihrem Lied aus einer anderen Sprache, zu der ich keinen Zugang hatte.
Wir kamen an der Endstation an, verließen die S-Bahn, liefen den Bahnsteig hinunter. Beim Verabschieden huschte mir ein schnelles „HDGDL“ über die lächelnden Lippen, welche weiße gerade Zähne hervorbrachten, ein liebevoller Blick kam von Carmèn zurück, dann ging sie zu ihrem Bus, der unten auf sie wartete, wie eine Mutter mit Essen auf ihr Kind wartet. Meine Augen folgten ihr bis sie den Bus erreichte, einstieg und einen Platz einnahm. Ein Winken aus dem Bus erreichte mich, am Handgelenk winkte mir ein goldenes Bettelarmband zu.
Ich lief los, ich fühlte mich träge und schwitzte. Ich wollte nur noch nachhause. Musik lief auf meinen Ohren, „Leash Called Love“ von The Sugarcubes.

Ich ging die Treppen hoch, mir fiel es sehr schwer. Noch erschöpfter als vorher, erreichte ich die Tür und schloss sie auf. Keiner war da, sie war nicht da. Ich ging hinein und schloß die Tür zu und ließ den Schlüssel stecken. Ich trat meine Schuhe ab und ging schnurstracks in mein Zimmer. Beim vorbeigehen warf ich ein kurzen Blick in die Küche; auf dem Herd stand Essen. Ich hatte keinen Hunger.
Angekommen in meinem Zimmer, fielen meine Klamotten und meine Fassade zu Boden. Ich blickte kurz meinen schwitzenden dünnen Körper hinab, nur noch bekleidet von einer Unterhose. Ich schaute mich in meinem Zimmer um, sah viele Bücher, nur von mir gelesen, und zog meinen Bademantel an. Auf meinem Schreibtisch lag ein Buch von Sylvia Plath, was ich zum zweiten Mal las. Ich warf mich auf mein Bett, ungemacht und mit weißer frischer Leinenbettwäsche bezogen. Mir fiel auf, dass ich alleine mit mir selbst war und dem kleinem Etwas in mir. Eine Schwere zog mich ins Bett, ich schlief ein.

Ich wachte auf, vergaß was ich träumte. Mir war so, als ob ich nasse Sachen trug, die mich runterzogen. Ich versuchte sie abzustreifen, war dann nackt aber das Gefühl blieb. Ich ging zum Bad.
Ich blickte in den Spiegel und sah meine Brust an. Das Auge, eingerahmt von Rosen, starrte alles an außer mich.
Ich ging in die hintere Ecke des Bades, wo die Dusche war.
Ich stieg hinein, hob das eine Bein, das andere folgte. Meine Hand öffnete den Hahn, es lief und schloß die Tür. Ich fühlte mich wohl, so allein in der dunklen Ecke, als sei ich wieder in der Geborgenheit meiner Mutter. Unberührt wie eine Jungfrau. Ich sehnte mich danach und nach ihr.
Die kleinen Küsse prasselten auf meinen Körper, sie wärmten ihn. Sie umarmten ihn und nahmen bei jeder Berührung etwas vom Gefühl mit. Stück für Stück sammelten sie etwas auf, die Wärme gelang bis zu meiner Haut. Alles löste sich, lief herunter wie dicker, schwarzer Sirup. Der Abfluss fing jeden Tropfen auf, trank genüsslich. Das Gefühl war trotzdem da, es war eigentlich in mir. Ich wartete in der Hoffnung, dass ich mich auflösen würde. Ich wartete in der Hoffnung, dass ich und das Gefühl vom Abfluss verschlungen werden und wir für eine Zeit verdünnisiert sind; ich komme wieder und werde zu mir, das Gefühl bleibt vom Abfluss verschlungen und sie ist auch wieder da.
Die schönen, warmen Berührungen der Wassertropfen herzten mich. Das vertraute aber entfernte Gefühl erreichte mich in der Leibesmitte meiner liebenden Hälfte zu sein. Eingenommen von der Liebe, genährt von der Liebe, alleine mit der Liebe im Schoße meiner Mutter. Es herrscht aber kein Gefühl von ihrer Liebe in mir, ich war gefüllt von Leere und einen Quäntchen von dem Etwas, was zu meiner Mutter gehört. Ich fühlte mich beinahe so rein, als ob ich aus einer Mikwe kam.
Ich trocknete mich in weißer Baumwolle, hüllte mich in weißem Frottee, benutze weiße Creme. Das Auge auf meiner Brust, eingehüllt von Weiß, erblickte mich noch immer nicht. Ich sehnte mich nach seinem Blick, nach seinem wachenden, liebkosenden Blick.

Als sie mich verließ, wie jedes Mal, wenn sie mich verließ, ließ sie etwas zurück, was zu ihr gehörte; Mich, das kleine Etwas, was irgendwann zu mir gehören wird und die Frage, ob sie wiederkommt. Dieses Etwas raubte mir etwas, gab es ihr. Trübsinn wuchs von Zeit zu Zeit in mir, starb dann wieder. Ich machte sie dafür verantwortlich, sie hat mich gebärt, mich genährt und erzogen. Ich trank nur einmal von ihrer Brust, nahm es dort auf und trank nie wieder von ihr. Anscheinend genügte das eine Mal. War es Liebe, die sie mir gab und das Etwas forderte sie von mir wieder ein?
Mir wurde was genommen, was ich immer besitzen sollte, was ich immer wollte aber mir genommen wurde. Ich war immer in Angst gebettet.

Ich lag auf weißem Leinen, schaute an die Decke, Hunger machte sich breit. Ich schlug das Buch auf, suhlte mich auf den Seiten in den Absätzen, Zeilen, Sätzen, Wörtern und in den Buchstaben. Der Hunger wurde gestillt, die Sattheit bereitete sich aus. Goldener Honig füllte mich, genau wie das goldene Licht neben mir den Raum füllte. Umhüllt und gefüllt von Gold. Ich fühlte mich wie ein Schmuckstück. Ich war träge. Der Schlaf übermannte mich, legte seine großen Hände über mich, drückte mich ins Weiß. Ich fiel ins Schwarze.

Mama las mir viel vor, ich las ihr viel vor. Sie gab mir etwas und ich gab ihr etwas; wie eine Symbiose zwischen Algen und Pilze, die eigentlich obligat ist aber nur fakultativ war. Meinen älteren Geschwistern las sie nie vor, nur mir. Vielleicht lag es daran, dass sie sich in mir gesehen hat.
Als sie mir vorlas, nahm ich alles in mir auf, behütete alles wie ein Schatz, den jeder haben und mir wegnehmen wollte.
Ich schaute sie an als sie mir vorlas, liebte sie als sie mir vorlas, da sie mir was Gutes gab, was ich behalten durfte.
Ihre Worte tropften wie süßer Honig auf mich, während ich eingepackt war von den wärmenden Daunen, die mich und meine kalten Füße wärmten. Meine Füße wurden immer eisig vom ganzen Warten auf den kalten Fliesen in meinem alten Zimmer, bevor sie kam, um mir vorzulesen.
Jeder Tropfen vom zuckersüßen Honig rann in meinen Schlund, der geöffnet war, wie der von Küken, wenn sie auf ihre Mutter warteten, die sie fütterte. Ich ließ jeden Tropfen vom köstlichen Honig jeden Winkel meines gierigen Schlundes erkunden. Die Wärme der Daunen, die vorgelesenen Worte, Gespräche, Personen und Welten, die Stimme und der Geruch von Mama luden mich ein für immer zu bleiben. Ihre Worte bezirzten mich, ich fiel in den Schlaf. Ich spürte ihr Lippen auf meiner Stirn, ein „Ich hab dich lieb“ in meinen Ohren. Sie schloß die Tür. Ich wollte bei ihr bleiben und mehr von ihrem Honig, der mir besser bekam als ihre Brust.

Die Sonne ging auf, ergoss sich über den Pflanzen auf dem Fensterbrett. Ihre Strahlen trafen auf ihre Blätter, sie produzierten süßen Zucker, der alsbald wieder weg war.
Sie brach durch den Spalt zwischen den weißen Tücher, umhüllte mich mit ihren Liebkosungen. Mein Körper hatte ihre Wärme aufgenommen und löste ein unmerkliches Gefühl von Seligkeit unter der dicken Schicht schwarzem Etwas aus. Ihre Wärme gesellte sich zu dem Honig, der Melasse wurde. Dunkel, zäh und ein Rückstand von etwas viel Süßerem.
Ich erhob mich aus meinem Bett, was mich bei sich behalten wollte. Mein weißer Bademantel war auf, ich band das Band zu. Meine warmen Füße berührten den harten Teppichboden. Ich ging zur Türe meines Zimmers, wartete. Ich wartete, aber meine Füße wurden nicht kalt.
Meine Hand öffnete die Tür zum Flur, meine Beine setzen sich in Bewegung und hielten den Rest meines Körpers mit aller Kraft vom Boden entfernt. Die Schlafzimmertür war halb offen, das riesige Bett gemacht. Ihre Kissen waren groß und voll, luden einen ein es sich bequem zu machen. Die Lichterketten leuchteten nur noch unbedeutend, die Batterien hätten mal gewechselt werden müssen. Mama hätte das gemacht, wäre sie hier gewesen.
Meine Beine trugen mich weiter den Flur entlang. Ich sah kurz in den Spiegel und sah ein Gespenst, völlig formlos und eine Ansammlung von Nichts, was genau so weiß war wie mein Bademantel.
Ich erreichte das Wohnzimmer, die Tür war offen, genauso wie die Schlafzimmertür. Ich trat nicht hinein, aus der Tür war alles ersichtlich. Die Couch war gemacht, überall lagen Bücher rum und ein Buch, was ich ihr geschenkt hatte. Die Vorhänge waren zu, wie immer, und die Sonne wurde von ihnen zurückgehalten. Ihr Bettdeck, was auf der Couch lag - sie schlief oft auf der Couch, weil es bequemer war für sie - war gemacht und unberührt. Ich ging hinein ins Zimmer, saß mich auf die Couch. Ich sank in ihre Decke, legte mich hin und ein kleines Flüstern ihres Geruches tanzte in meine Nase hinein, gesellte sich zu den Erinnerungen. Trübnis wuchs in mir heran. Ihr Etwas wurde zu meinem Etwas, einem Parasiten, der hungrig nach Liebe ist. Ich wollte mich über ihr ergießen, ihr mein Leid mitteilen, es zu ihrem machen, wie sie ihr Leid zu meinem machte.
Der Schlüssel steckte von Innen in der Tür, als unerwartet jemand versucht hat sie aufzuschließen. Jemand klingelte, und bat somit hinein gelassen zu werden. War sie es?

 

Hallo,

wahrscheinlich denkst du selbst, dein Text sei große Kunst oder so. Schwierig wird es für mich immer dann, wenn in der kleinen Infobox eigentlich die Geschichte steht. Das ist dann wie so ein Beipackzettel, der den Leser daran erinnern bzw mitteilen soll, worum es eigentlich geht. Ich bin ja der Meinung, eine gute Geschichte hat das nicht nötig; man erfährt alles aus dem Text, aus den Figuren heraus, die Motivation, der Plot, alles.

Tja, und dann, Rob hat es schon erwähnt, wirkt deine Sprache leider einfach künstlich; so geschrieben stellen sich Leute Texte von Autoren vor, die sonst keine Ahnung von Literatur haben. Mit diesen gesuchten Formulierungen, alles voller schiefer Bilder, bemühter Vergleiche, überfrachtet und gewollt poetisch. Poesie wird nicht durch Zucker und Salbader erzeugt, sondern durch eine Tiefe, die echt ist, die sich auf den Leser überträgt und den Moment nachspüren lässt. Dein Text ist im Grunde eine einzige Stilblüte.

Gruss, Jimmy

 

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