- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Das Experiment mit der Katze
Die Quarks in atomaren Kernen, aus denen die Protonen und Neutronen bestehen, pulsieren, während sie von winzigen Elektronen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit umkreist werden. Die Naturgesetze scheinen auf den Kopf gestellt, wenn sich einzelne Teilchen zu überlagern beginnen, sich miteinander verschränken oder sich zum gleichen Zeitpunkt an zwei verschiedene Orte bewegen.
Teilchen die zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten sein können und verschiedene Teilchen, die zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind.
Die Newtonsche Physik hat es Teilchen bis dahin nur erlaubt, sich zu verschiedenen Zeiten am gleichen Ort aufzuhalten. Aber es gibt da eben die andere Seite:
Die Welt der Quarks und Quanten. Eine Welt voller Widersprüche und Ungereimtheiten.
Meine Welt.
In der Vergangenheit gab es schon unzählige Experimente zum Thema Quantenphysik. An einigen davon war ich selbst beteiligt. Die meisten haben die Theorie bestätigt, aber trotzdem gibt es immer wieder Nörgler und Zweifler. Es sei eben alles nur Theorie und im Großen und Ganzen nicht umsetzbar. Ich werde ihnen das Gegenteil beweisen.
„Sind Sie sicher, dass sie das wirklich tun wollen, Professor Rothholz?“, unterbricht der neue Assistent meinen Gedankengang. Ein Trottel. Ich weiß nicht mal, wie er heißt.
Schweißperlen bilden sich auf seiner hohen Stirn. Obwohl er so jung ist merkt man ihm den Haarausfall schon an. Ich muss unvermittelt lächeln. Selbst alle wissenschaftlichen Größen hatten daran gezweifelt, es könne funktionieren. Niemals könnte ich einen Kasten gegen alle vier Kräfte und jegliche Durchlässigkeit für noch so kleine Teilchen vollständig abschirmen. Und ich gebe zu, es war nicht einfach.
Die Starke und die Schwache Kraft waren dabei noch das geringste Problem, ihre Reichweite ist für ein solches Experiment einfach zu gering. Vielmehr die Elektromagnetische Kraft und vor allem die Gravitation haben mich Jahre gekostet.
Und selbst wenn es funktionieren würde, wären die Folgen nicht vorhersehbar, hatten sie mich gewarnt. Deshalb hatte der junge Kerl in seinem viel zu weiten weißen Kittel ja auch fürchterliche Angst.
Einfach köstlich.
Schon die Szenerie mit all den Geräten, den Käfige, dem allgegenwärtigen Surren des Fusionsgenerators, und natürlich die Sicherheitsvorkehrungen mit der Schleuse zum Labor und den Wachleuten mussten ihn eingeschüchtert haben.
„Ihr Lächeln soll wohl "ja" heißen, nicht?“
Es liegt Verzweiflung in seiner Stimme.
„Nur weil ein Professor Gail von der Universität in Boston der Meinung ist, dass bei einer vollständigen Abschottung eines Raumes von unserer Welt sich so etwas wie ein Schwarzes Loch bilden würde und die Fachschaft Philosophie einen Witz daraus machte, wenn ich meine Gerät einschalte, wird sich die Welt auflösen – Ha! – deswegen müssen sie sich doch nicht in die Hose machen junger Mann!“
Insgeheim bin ich mir nicht ganz so sicher. Es funktioniert fast genau wie bei einem Schwarzen Loch. Keine Informationen dringen mehr heraus. Aber auch keine herein. Faktisch zwei komplett getrennte Welten, während man ein Schwarzes Loch zumindest als einseitig durchlässig bezeichnen könnte. Zwei Welten, und niemand kann sagen, was sich in der anderen abspielt.
„Hohlen Sie jetzt das Tier!“, befehle ich ihm, und er gehorcht aufs Wort.
Ich gehe zum Waschbecken an der Wand des Labors und lasse Wasser über meine faltigen Hände laufen. Sorgsam reibe ich allen Staub ab.
„Den Hund oder die Katze?“, höre ich seine Stimme rufen.
Ich werde einen neuen Assistenten brauchen, wenn ich erstmal den Nobelpreis bekommen habe. Dieser hatte scheinbar nicht mal von Schrödingers Katze gehört.
Natürlich ging es nicht um eine Katze in dem Experiment, sondern um Überlagerung von Zuständen. Aber in dem Gedankenspiel hatte Schrödinger nun mal von einer Katze geredet, die in einer Box mit Gift sitzt, das nach einer Stunde durch Zerfall von radioaktiven Isotopen, nach dem Prinzip quantenmechanischen Zufalls, entweder die Katze tötet oder sie am Leben lässt.
Wenn man nicht hineinsehen kann, ist sie tot oder lebt sie noch? Oder beides?
Schrödingers Antwort war: Erst wenn man hinein sieht passiert es. Vorher ist sie sowohl tot, als auch lebendig.
Natürlich kann man das auch durch andere Messungen nachweisen. Deshalb ja der ganze Aufwand.
Schelmisch blicke ich über die Schulter: „Entscheiden sie einfach selbst. Wie wichtig kann das sein? Schließlich sind wir keine Biologen, oder?“
Er lächelte schüchtern: „Ja, sicher Herr Professor, sie haben recht. Ich tu das Tier einfach in den Kasten.“
Als ich zum Handtuch greife, um meine Hände zu trocknen, gehe ich alles noch mal durch.
Eigentlich müsste ich an alles gedacht haben.
„Versuchen wir es!“
Der Generator läuft schon seit Stunden warm, damit genug Energie bereitgestellt werden kann. Ich mache mir eigentlich nur Sorgen, dass er überhitzen und explodieren kann.
Oder, dass das Tier in der kleinen Box erstickt. Aber ich kann das leise Kratzen der Krallen gegen die Innenwände noch hören.
Schnell stelle ich noch den Scanner auf den Kasten ein. 74,3 Prozent Informationsgenauigkeit des Inneren. Ein sehr guter Wert.
Es wird Zeit.
Langsam ziehe ich den Hebel nach unten. Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie der junge Kerl sich in den hinteren Teil des Labors zurückzieht.
Noch 72,1 Prozent Genauigkeit. Die Abschirmung beginnt zu wirken.
70 Prozent … 65 … 55 … 40 …
Die Kiste verschwimmt vor meinen Augen. Lichtblitze huschen über die Außenwand. Außer dem Surren des Generators und dem Knistern der Stromleitungen ist nichts mehr zu hören.
20 Prozent … ich kann fast nichts mehr erkennen … 15 … 10 … 5 …
Die magischen Null Prozent.
Ein schwarzer Fleck im Raum ist alles, was noch von der Kiste übrig ist.
Kein Weltuntergang, nichts ist passiert. Die vollständige Abschottung ist geglückt. Es besteht keine Möglichkeit irgendetwas über ihr Inneres auszusagen. Alles kann darin sein. Oder nichts. Es macht keinen Unterschied.
Ich muss einfach Lachen. So laut, dass der Assistent, wenn man ihn so nennen kann, nur noch mehr Angst bekommen muss. Es ist ein bedeutender Augenblick.
Aber der spannendste Moment steht noch bevor.
Ich muss es wieder ausschalten.
Vorsichtig, gebieterisch greife ich nach dem Hebel, drücke in ein Stück zurück.
Einen Moment ist mir, als würden chaotische Lichtblitze mich blenden.
Was ist passiert? Hab ich etwas falsch gemacht? Das Innere könnte nicht stabil genug gewesen sein, eine eigene Welt zu bilden!
Doch im gleichen Moment löst sich aus dem schwarzen Fleck die Silhouette der Kiste.
15 Prozent zeigt der Scanner an … 30 … 50 … 70 …
Mittlerweile sieht die Kiste wieder ganz normal aus.
Bei 74,2 Prozent stoppt der Scanner.
Im Rahmen der Messgenauigkeit dürfte das in Ordnung gehen.
Voller Euphorie gehe ich zum Kasten. Er sieht aus wie vorher. Nur das Kratzen hat aufgehört.
Ob das Tier es wohl überstanden hat?
Mit einem zischen und unter entweichendem Dampf öffnet sich der Deckel. In einer Ecke der Box liegt leblos ein zusammen gerolltes schwarzes Fellknäuel. Aber das Gift scheint laut Anzeige nicht freigesetzt worden zu sein.
Behutsam greife ich hinein und nehme das Tier auf den Arm. Die kleine Katze scheint äußerlich alles gut überstanden zu haben und als ihr ein leises Miauen entweicht fällt eine zentnerschwere Last von mir ab.
Ich schaue mich im Raum um, kann aber niemanden sehen.
„Sie können rauskommen, alles hat funktioniert!“, rufe ich.
Mein Gehilfe schaut augenblicklich hinter einem Labortisch hervor und wird rot im Gesicht.
„Wirklich? Es hat funktioniert?“
„Ja, es hat funktioniert!“, sage ich.
„Und wie hat es der Hund überstanden?“, fragt er im näher kommen.
„Welcher Hund?“
Ich deute auf die Katze in meinem Arm. „Sie sind wohl sehr verwirrt heute…“
Ich zögere. Was meint er mit dem Hund? Warum wird er jetzt auf einmal so bleich?
Panisch schaue ich zu dem leeren Hundekäfig. Und zu dem Käfig der Katze, wo eine rote Katze gerade dabei ist ihr Fell zu säubern.
Ich hatte nur eine Katze im Labor…