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Das Klavier im Wald
Er holte tief Luft. Zum ersten Mal, seit er losgegangen war, spürte er die Kälte. Wie sie ihm durch die Kleidung kroch, wie sie ihm auf den Wangen brannte. Er blieb stehen. Ein Schnips und der Traum, der ihn die letzten Jahre gefangen gehalten hatte, verblasste für immer. Es war kein guter Traum, das stand fest, aber auch kein Albtraum. Vielmehr die Art von Traum, in der sich alles zäh und auf eine lähmende Art real anfühlte. Die Art von Traum, die mit der Realität verklebt war, sodass es schwerfiel, beides voneinander zu trennen. Aber die Kälte hatte ihn aus dem Schlaf geholt. Der eisige Wind fegte seinen Kopf bis in den hintersten Winkel leer und schuf endlich Platz für neue, klare Gedanken, die nach Raum schrien, um sich zu entfalten. Und jetzt sah er sie, die Dinge um ihn herum. Den Wald. Den Schnee. Die Nacht. Ebenso leer und leicht wie sein Kopf, war die Landschaft um ihn herum. Hohe, dünne Kiefern standen so weit er blicken konnte. Weißes Pulver lag auf ihren Nadeln und überall sonst, wo es liegen konnte. Das Weiß ging in einen klaren Sternenhimmel über und der Himmel funkelte mit dem Schnee um die Wette. Das Sternenlicht tauchte den Wald in ein helles, aber kaltes Licht. Dadurch konnte er sehen, wie sich nur ein paar Schritte von ihm entfernt eine Lücke in den Bäumen auftat. Er versuchte sein Bein zu heben und merkte plötzlich, wie tief sie im Schnee versunken waren und wie erschöpft er war. Es kostete Kraft. Viel Kraft. Aber etwas trieb ihn vorwärts, nein, etwas zog ihn zu dieser Lichtung. Schritt für Schritt, stapfend durch den Schnee.
Auf der Lichtung lag der Schnee nicht mehr ganz so hoch, der Wind hatte ihn an den Rand geweht und so türmte sich ringsherum eine Schneemauer auf. Doch ihm fiel etwas Seltsames ins Auge. Ein riesiger, polarweißer Flügel, mit Eiszapfen, die an den Seiten herunterliefen. Er fügte sich perfekt in die Umgebung ein, zu sehen war er nur, weil sich in seinem makellosen Weiß das Sternenlicht leuchtend spiegelte. Und jetzt wusste er, was ihn so angezogen hatte. Er ging quer über die Lichtung und setzte sich auf die kleine Klavierbank. Auch auf den Tasten lag etwas Schnee, den er vorsichtig wegwischte. Er blickte in den Himmel, seine Hand hob sich und er drückte eine Taste. Ein einzelner, heller Ton durchschnitt die Stille. Ein zweiter folgte. Er blickte weiter zu den Sternen. Ein dritter Ton flog in die Nacht, diesmal dichter auf den vorherigen folgend. Und ebenso klar, wie der Ton zu hören war, sah er ein Bild vor seinen Augen. Eine Erinnerung. Es war ein Bild aus seiner Kindheit, seine Mutter, die ihm ein Schlaflied sang. Ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte ihn, aber es war nicht echt. Es war ein Abdruck, ein Schatten, den die Erinnerung geworfen hatte. Und als der Ton langsam ausklang und in den Wald verschwand, da verblasste auch das Gefühl in ihm. Für einen kurzen Moment spürte er nichts als Leere, saß reglos da. Dann folgte der nächste Ton, tief und schwer und ihn traf das nächste Bild. Schmerz pulsierte in seinem Kopf, ein Gefühl, als würde jeden Moment eine Flut aus Tränen aus ihm herausbrechen. Er sah den Schuss. Der Schuss, der ihn nicht getroffen hatte, aber der für jede seiner Qualen verantwortlich war. Es war der Schuss, der seine Mutter getötet hatte.
Doch so schmerzhaft die Erinnerung war, so kurz und vergänglich war sie auch. Ihr folgten weitere. Gute und schlechte. Hohe Töne und tiefe Töne, immer schneller aufeinanderfolgend. Und sie schmolzen zusammen, Höhen und Tiefen fügten sich aneinander zu einer Melodie und schließlich zu einem ganzen Lied. Er wusste nicht wieso, aber das Lied kam ihm seltsam vertraut vor. Er konnte nicht mehr aufhören zu spielen, es floss aus seinen Händen über die Tasten in das Klavier und die Töne flossen zurück in seinen Kopf, bis die Melodie alles füllte. Sie verband alles miteinander. Die Bilder wurden zu einem Film, die Gefühle zu einer riesigen Wolke aus tausend Empfindungen. Und in all diesem Chaos aus Tönen, Farben und Gefühlen erkannte er etwas. Er erkannte sich selbst. Es war seine Melodie, sein Lied.
Er stand auf und ging. Zurück.