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Das Leben ist woanders

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10.02.2000
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Das Leben ist woanders

»550 Mark und 100 Kilometer«, sagte der Grieche und hielt mir seine ölverschmierte Hand hin.
»550 Mark? Für zehn Tage?«
Ich runzelte die Stirn. Die Hälfte meines Budgets. Ich schlug ein. Egal. Schließlich musste ich ja irgendwie meine Schlafstätte erreichen und Busse gab es keine, geschweige denn Taxen. Als der Grieche loslassen wollte, drückte ich zu und hielt seine Hand fest. Er sah mich verwundert an.
»Und zwei Mal tanken, oder?«, forderte ich ihn auf und lächelte.
Er presste seine Lippen aufeinander. Dann nickte er. Ich notierte auf dem Vertrag „+ 2 mal tanken“ und setzte meinen Friedrich Wilhelm drunter. Aus meiner Brusttasche nahm ich das Geld, zählte 270 Mark ab und legte die Scheine auf den Tisch.
»Alles bezahlen, bitte«, verlangte er.
»Und wenn das Motorrad kaputt geht, weil es scheiße repariert ist, hast du mein Geld und ich hab nix«, erwiderte ich.
Er knirschte mit den Zähnen. Ein unangenehmes Geräusch.
»Okay«, sagte er, »du bist schlimmer als die Wehrmacht«, legte er nach.
»Die Wehrmacht hätte nicht bezahlt«, konterte ich.
Er verdrehte die Augen und murmelte etwas in Griechisch. Mit der linken Hand kritzelte er seine Unterschrift auf den Vertrag, mit der Rechten nahm er einen Schlüssel aus einem Schälchen und gab ihn mir.
»Was ist mit einem Helm? Und Papiere?«, wollte ich wissen.
»Helm? Papiere?«
Er sah mich erstaunt an und lachte. Seine beeindruckenden Zahnreihen kamen voll zur Geltung.
»Ist Naxos hier. Zwei Polizisten. Schlafen den ganzen Tag. Vergiss Helm und Papiere.«
»Dein Wort in Poseidons Ohren.«
Er kniff ein Auge zu und starrte mich für einen Moment an.
»Du machst Spaß mit mir.«
»Aber nein. Ich will los«, wiegelte ich ab.
»Okay. Komm, ich zeig dir die Maschine.«
Wir gingen in den Hinterhof von „Leonidas Padopoulos - Maschinen + einzige Tankstelle auf Naxos“. Dort standen nicht wenige Motorräder, alles Enduros oder Cross-Maschinen, dazu drei Lada und ein Buggy. Der Grieche holte die XT600 aus der Reihe und schob sie unter die Pergola.
»Das ist die Zündung«, erklärte er und deutete auf das Zündschloss. Ich drückte auf den Sattel und prüfte die Kettenspannung, stellte die Maschine ins Lot, nahm den Ölstab heraus. Es war auf korrektem Niveau und das Öl klar. Dann öffnete ich den Luftfilterdeckel, entnahm den gelben Filter, musterte ihn von allen Seiten, schaute ins Gehäuse und setzte ihn wieder ein. Der Grieche sagte nix. Der Reifendruck war in Ordnung, das Profil ausreichend. Blieb noch der Luftdruck in der Gabel. Aber auch der war nicht zu beanstanden.
»Was bist du?«, hörte ich ihn fragen. »Yamaha-Mechaniker?«
»Ne. Ich habe dieselbe Maschine zuhause.«
»Dann ist gut. Viele Unfälle hier. Die Touristen meinen, sie können fahren. Aber die ganze Insel ist nur Fels und Schotter.«
»Ich fahre vorsichtig. Keine Angst.«
»Ich habe keine Angst«, meinte er, »du solltest Angst haben. Liegst du irgendwo, findet dich ein Hund oder eine Ziege. Du verblutest.«
Er ging in sein Büro und holte meinen Rucksack.
»Hier, Wehrmacht. Viel Spaß. Und noch ein Tipp. Sehr warm hier. Immer Benzinhahn zu, sonst ist das Benzin weg.«
Ich zog den Rucksack über und setzte mich auf die Maschine.
»Danke. Ach, eine Frage noch …«
Er sah mich an.
»… woher kannst du so gut Deutsch?«
»Fünfzehn Jahre Volkswagen, Wolfsburg.«
Ich grinste und kickte den Motor an.

*​

Die geteerten Straßen endeten an der Stadtgrenze von Naxos, der gleichnamigen Hauptstadt der Insel. Fahr da hin, sagte eine Bekannte, die ein Reisebüro besaß. Noch völlig unentdeckt, zwei alte Hotels, keine Touristen, nichts, meinte sie und gab mir die Adresse eines Deutschen, der dort als Ingenieur Grundwasserbohrungen im Auftrag der griechischen Regierung durchführte. Sein verdientes Geld steckte er in eine kleine Ferienanlage für Backpacker.
Wenige hundert Meter nach den letzten Flecken brüchigen Asphalts, verwandelte sich die planierte Schotterstrecke in eine breite Straße aus Split, Sand und jeder Menge Dellen. Mehr oder weniger tief. Es war nicht ratsam, schneller als fünfzig oder sechzig zu fahren. Mein Weg führte mich nach Süden. Laut Beschreibung sollte ich der Küstenstraße folgen bis zu einer verfallenen Fischfabrik. Dort befänden sich links der Straße, auf einer Anhöhe, die Ferienhäuser. Nicht zu übersehen, erklärte meine Bekannte. Ich war überrascht, als ich es nach 16 Kilometern staubiger Straße genau wie beschrieben vorfand. Ich zählte zehn eingeschossige Bauten, die im Kreis um einen mit Marmor belegten Platz standen, auf dem ich die Yamaha abstellte. Mein Bein soeben vom Sattel geschwungen, kam aus dem rechten Häuschen ein mit Batikklamotten behangener Mann und winkte mir zu.
»He, Mann, ölt die Karre?«, fragte er und blieb stehen.
Gute Frage. Es war ein sehr weißer Marmor und ziemlich frisch verlegt. Die Fugen waren noch fast schmutzfrei. Ich zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Wohin kann ich sie stellen?«
Er zeigte auf eine Durchfahrt, die das Rondell der Häuschen teilte.
»Da hinten ist ein Parkplatz. Stell sie neben den Jeep. Und dann komm rein.«
Ich wollte antworten, aber er war schon wieder auf dem Weg in den Schatten. Vorsichtig stellte ich den Rucksack ab, schob die Yamaha auf den Parkplatz, verschloss den Benzinhahn, holte meinen Rucksack und ging in die Anmeldung, die aber keine war.

»Komm rein, Mann. Setz dich.«
Ich suchte die Quelle der Stimme. Der Wechsel vom hellen Tageslicht in den dunklen Raum war extrem. Erst nach ein paar Sekunden vermochte ich den Batikmann zu entdecken. Im Schneidersitz auf einer Unmenge Matratzen und Kissen an der linken Wand. Jeder Stoffbezug war bunter als der nächste. Auf seinem Schoss lag der Kopf einer sehr kurzhaarigen Frau, deren Körper unter all dem Stoff jedoch nicht zu sehen war.
»Auf, Mann, setz dich«, forderte er mich erneut auf, »nicht so schüchtern. Wir beißen nicht.«
»Genau«, bestätigte die Frau und zog einen recht großen Joint aus irgendeinem nicht einzusehenden Versteck hervor.
Ein Tisch, ein Regal, eine kleine Schrankwand, oben drauf ein Radio. Im rechten Teil eine kleine Küche mit Frühstückstheke, links davon eine Tür. Keine Stühle. Es blieben nur die Matratzen. Ich setzte mich und lehnte den Rücken an die kühle Wand.
»Ich hoffe, ich bin hier richtig«, sagte ich vorsichtig.
Ein Feuerzeug tauchte ebenfalls aus dem Versteck auf. Die Frau entzündete den Joint, zog ein paar Mal und reichte ihn weiter.
»Ich bin Roland. Wie heißt du?«
»Heinrich Konstantin. Aus Köln. Im Reisebüro sagten sie was von …«
»Ja, Mann, Heinrich Konstantin aus Köln, klar. Ist gebucht. Haus Nummer zwei …«, Roland zog ein paar Mal kräftig und beugte sich zu mir.
»Hier, Mann, das entspannt dich. Wie lange warst du unterwegs?«
Ich nahm den Joint, inhalierte einige Male tief und reichte ihn zurück.
»Köln, Athen, zwei Stunden, von da nach Santorin ne Stunde, mit der Fähre nach Naxos, noch mal vier Stunden, und …«
»Das ist lang, Mann, echt, oder? Was sagst du, Gitte?«
»Ja. Scheiße lang.«
Roland sog den Joint förmlich in sich auf. War es ein durchgehender Zug? Dann hustete er.
»Was? Hast du das Ding jetzt weggezogen?«, entrüstete sich Gitte und kam mit einem Ruck hoch. Sie war nackt. Ich suchte mit meinen Blicken eine Stelle an der Wand, die unverfänglich war.
»Ich bau dir einen neuen. Jetzt zeig ich Heinrich mal die Hütte. Danach gehen wir runter zum Strand und ich baue dir den besten Joint aller Zeiten.«
Ich stand auf, die Augen zur Decke gerichtet, mit der linken Hand die Trageschlaufe meines Rucksackes suchend.
»Oh ja«, sagte Gitte, »ich pack mal Wein und Bier ein und nehme noch ein paar Kekse mit.«
Roland stellte sich lächelnd neben mich und legte den Arm um meine Schulter.
»Komm, das mit Ausweis und Unterschrift und so kann warten. Jetzt zeig ich dir mal dein Zuhause.«
Er schob mich Richtung Ausgang.

Alle Häuschen waren identisch. Die Tür neben der kleinen Küche führte zu einem großzügigen Badezimmer mit begehbarer Dusche und schönem Waschbecken. Überall prangte das Emblem von Villeroy & Boch, sogar auf der beigefarbenen Kloschüssel. Im großen Zimmer stand im Gegensatz zur „Anmeldung“ ein breites Bett und dazu drei Stühle um den Tisch. Tür und Fenster besaßen Fliegengitter.
»Wirklich schön«, merkte ich an.
»Nicht wahr? Tadellos. Und jeden Morgen um zehn Uhr kommt eine Putzfrau.«
Den Rucksack stellte ich neben das Bett, kramte Bermuda-Jeans und T-Shirt raus und zog mich um. Roland holte sich einen enormen Popel aus der Nase, warf ihn aber freundlicherweise in das Spülbecken. Dann kramte er einen Schlüssel aus einem Lederbeutel unter dem Batikumhang.
»Hier, der Schlüssel. Die Putzfrau hat auch einen. Wenn du Wertsachen hast, kannst du die bei uns in ein kleines Schließfach legen. Man weiß ja nie …«
»Danke. Und jetzt Strand?«
Er breitete die Arme aus und sah an die Decke.
»Apollo ist uns hold. Jetzt geht es ans relaxen. Los geht’s.«
Ich schloss hinter uns ab und half den beiden mit dem schweren Bastkorb.

Es waren fünfzig Meter zur Staubpiste und von da aus weitere fünfzig Meter zum Strand. Ein Prachtstück von Strand. Sicher an die dreißig Meter breit. Nahezu weißer Sand und vor mir die Ägäis in allen Blauschattierungen.
»Wie weit ist die Landzunge von hier entfernt?«, fragte ich die beiden und deutete nach Norden. Gitte und Roland breiteten eine große orangene Fransendecke aus.
»Ziemlich genau drei Kilometer«, sagte Roland.
Die Bucht war leicht zum Inselinneren hin gekrümmt und von hier aus konnte ich jeden Meter Strand einsehen. Nichts als Sand. Kein einziger Mensch.
»Ich fasse es nicht, dass wir die Einzigen sind. Niemand sonst. Das gibt’s doch gar nicht.«
Gitte lachte und setzte sich auf die Decke.
»Glaub’s ruhig. Naxos ist noch völlig unbekannt. Zwei kleine Hotels am Hafen. Stefan ist der zweite, der eine Feriensiedlung hier angelegt hat, neben dem Holländer, einen Kilometer weiter. Es kommen meist Rucksacktouristen. Noch sind wir ein Geheimtipp.«
Ich sog eine Brise salzige Luft in die Nase und setzte mich. Roland öffnete drei Bier und reichte uns zwei Flaschen. Gitte trank einen ordentlichen Schluck, entledigte sich dann aller Klamotten und legte sich zwischen uns. Ich war perplex und musterte aus Verlegenheit das Etikett. Griechisches Bier.
»Was ist mit meinem versprochenen Joint?«, erinnerte sie Roland an seine Worte.
»Moment. Kommt gleich.«
Die Nacktheit neben mir machte mich nervös. Also trank ich das Bier leer und legte mich ebenfalls hin. Starrte in den wundervoll blauen Himmel und lauschte dem Plätschern der Brandung, das mich zügig in die Traumwelt beförderte.

Lautes Kichern, Gelächter und Kreischen erreichte meine Ohren. Ich wusste für einige Sekunden nicht, wo ich war, öffnete die Augen und erblickte einen schon leicht rötlichen Himmel. Abenddämmerung in der Ägäis. Zehn Tage auf einer Kykladeninsel, zwischen Göttern und Philosophen. Das Kichern kam näher, Wassertropfen erreichten mich, Roland und Gitte jagten sich über den Strand, um unseren Liegeplatz herum, nackt und verspielt. Wie zwei Kinder. Dann erwischte sie ihn und beide legten sich auf die Decke, begannen zu schmusen. Aus dem Augenwinkel entdeckte ich die Kekse in einer Pappschachtel, nahm zwei heraus und aß sie auf. Sie schmeckten nach rein gar nichts. Touristenkekse, hoher Preis, kein Geschmack, vermutete ich und suchte den Himmel nach ersten Sternen ab. Die zwei Turteltäubchen atmeten zusehends schwerer. Irgendwann drehte ich mich und stützte den Kopf auf die Hand. Gitte lag auf der Seite, Roland hinter ihr, beide Hände um den Körper seiner Freundin geschlungen. Ihr Blick ging durch mich hindurch. Sie parierte jeden seiner sanften Stöße mit einem Seufzer. Ich sollte mich schämen zuzuschauen, dachte ich. Aber die Zwei liebten sich auf eine so zarte Weise, dass kein Platz war für Scham oder Voyeurismus. Ich war völlig überrascht von mir. Überrascht, Zuneigung zu empfinden für eigentlich unbekannte Menschen. Und Freude über ihr Glücklichsein, ihr offenbar tiefes Verständnis füreinander. Das traf mich unvorbereitet und ich begann zu weinen. Einfach so. Keine fünf Meter vor mir die göttlichen Gestade, voller antiker Dramen. Außerdem vernahm ich plötzlich Stimmen in meinem Kopf. Etwa Jason und seine Argonauten? Gitte und Roland vergingen zusammen in einem gedehnten Orgasmus voller Zärtlichkeiten und leiser Worte. Das Plätschern der Wellen verschwand und das Meer wurde bunt. Scheiße, dachte ich. Das waren keine Touristenkekse.

Das Erwachen war wie eine Geburt. Aus dem Dunkel ins grelle Licht des Lebens. Jemand hatte mich in einen Schlafsack gehüllt. Abertausende Glühwürmchen hingen über meinem Kopf, der ein wenig schmerzte. Sterne, kam die Erkenntnis. Alles Sterne. Und das leuchtende Band dort, von Horizont zu Horizont. Die Milchstraße. Von unbarmherziger Schönheit. Dann roch ich gebratenes Fleisch und sofort meldete sich ein schmerzendes Hungergefühl. Roland und Gitte saßen mit dem Rücken zu mir vor einem kleinen Holzfeuer, eingehüllt in einen Schlafsack. Ich stand auf und setzte mich gegenüber den beiden vors Feuer.
»Schau an. Unser Langschläfer«, sagte Gitte leise und grinste. »Hier, wir haben dir ein paar Lammkoteletts übrig gelassen.« Aus einer Tasche holte sie einen Block Alufolie und reichte ihn herüber.
»Vielen Dank, und …«
Gitte ahnte, was ich sagen wollte und fiel mir ins Wort.
»Vergiss es. Ist eine Frage des Vertrauens«, sagte sie und dreht den Kopf zu Roland. »Wir vertrauen dir. Nicht wahr, Roland?«
»Ja. Unbedingt.«
Ich nickte und wickelte die Lammkoteletts aus, vier Stück an der Zahl. Redlich bemüht, einigermaßen manierlich mein Loch im Magen zu füllen, nagte ich alles Verwertbare bis auf die Knochen ab und warf sie ins Feuer. Das hätten gut und gerne noch vier sein können. Als hätten die beiden meine Gedanken erraten, zogen sie ein Weißbrot hervor und ein großes Glas eingelegte Oliven.
»Wir stehen nicht so auf Oliven. Magst du?«
»Sehr gerne. Vielen Dank.«
Roland reichte mir noch zwei Flaschen Bier und mein Hunger ließ von Brot und Oliven nichts übrig. So endete mein erster Abend in Griechenland. Neben einem langsam verlöschenden Feuer, zwei eng umschlungen schlafenden Menschen, die ich mochte und dem Band aus Staub und Licht über mir.

*​

Die nächsten drei Tage bestanden aus Strand, Lesen, Essen einkaufen in Naxos, Kochen mit Roland und Gitte und abends wieder am Strand sitzen. Zwischen uns entstand so etwas wie große Entspanntheit. Nicht der Hauch von Erwartungen, Ansprüchen, kein Kampf um irgendeine Ideologie, kein Beharren auf Meinungen. Wir lebten einfach. Etwas völlig Ungewohntes für mich. So vergaß ich die Namen der Tage, den Kalender, es war mir einfach egal. An einem der folgenden Tage klopfte Gitte an meine Tür und trat sogleich ein.
»Heinrich?«
»Setz dich. Bin gleich bei dir.«
Ich spülte das Geschirr fertig, trocknete die Hände, nahm eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und stellte zwei Gläser auf den Tisch.
»Hier, bitte. Schön kalt und ohne Kohlensäure.«
Sie nahm die Flasche und schenkte uns ein.
»Roland und ich wollen heute Abend rüber auf die andere Seite der Insel und hätten dich gerne dabei. Dort ist das beste Fischrestaurant«, erklärte sie und überlegte kurz, »also es ist kein Restaurant im eigentlichen Sinn. Dahin verirrt sich kaum jemand. Ist ein altes Fischer-Ehepaar, das gerne für Besucher kocht, falls zufällig mal welche auftauchen.«
Da musste ich nicht lange überlegen.
»Sehr gerne. Allerdings unter einer Bedingung.«
Gitte horchte auf.
»Bedingung? Welche?«
»Ich möchte euch einladen.«
Sie lehnte sich zurück und trank einen Schluck.
»Das ist dir wichtig, nicht wahr?«
Ich nickte. »Sehr wichtig.«
»Okay, Heinrich. Wir fahren gegen 18 Uhr los.«

Es war ein Suzuki-Jeep ohne Verdeck und Gittes Fahrstil entsprach nicht den Gegebenheiten der Staubpiste.
»Ich habe gar keinen Führerschein, fahr aber meist doch!«, schrie Roland mir ins Ohr. Er saß auf der Rückbank und versuchte im steten Auf und Ab eine Flasche Bier zu öffnen, versagte aber beständig. Mit der linken Hand hielt ich mich am Überrollbügel fest, mit der rechten am Türgriff, aber das machte Gittes Drang zu Geschwindigkeit und Grenzerfahrung nicht wett. Wir fuhren zuerst ein Stück nach Norden und drehten dann landeinwärts. Aus der Straße wurde ein schmaler Feldweg, der sich die Berge hinaufschlängelte.
»Von Nord nach Süd gibt es hier einen Bergrücken. Höchste Erhebung hat tausend Meter«, erklärte Roland. Gitte jauchzte. Ab und zu entdeckte ich verfallene Gemäuer links und rechts zwischen wellenartigen Erhebungen, dann einen verfallenen Tempel.
»Demeter-Tempel«, rief Roland und kippte aus Versehen eine Ladung Wasser auf sein Batikhemd, als er einen Trinkversuch startete. Ich nickte. Aber mehr aufgrund des Fahrstils und der Löcher im Feldweg. Es ging höher und höher, bis wir eine Art Pass erreichten. Gitte stoppte den Jeep am Wegesrand, zwischen stark zerklüfteten Felsen. Unsere Staubwolke holte uns ein. Roland hustete und wir stiegen aus.
»Ich muss mal«, sagte Gitte und setzte sich vor den Jeep.
»Kein Wunder, bei dem Geschüttel«, grinste Roland. Endlich konnte er seine Bierflasche öffnen. Er trank halb leer und reichte sie mir. Ich vollendete sein Werk. Der Staub verwehte und vor uns breitete sich ein beeindruckendes Panorama aus. Kleine und große Inseln in einem tiefblauen Meer. Im Osten näherte sich die beginnende Nacht.
»Da hinten ist Amorgos, die lange Insel dort«, sagte Roland und deutete ein wenig südlich. »Davor Keros, Koufonisi, links Donousa.«
Gitte stellte sich zu uns.
»Wundervoll. Oder?«
Roland und ich nickten andächtig.
»Kommt. Einsteigen«, forderte sie uns auf, »ich habe Hunger.«
Erst jetzt machte ich einige Schritte nach vorne und blickte hinunter. Was ich sah, gefiel mir ganz und gar nicht. Diese Seite fiel steil ab. Der Schotterweg bestand hauptsächlich aus 180-Grad-Kehren. Serpentinen bis ganz nach unten, in eine schmale Bucht. Zwei Häuser konnte ich erkennen. Mehr gab es dort nicht.
»Da wollen wir runter?«
Roland und Gitte grinsten.
»Das wird ein Spaß«, rief Gitte und startete den Suzuki. Roland setzte sich wieder nach hinten, legte alle losen Gegenstände in den Fußraum, was meine Anspannung nicht milderte. Ich stieg ein und bekam feuchte Hände. Gitte fuhr los. Das Schlimmste waren die Meter zwischen den Kehren, an denen ich hangabwärts saß, meine Türkante aufgrund des Sichtwinkels einige Sekunden über dem Abgrund verweilte und so alle paar Sekunden dem Tod „Guten Tag“ sagte. Gitte grinste und legte sich ins Zeug. Roland juchzte und lachte an einem Stück. Die Augen schließen half nicht. Ich fühlte mich sofort wie in der Achterbahn. Steine knallten gegen das Blech, flogen in weitem Bogen den Hang hinunter. Der Wagen brach in jeder zweiten Kehre fast aus.
»Was los, Heinrich? Du bist ganz weiß im Gesicht. Ist dir schlecht?«, schrie Roland in mein Ohr.
»Geht das nicht noch ein bisschen schneller?«, rief ich zurück.
Gitte sah mich für einen Moment verdutzt an, konzentrierte sich aber wieder rechtzeitig auf die nächste Kehre, um punktgenau am Lenkrad zu reißen. Die Häuser kamen näher und näher. Dann endlich waren wir unten und ich pries die vielen Götter der Antike.
»Das war ein Spaß«, sagte Gitte mehr zu sich selbst. Sie parkte vor dem größeren der beiden Gebäude und hupte kurz.

Sofia und Christos waren seit vierzig Jahren verheiratet und beide sechzig Jahre alt. Einfache Rechnung, dachte ich und kippte einen weiteren Ouzo den Rachen hinunter. Auf dem großen, alten Holztisch standen verschiedenfarbige Oliven, gesalzen, in Knoblauch badend, mit Ziegenkäse gefüllt, Weißbrot, zwei Schälchen Olivenöl zum Tunken, Retsina, Bier, Ouzo und starker Kaffee. Ein Füllhorn an feinsten Sachen. Der Fisch schwamm schon in unseren Mägen, die gegrillten Doraden, der gebackene Thunfisch, mit Salz und Pistazien vermengte Sardellen … lediglich Gräten ließen wir übrig. Ich hob die Hand und stand auf.
»In meinem kurzen dreiundzwanzigjährigen Leben habe ich noch nie besseres Essen bekommen als hier«, erklärte ich und schwankte leicht.
»Du bist ja betrunken, Heinrich«, lachte Gitte.
»Nein«, erwiderte ich mit fester Stimme. »Auf keinen Fall.«
Gitte übersetzte für unsere Gastgeber. Christos schenkte mir nach und Sofia scherzte mit Roland.
»Du kannst Griechisch?«, wunderte ich mich.
»Klar. Bin schon paar Jahre hier.«
Mir kam ein Lob in den Sinn, stattdessen spürte ich ein gewisses Unbehagen in meiner Magengegend. »Ich muss mal an die frische Luft«, gab ich bekannt und stürzte den Ouzo runter. Konzentriert auf jeden Schritt, verließ ich den Raum, stand im Freien und visierte das Meer an. Kein Problem, paar Meter nur, so dachte ich. Ab da breitete sich gnädige Dunkelheit aus.

Kein Traum, nur stilles Erwachen am kühlen Morgen. Die Sonne stieg unaufhaltsam über den Grat der fernen Insel im Osten. Ich lag unter einer Menge Baumwolldecken und neben mir saß Christos und schnarchte. Vor sich im Kies eine lange Angelrute, der Faden weit draußen im spiegelglatten Wasser. Ich drehte den Kopf, so gut es mein völlig steifer Körper zuließ. Der Jeep war weg.
»Kalimera«, raunzte Christos und grinste. Die Enden seines grauen Schnurrbartes bogen sich nach oben. Ich nickte langsam.
»Ich nehme an, das heißt ‚Guten Morgen‘ oder so. Guten Morgen. Good Morning.«
Er zog die Angel aus dem Kies und holte den Faden ein. Aus dem Halbschatten der Pergola lösten sich Sofias Umrisse. In der Hand ein Glas Wasser, kam sie auf mich zu und reichte es mir.
»Danke. Vielen Dank.«
Ohne abzusetzen, kippte ich das kühle Nass runter. Was für eine Wohltat. Die beiden wechselten ein paar knappe Sätze, dann erhob sich Christos und ging schnurstracks auf eine schmale Betonmole zu. Sofia zog mich am T-Shirt, bedeutete mir, ihr zu folgen. So schnell es mein Zustand erlaubte, legte ich die Decken zusammen und wankte ins Haus. Der Ouzo machte mir zu schaffen. Ich hatte das Gefühl, das Glas Wasser verschlimmerte die Situation wieder. Drinnen angekommen, stand Sofia vor dem Tisch mit einem dampfenden Kessel in der Hand, zeigte auf die Holzbank und goss tiefschwarze Brühe in eine weiße Tasse. Es folgten drei Teelöffel Zucker und sicher noch mal die gleiche Menge Zitronensaft aus einer kleinen Schale. Dann grinste sie mich an. Das sollte ich wohl trinken. Langsam ließ ich mich nieder. Mir wurde auf einmal schwindelig. Zögernd musterte ich die Tasse. Es sah aus wie flüssiger Asphalt mit braunem Schaum.
»Drink. Drink!«, forderte sie mich auf. Ich trank. In einem Zug. Es schüttelte mich unwillkürlich durch. Absolut bitter, furchtbar sauer und dann der süße Nachgeschmack; fast wäre es mir hochgekommen. Sofia nickte.
»Good. Good.«
Ich schloss die Augen und hoffte, das Schwindelgefühl vertreiben zu können. Sofia zog erneut an meinem Shirt und ich stand auf. Draußen begann es zu tuckern. Sanft schob sie mich hinaus, Meter um Meter auf die Mole zu. Christof saß in seinem Boot, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und fingerte am Dieselmotor herum. Mir dämmerte, dass der Weg in mein Bett nicht über diesen Berg hinter mir führte, sondern über das Meer. Egal, dachte ich, Hauptsache in mein Bett und kletterte mehr schlecht als recht in das ausgebleichte Holzboot. Christos faltete beide Hände und hob sie symbolisch an seine Schläfe. Schlafen? Ich sah mich um. Ein zusammengefaltetes Fischernetz am Bug.
»Okay«, murmelte ich. Sofia winkte und Christos stieß uns von der Mole ab. Wir nahmen Fahrt auf und drehten Richtung offenes Meer. Die Sonne gewann zusehends an Kraft und die glatte Oberfläche war wie ein verstärkender Spiegel. Misstrauisch sah ich auf das Netz und legte mich oben drauf, den Kopf am Bug. Der Fischgeruch war außergewöhnlich intensiv. Als wir um die Felsenspitze bogen, begann das Boot zu schaukeln, und ich leerte alsbald meinen Mageninhalt in die Ägäis. Christos lachte blökend und zog eine kleine Flasche Ouzo unter dem Pullover hervor.
»Drink«, schlug er vor und hielt mir die Flasche hin. Wieder wurde ich Fischfutter los. Meine Güte. Erschöpft sank ich auf das stinkende Netz und starrte in den Himmel. Christos trank einen Schluck und blickte zur Küste, die keine hundert Meter entfernt an uns vorbei glitt. Dann schlief ich wieder ein.
Ein Tritt gegen meine Schuhe weckte mich. Wir lagen still am Beginn der langen Bucht vor der Ferienhausanlage. Keine zwanzig Meter vom Strand entfernt. Christos bedeutete mir, das Boot zu verlassen. Für einen kurzen Moment stellte ich mir vor, wie er strandete, mich aussteigen ließ und das Boot zurück ins Wasser schob. Er trank sein Fläschchen leer und hielt es mit der Öffnung nach unten. Kein Tropfen kam heraus und ich akzeptierte, ins Wasser zu springen.
»Danke, thank you, Christos«, sagte ich und lächelte ihm zu. Dann schwang ich mich über die Bootskante. Das Wasser war angenehm warm, aber Grund spürte ich keinen. Oh Gott, steh mir bei, flehte ich und stieß mich ab, den Strand im Auge.

*​

Ich schlief den Abend und die Nacht durch und stand am nächsten Morgen früh auf. Lange bevor die Sonne im Osten über den Grat kletterte. Es war kühl, als ich nach einem Apfel und zwei Bananen auf den Platz trat. In der Anmeldung war es noch still. Mein Blick fiel auf den Kalender. Wie lange war ich schon hier? Und wann musste ich packen? Wenn Roland oder Gitte sorgfältig waren, dann war es Montag, der 15. September 1986. Morgen musste ich meine sieben Sachen zusammensuchen, um am Mittwoch die Fähre um 9 Uhr zu bekommen, die mich nach Santorin brachte. Ich presste meine Lippen aufeinander und atmete tief ein und aus. Langsam ging ich zum Strand und überlegte, was ich wohl anstellen müsste, um hier bleiben zu können. In der einzigen Tankstelle auf Naxos als Mechaniker arbeiten?
Schon von der Straße aus erkannte ich Gitte. Sie saß im Schneidersitz auf einer Decke. Pfeifend näherte ich mich ihr, um sie nicht zu erschrecken, aber sie war in irgendeine Trance versunken und reagierte nicht. Also setzte ich mich neben sie und ließ meinen Blick über das Meer schweifen. Im Morgendunst war von der Küstenlinie Paros‘ nichts zu erkennen. Nur die dunkelgrünen Berghänge. Plötzlich nahm ich Bewegungen wahr auf dem Wasser. Nicht wenige Rückenflossen, auf- und abtauchend, wieder und wieder, rasend schnell. Dann sprang etwas aus dem Wasser und tauchte wieder ein.
»Ein Delphin!«, rief ich und hielt mir schnell die Hand vor den Mund. Gitte öffnete die Augen.
»Entschuldigung! Ich wollte dich nicht stören. Ich war nur so überrascht …«, und zeigte auf die sich entfernende Delphingruppe. »Delphine … wunderschön.« Ich spürte einen Kloß im Hals und Tränen traten mir in die Augen. Gitte nahm meine Hand.
»Ich will nicht weg«, platzte es aus mir heraus.
»Geht vielen so«, meinte sie. »Das hier«, ihre Hand beschrieb einen Halbkreis, »ist wie ein Zauber.«
Ich nickte.
»Aber glaub mir«, sie drückte etwas fester, »es dauert nicht mehr lang, und der Zauber ist hin. Dann entdecken sie die Insel. Bauen ihre Bettenburgen, kaufen alles auf, was nicht niet- und nagelfest ist, vergrößern den Hafen für Yachten. Das Geld wird kommen, der Zauber wird sterben.«
Ich legte mich auf den Rücken. Gitte sah mich an.
»Gehen wir schwimmen?«, fragte sie und zog etwas an meiner Hand.
»Ich habe Angst vor Wasser«, gab ich zu.
»Und dann traust du dich auf eine Fähre?« Sie lachte. »Warum hast du Angst vor Wasser?«, setzte sie nach.
»Unschöne Erinnerungen.«
Sie schwieg für einen Moment.
»Ich bin dabei. Du musst keine Angst haben. Komm.«
Sie stand auf, zog sich aus und ging bis zur Linie, an der die Wellen sanft ausliefen. So wie sie da stand, das in allen Blautönen schimmernde Meer zu ihren Füßen, die aufgehende Sonne hinter sich, völlig nackt, musste ich an das denken, was ich vor dem Urlaub über Naxos gelesen hatte. Als Theseus nach seinem Sieg über den Minotaurus auf Kreta an diesen Gestaden die kretische Königstochter Ariadne zurückließ.
»Ich komme, Ariadne«, flüsterte ich und zog meine Klamotten aus. Ariadne überwand die Grenze und schritt ins Meer. Ich folgte ihr.

Eine lange Zeit später lagen wir im Sand.
»Du schwimmst wie ein Fisch«, sagte sie und hielt ihre Finger gegen den Himmel gespreizt. »Das kann niemand, der Angst hat vor dem Wasser.«
»Ich schwimme nur in Frei- oder Hallenbädern. Aber selbst da habe ich Angst vor der Tiefe und muss mich überwinden. Aber bei Wettkämpfen kann ich es wegdrücken.«
»Wettkämpfe?« Sie stützte sich auf die Ellenbogen.
»Ich schwimme in Wettkämpfen. Vereinsmannschaft.«
»Was denn so?«
»100 Meter Kraul, 200 Meter Rücken. Vier Mal 100-Meter-Staffel«
Sie sank zurück und gab einen Pfiff von sich. »Deswegen konnte ich dir nicht folgen.«
Wir schwiegen. Ein paar Möwen zogen ihre Bahnen über uns.
»Heinrich?«
»Hm?«
»Heute Abend ist Party. Links auf der kleinen Landzunge, in den Gebäuden. Das ist die alte Fischfabrik. Ich hoffe, du kommst.«
Ich drehte mich ihr zu. Ihre Nacktheit fiel mir gar nicht mehr auf, ebenso wenig meine. Offenbar war ich auf einem anderen Planeten, mit anderen Menschen.
»Wer macht die Party?«
»Der Holländer. Einmal im Jahr. Und seine Jungs.«
Ich horchte auf.
»Seine Jungs?«
Gitte sah mich an und grinste.
»Darf ich dich was fragen, Gitte?«
»Alles«, sagte sie.
»Ich habe das Essen nicht bezahlt. Was hat es gekostet?«
»Nichts, Heinrich. Wir zahlen nie etwas. Roland fährt einmal im Monat Sofia zum Doktor nach Naxos und zurück. Sie hat Krebs und bekommt dort Medikamente.«
Ich sank zurück in den Sand. Die Insel machte etwas mit mir. Schon wieder kamen mir die Tränen.

*​

Der Holländer und seine Jungs hatten alles von einer Zirkustruppe. Einer bunter als der nächste. Teils wesentlich älter als ich, sicher zwischen vierzig und fünfzig. Bärte, Kopftücher, tätowiert. Woodstock, dachte ich und half beim Entladen des Materials. Dieselgenerator, genug Kanister, Marshall-Boxen, eine Yamaha-Anlage mit zwei Plattenspielern, kistenweise Heineken, Kartons gefüllt mit Jim Beam, Cola, Kühlboxen voller Schnitzel und Rippchen.
»Wahnsinn«, sagte ich im Vorbeigehen zu Gitte und Roland, die an der Verkabelung arbeiteten. Der Holländer, Smit, wurde er gerufen, gab endlos Anweisungen, rannte von hier nach dort, prüfte den Klang, rückte den Grill zurecht, und über allem waberte eine Wolke aus süßen und leicht bitteren Düften. Wir verwandelten die verfallenen Räume in eine Diskothek mit Kantine. Kurz vor Sonnenuntergang näherte sich „Leonidas Padopoulos - Maschinen + einzige Tankstelle auf Naxos“ mit einem VW-Bus samt Anhänger, auf dem Tische und Bänke lagen. Er stieg aus, sah mich und winkte.
»He! Wehrmacht! Wie geht’s?«, rief er und lachte. Dann gab er Anweisungen, wir entluden alles und stellten die einzelnen Räume voll. In die Düfte aus Gras mischte sich die rauchende Holzkohle. Der Holländer stellte sich auf einen Tisch und hob die Hand. Von Osten näherte sich die anthrazitfarbene Nacht. Alle wurden still und lauschten.
»Jeder gibt, was er kann«, kam Smits Anweisung. Roland angelte ein paar Scheine aus seiner Tasche, wie alle anderen. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und schüttelte den Kopf. Gitte zog Roland einen Schritt zurück und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ich trat an den Tisch und packte einen Hunderter auf den Geldhaufen. Eine enorme Menge Geld kam zusammen. Mark, Drachmen, Dollar, Pfund. Smit hob erneut seinen Arm.
»Heute ist es wieder so weit. Wir feiern, dass wir leben. Hier, auf dieser wunderschönen Insel. Mit unseren griechischen Freunden«, er verbeugte sich, »denen unser besonderer Dank gilt. Denn sie haben uns aufgenommen. Wir lernen von ihnen. Sie lernen von uns. So ist das Leben.«
Er sah sich um.
»Mögen die Spiele beginnen!«, rief er und sprang vom Tisch. Alle jubelten, köpften Flaschen, gossen sich Jim Beam in die Cola oder umgekehrt. Smit stellte sich an den Grill und legte Fleisch auf. Roland trat seinen Job als Musikchef an und legte die erste Platte auf.

Die Unmengen Fleisch verdampften wie nichts in den Mägen dieser illustren Truppe. Ebenso der Alkohol. Ich war satt und nippte an meiner Cola. Gitte setzte sich gegenüber auf die Bank, ein Glas Rosé in der Hand.
»Heute keinen Alkohol, Heinrich?«
»Nein. Lieber nicht. Ist irgendwie ein besonderer Abend. Ich will mich erinnern können.«
Sie lächelte, trank einen Schluck und nickte mit dem Kopf zum Nachbartisch.
»Schau mal. Das sind Smits Jungs. Komm, wir gesellen uns zu ihnen.«
Ich zögerte. Zwei davon sprachen breites amerikanisches Englisch und der Dritte einen grausigen englischen Dialekt.
»Du bist ein scheuer Kerl. Aber die beißen nicht.«
Gitte stand auf und wechselte den Tisch. Sie klopfte einem der älteren Bartträger auf den Rücken und nahm zwischen den Männern Platz. Es machte den Eindruck, als kenne hier wirklich jeder jeden oder jede. Um sie nicht zu enttäuschen, tat ich es ihr nach und setzte mich auf den letzten freien Platz.
»Hi«, murmelte ich und nickte in die Runde. Sie ließen sich nicht stören und diskutierten munter weiter. Gitte lachte herzlich. Vielleicht über meinen Gesichtsausdruck. Ein junger Hüpfer zwischen gestandenen Kerlen, oder etwas ähnliches. Ich trank aus Verlegenheit mein Glas halbleer. Roland legte nach wie vor die Platten auf den Teller, aber bisher spielte er lediglich aktuelle Songs. Depeche Mode, Duran Duran, Kershaw oder Annie Lennox. Für einen geselligen Abend ganz in Ordnung. Selbst die Lautstärke war gesprächsfreundlich.
Die Amerikaner trugen zerschlissene Armeejacken. Auf einer Schulter prangte ein ausgeblichenes Emblem, eine rote Eins auf blauem Grund. „Guadalcanal“ stand drauf. Beide waren stark tätowiert. Totenschädel, Blitze, Uncle Sam’s hurting you, Go fuck yourself und andere Sprüche. Und Born in Khe Sanh.

Dann wurde es kurz still. Die Musik setzte aus. Roland zündete sich einen dicken Joint an, wechselte die Platte und senkte den Tonarm ab. Durch die ausgestoßene Wolke Gras fixierte er mich. Die ersten Klänge von Paint It Black verursachten Erschütterungen in den drei Männern, leichte Beben aus ihrem Inneren trafen mich. Es war förmlich zu sehen, zu spüren. Wie sie sich versteiften, in eine andere Welt wechselten. Urplötzlich wurden sie still und sahen sich an, griffen ihre Gläser und tranken leer. Der mit der roten Eins schenkte nach. Jim Beam mit einem Hauch Cola. Es war totenstill am Tisch. Ich wurde unruhig, aber Gitte fasste meine Hand und ich beruhigte mich wieder, davon überzeugt, dass sie Ariadne ist, ein mindestens zweieinhalbtausendjähriges Leben hinter sich. Ein Füllhorn an Weisheit in sich tragend.
»Das ist William«, sagte sie plötzlich und deutete auf den Kerl mit der roten Eins, dann auf den zweiten Amerikaner. »Und das ist Bobby. Der Dritte im Bunde ist Lawrence von Australien
Lawrence von Austral … ja, ich verstand die Anspielung. Alle drei nickten.
»Das ist Henry aus Deutschland«, stellte sie mich vor. Wir gaben uns die Hand. Gimme Shelter folgte auf dem Plattenteller. Williams Augen wurden feucht und Bobby nahm ihn in seine Arme.
»Was ist passiert?«, murmelte ich zu Gitte gewandt.
»Frag sie. Sie werden dir dankbar sein.«
Konnte ich das einfach so? Dann ging mir ein Licht auf. Ich zählte Eins und Eins zusammen. Ihr Alter, die Jacken, das Emblem, die Tattoos …
»Ihr wart in Vietnam?«, fragte ich zögerlich.
Bobby nickte und Gitte drückte meine Hand fest.

Sie erzählten mir eine Plattenlänge lang, was ihr bisheriger Lebenslauf war, seitdem die Armee sie ausgemustert hatte. Es entsprach dem, was Bob Dylan mit Like A Rolling Stone ausdrückte. An keinem Ort länger als nötig, immer unterwegs, keine Heimat. Bobby und Lawrence schütteten den Jim Beam wie von Sinnen in sich hinein. Ihre Köpfe legten sich nach kurzer Zeit wie nasses Laub auf den Tisch. Gitte nahm beiden die Flaschen weg und deckte sie mit einer Decke zu.
»Sorry, William, ich muss mal pissen«, sagte ich und stand auf.
Er nickte. »Ich komme mit. Muss auch mal was loswerden.«
Es war kühl geworden. Die Stimmen verschwanden hinter uns. Lediglich die Musik war gut zu hören. William und ich standen auf einer kleinen Erhebung in den Dünen und entleerten unsere Blasen. Danach gingen wir ein paar Meter Richtung Wasser, setzten uns in den Sand und starrten in die Dunkelheit. Schon wieder ein unbekannter Mensch neben mir und ich fühlte eine tiefe Verbundenheit. Nicht genug, dass ich an dieser Erkenntnis schwer zu tragen hatte, gesellte sich noch Gitte zu uns.
»Der Sommer ist vorbei«, sagte sie in die Stille hinein. Roland tauchte auf und nahm Platz. »Tapedeck angemacht. Ich mach Pause«, erklärte er kurz. Jim Morrison schickte uns seine Poesie auf die Düne. End Of The Night.
»William?«
Im fahlen Licht sah ich, wie er einen Joint drehte.
»Hm?«
»Was bedeutet ‚Born in Khe Sanh‘?«
William schaute her. Mit dem Zippo zündete er die Tüte an. Ein tiefer Zug brachte die Spitze zum Glimmen und ich entdeckte Tränen auf seinen bärtigen Wangen. Seltsam, dass ausgerechnet jetzt 'Light my Fire' beginnt, dachte ich.
»Khe Sanh war meine zweite Geburt. Ein Kaff in der Quang Tri-Provinz, direkt an der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südvietnam. Ich weiß bis heute noch nicht, warum sie uns da hin schickten.«
Der Joint glomm hell, dann reichte er ihn mir. Ich zog kräftig und gab ihn Gitte.
»Fast drei Monate belegten uns die Gooks mit Artilleriefeuer. Stunde um Stunde. Tag für Tag.« William schwieg für einen Moment. »Einige von uns schrien die Nächte durch, im Schlaf oder wollten gar nicht mehr schlafen. Andere lachten bis zur Bewusstlosigkeit, kifften sich das Hirn matschig, drückten sich Heroin in den Hals, damit es aufhörte … andere wurden neu geboren. So wie ich.«
»Wie?«, hakte ich nach.
»Ich laufe nur noch hier rum. Aber ich bin nicht mehr hier. Ich lebe jetzt woanders. Mein Leben ist woanders.«
William schniefte. Dann stand er auf und stolperte hinunter ans Wasser. Ich wollte hinterher gehen, aber Gitte hielt mich zurück. Drückte mir den Joint in die Hand.
»Lass ihn einfach gehen. Er ist so. So sind sie alle drei.«
Ich legte mich auf den Rücken und schaute zu den Sternen. Gitte und Roland taten es mir nach. Dunst verhinderte einen klaren Blick auf den Lichterglanz der Milchstraße.
»Übermorgen wird es vielleicht Regen geben«, meinte Roland.
»Übermorgen werde ich schon wieder daheim sein«, murmelte ich.
»Willst du immer noch hier bleiben, Heinrich?«, wollte Gitte wissen.
»Mehr denn je.«
Jim Morrison setzte an zu When The Music’s Over. Jemand rülpste derb.

 

Hola @Morphin,

Dein Text hat mir gut gefallen. Okay, es werden reichlich Tüten gebaut, es wird ein bisschen gekifft. Zum Ende hin wird noch mehr gekifft – alles zusammen nicht wenig.

Dass sich die Vietnam-Veteranen wegdröhnen, liegt auf der Hand. Das ist tragisch. Strandgut. Lebensecht. Dass Holländer geschäftstüchtig sind, trifft auch zu. Und dass Aussteiger Deiner Beschreibung entsprechen, bestätigt sich ebenfalls sehr oft.

Wegen des Titels (sehr gelungen!) war ich auf eine Geschichte eingestellt, die von der Ereignislosigkeit und Einförmigkeit des Insellebens erzählt. Erst herbeigeträumt, dann erlitten.

Die Party kommt da wie gerufen, und Du hast einen klasse Kontrast kreiert: Abgewrackte Krieger in Elendsvierteln sind schon schlimm, doch auf einer Trauminsel eine Tragödie. Der Irrsinn eines Krieges findet seine Fortsetzung im Leben der Kombattanten.
Dein Text löst einige Gedanken aus. Mich freut das sehr – nur vom Inselglück zu lesen, wäre doch sehr mager.

Mein Komm wird nicht sehr lang, ich habe nichts zu zitieren, nichts zu meckern, keine Anmerkungen oder gar Verbesserungsvorschläge, was aber nicht verwundert: Du kannst eben schreiben, Mann!
So schnell, wie Du die Sachen rausschießt, kann man allerdings bei dieser Qualität nicht schreiben. Ich vermute, Du hast während Deiner Forums-Abstinenz – von uns unbemerkt – lustig weitergeschrieben und lässt uns nun teilhaftig werden an Deinen (an)gesammelten Werken.
Mir ist das gerade recht!
Sehr gerne gelesen, mein Lieber – eine Geschichte mit Tiefgang.

Schöne Grüße!
José

PS:

Aus der Straße wurde ein schmaler Feldweg, …
Gitte stoppte den Jeep am Straßenrand, …
Wo kommt die Straße (mit Rand) her?

 

Hey @Morphin,

ich habe mir vor ein paar Tagen erst Teil eins von Alpha O`Dromas Reisebüchern beendet. Überhaupt lese ich seit Corona viel mehr Reiseliteratur und Wanderberichte. So als Ersatz für das ewige Stubenhocken vielleicht, weiß nicht, mein Bedarf an dieser Art von Büchern war vor einem Jahr jedenfalls sehr viel geringer. Warum erzähle ich das? Weil mich deine Geschichte auch auf ganz wunderbare Art aus dem Wintergrau (in Berlin ist nix weiß) und der Stube herausgeholt hat und dafür bin ich Dir sehr dankbar, ich war gern mit Dir auf der Insel.
Was mir auch an diesem Text auffällt, wie viel Zeit Du Dir nimmst, das hat ja schon einen Erzählcharakter wie man ihn eher in Romanen antrifft und wie angenehm ich das finde, gerade weil ich z.Z. recht viele Kurzgeschichten lese, nicht nur hier im Forum.

Ja, ein Paradies. Und wenn man es erst einmal entdeckt, ist das mit dem Abreisen nicht mehr so einfach. Über eine lange Strecke habe ich mich gefragt, wohin Du mit dem Text willst, sicher keine reine Reiseschilderung, war ja immer alles schön - wobei ich es auch wirklich schön gemacht fand, wie man ihm da beim "Entspannen" praktisch zuschauen kann. Wie all der Alltag und die Welt da mit dem Sonnenuntergang ins Meer hinabsinkt und Platz macht, um das Schöne hereinzulassen. Wie z.B. auch Scham abfällt. Wie solche Flecken und Menschen auf einen wirken. Zeit ist dabei ein großer Faktor. Man hat endlos Zeit und keinen Druck. Na gut, habe ich auch gerade und fühle mich nicht wirklich wie im Urlaub :). Aber ja, es entspannt halt unglaublich. Und normalerweise hat man das ja nur im Urlaub, sofern man es zulässt und nicht einen Touriplan abarbeiten muss. Dieses sich Treiben lassen, da muss man ja erst mal hinkommen, da muss dem Duracell-Häschen erst mal die Batterie ausgehen. Tja, und dann ist man soweit und bei zehn tagen heißt das ja auch praktisch im selben Moment wieder die Taschen packen. Da kann man wirklich das Heulen bekommen. Aber zurück zum Text.
Ich empfand das Auftauchen der drei Amis tatsächlich wie einen Fremdkörper. Sowohl im Text, als auch im übetragenden Sinn. Und wenn die Insel (das Paradies) deinen Prot. von seinen Wohlstandssorgen befreien kann, für die Kriegsvetranen kann sie es viel weniger leisten, wenn überhaupt. Keine Ahnung, ob Menschen mit derart traumatischen Erfahrungen je wieder zur Ruhe kommen können.

Tja, ich hatte mir drei Stellen makiert, dann aber die Seite kurz verlassen und damit hab ich natürlich auch die Zitate verloren. Ich erinnere mich nur noch an eine Stelle. Als sich Roland im Auto ein Bier aufmachen will und es mißlingt. Kurz darauf schüttet er sich Wasser aufs Hemd, und ich denk so - Hä? Wasser? Muss das nicht Bier sein? Aber erst paar Zeilen später bekommt er die Büchse überhaupt auf. Da war ich ganz kurz raus, obwohl mir klar ist, dass er zwischenzeitlich ne Wasserflasche in die Hand genommen haben kann.

Sehr gern gelesen. Feiner Text, der in der jetzigen Zeit noch mal eine ganz andere Note bekommt, wo man im 15 km Radius lebt.

Beste Grüße, Fliege

 

Salut @josefelipe,

ich danke dir fürs Lesen und Kommentieren.

Ich vermute, Du hast während Deiner Forums-Abstinenz – von uns unbemerkt – lustig weitergeschrieben und lässt uns nun teilhaftig werden an Deinen (an)gesammelten Werken
Da bleibt mir nichts, als dich zu enttäuschen. Die seit meinem Auftauchen aus der Versenkung hier einsehbaren Texte sind alle frisch aus der Tastatur. "Straßenrand" hab ich zu "Wegesrand" geändert. Und ja, das spuckt mir seit langem im Kopf herum, die Wegkreuzungen, an denen mir Vietnam-Soldaten begegneten. Da gab es schon ein paar. Und ich dachte, ich muss das jetzt mal aufschreiben, OHNE wahnsinnige Detailtiefe. Dahinter steht für mich der Krieg als solches. Offenbar holt er dich überall ein. Das kann man aus diversen Gründen ignorieren, mir gelingt das nicht. Bisher habe ich noch keinen Menschen getroffen, der psychisch unbeschadet von Krieg berichtete. Ich freue mich, wenn ich dich gut unterhalten habe und Gedanken hängen geblieben sind. Danke.

Kalimera @Fliege,
ein sonniges Dankeschön fürs Lesen und den erzählenden Kommentar. Obwohl es schon so lange her ist, kann ich mich noch immer an dieses Gefühl erinnern, an den Sound der Doors, diese verlorenen Männer, die Stille der Nacht unter einem magischen Milchstraßenhimmel. Meine Hilflosigkeit. Meine tiefe Verbundenheit mit diesen Gestaden, als erinnerte ich mich an ein Leben zwischen Weisheit und Frieden tausende Jahre zuvor. Naxos ist heute nicht mehr das, was es damals war. Wie die meisten der Kykladen-Inseln. Wie wohl fast überall. Der Mensch ist in dieses Universum eingedrungen, laut, betonierend, geichmachend ... deswegen würde ich auch nie mehr dort hin fahren, um dieses Bild nicht zu zerstören. Und wie ich Josef schon schrieb, war ein Ziel auch der Krieg, der damals gerade 11 Jahre vorüber war und der mich als Kind und Jugendlicher begleitete, dessen Gesicht meist Peter Scholl-Latour war.
Wenn ich ein wenig deinen Alltag durchbrechen konnte, freut mich das.

Alles Gute ihr Beiden und gesund bleiben.
Morphin

PS: Das Sehenswerteste was ich bisher zu Vietnam gesehen habe ist die Doku von Ken Burns auf Arte. Absolute Empfehlung.

 
Zuletzt bearbeitet:

Naxos ist heute nicht mehr das, was es damals war. Wie die meisten der Kykladen-Inseln. Wie wohl fast überall.

Eben, kein lokales, sondern ein globales Problem. Und nach Dürre, Überschwemmung oder Heuschrecken gibt es neuerdings auch die Influenzerplage. Für so manchen schönen Ort gilt eine neue Zeitrechnungseinheit: vor Instergram und nach Instergram. Auch ein schönes Thema :xxlmad:

 

Hallo @Morphin !

Ich habe deine Geschichte heute Vormittag gelesen und sie hat mir einfach nur richtig gut gefallen. Sonst nix.

Und ich hoffe, dass mir das einmal durchgeht :)

Liebe Grüße vom Lotterlieschen

 

Heyho Morphin,

Glückwunsch zu einer melodischen, gefühlvollen und auch humorvollen Erzählung, die mich erheitert und unterhalten hat...gute Dialoge....viel Lokalkolorit...einige Szenen, wie z.B. die Jeepfahrt oder der Einstieg sind einfach nur geil.....

für mich lag die Spannung des Textes in der Frage, ob zwischen dem Prot. und Gitte noch was laufen wird...das hast du gekonnt bis zum Ende hinausgezögert und auch wenn deine lüsternen Leser im Endeffekt enttäuscht werden - man hätte dem jungen Mann ein Abenteuer gegönnt - aber "alles kann - nichts muss". Das Hippie-Ambiente hast du echt schön beschrieben...

Ich finde die Klappe (schwärzestes Kapitel der deutschen und der amerikanischen Geschichte) auch ganz gelungen.

Gut auch, dass du mit der Vergänglichkeit dieses Mittelmeer-Paradieses ein Thema angesprochen hast, das jeder, der schon einmal rumgereist ist, kennt --....ein toller abgelegener Ort, der durch seine wachsende Beliebtheit an Reiz verliert........ich musste da z.B. an Goa/Arambol vor 20 Jahren denken....

ich könnte noch minimal rummäkeln....aber mir ist gerade nicht danach...

also, großes Lob und weiter so...

N

 

Hallo @Morphin
Ich habe auch auf deiner Insel vorbeigeschaut. Ein Ort zum hin träumen. Menschen, die man mag und ein Gefühl, das man festhalten möchte.
Dann kommt diese Jeepfahrt und ich fühlte mich an die Motorradfahrten mit meinem Mann erinnert, die Serpentinen, wenn es die Berge hinunter ging und ich den Abgrund sah. Konnte die Angst von Heinrich mitfühlen.
Die drei Viertnamveterane auf der Trauminsel und mein Urlaub ist zu Ende.
Ich hoffe aber sehr, dass die drei auf dieser Insel bleiben dürfen.

Es war sehr schön für mich, deine Geschichte zu lesen, danke fürs Mitnehmen.

Lieber Gruß CoK

 

Hallo Morphin,

eine sehr intensive Reise, die du uns hier präsentierst. Eine Geschichte voller Sehnsucht, Wehmut und der Suche nach dem Leben, wie du es im Titel andeutest.
Obwohl sich dein Protagonist die ganze Zeit über nur treiben lässt, hat sich in mir beim Lesen ein Gefühl großer Spannung aufgebaut.
Das fluffte alles so sanft vor sich hin, noch eine Tüte, noch ein Bier, noch ein Nickerchen, dass ich unweigerlich auf das böse Erwachen wartete. Irgendetwas, was das Paradies als trügerische Illusion entlarvt. So the Beach-mäßig.
Dass sich doch irgendwelche Freunde als doppelbödig enttarnen, dass da was mit der Gitte läuft und dadurch die Harmonie gesprengt wird ...
Das passiert in deinem text nicht, es bleibt eine Geschichte der leisen Töne und das gefällt mir auch gut so. Sie funktioniert, ohne auf den großen Bang zu setzen. Der Film läuft im Kopf des Lesers. Das Sehnen nach der unterträglichen Leichtigkeit des Seins. Der scheinbar nie wieder erreichbaren.
Wirklich gut geschrieben, wie alle deine texte. Routiniert ohne jemals gleichförmig zu wirken.
Hallt in mir nach.

grüßlichst
weltenläufer

 

Guten Morgen @Lotterlieschen,
warum sollte dir das nicht durchgehen? Ist ja keine philosophische Abhandlung, was du gelesen hast. Ja, es ist ein Teil einer wichtigen Erinnerung, es hat was mit mir gemacht, damals; ich bin dankbar für diese 10 Tage ... aber auf der anderen Seite ist es auch Unterhaltung(sliteratur). Ich halte sie selbst für nicht wirklich anspruchsvoll. Sie hat dich unterhalten. Es hat dir gefallen. Was will man mehr? Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Hola @Nicolaijewitsch,
auch für dich meinen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich war selbst überrascht von mir. Ich habe nirgends die Körper der Menschen beschrieben. Fiel mir erst im Nachhinein auf. Warum? Ich glaube, weil mir die Erinnerungen heilig sind. So wie damals die temporären Beziehungen zu diesen Menschen. Sie waren vielleicht Heilige. Oder aus dem Olymp Verstoßene. Ich akzeptierte sie als das, was sie sind. Menschen. Und die Veteranen ... das war mir sehr wichtig. Aber dazu entsteht grad eine weitere Geschichte. Dieses Vietnam ließ mich in all den Jahren damals nicht los. Dem muss ich noch auf den Grund gehen.
Bis bald.

Salü @CoK,
vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren an dich. Die Drei waren Wanderer. Sie blieben einige Wochen auf dieser Insel, jobbten und zogen dann weiter zum nächsten temporären Hafen. Die Arbeitserlaubnis konnte man - damals zumindest - nach Ablauf mit ein paar Dollar "verlängern". Ja, ich hätte noch ewig weitererzählen können; was ich früher sicher getan hätte, aber am Ende ist es eine "kurze Geschichte" aus irgendeinem Leben in irgendeiner Zeit an irgendeinem Ort. Freut mich, wenn es dir gefallen hat.

Hi @weltenläufer,
dein Avatar-Bild gefällt mir gut. Du hast recht. Ich habe mich treiben lassen. Die Insel hat etwas mit mir gemacht. Und das Gute: es ist nie wieder ganz verschwunden. Ja, wie so oft im Leben, passiert eigentlich gar nichts. Außerhalb. Aber es passiert viel innerhalb. Oder dazwischen. Zwischen den Menschen. Blicke. Verstehen. Nachfühlen. Das ist für mich der eigentliche Sinn des Menschseins. Neben aller Gewalt (Asteroiden kommen, Supernovae, Radioburst, Atomkrieg, Metzeleien) können wir Menschen tief in Erkenntnis abtauchen - auch im anderen. Das ist unglaublich. Faszinierend.
Ich danke dir fürs Lesen und den Kommentar.

Für alle nun ein schönes Wochenende und gesund bleiben.
Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Morphin,

ich mochte dieses hippieeske Mittelmeergefühl, hab das Gras gerochen und das Blau gesehen, von oben, von unten, Südeuropa ist halt schon geile Ecke. Teils fand ich's verträumt, teils so Alltags-spannend (die Autofahrt), vieles zum Wiedererkennen dabei. Ich empfand den Prot auch als ganz angenehm vor sich hinlebend, nicht auf der Suche nach dem Sinn oder so, was sich als Gefühl auf den Rest der Geschichte überträgt. Oh, und meine Lieblingsstelle ist meine Lieblingsstelle, weil ich sie sauwitzig fand, dazu gleich.

Die Vietnam-Nummer habe ich erst nicht so ganz untergekriegt. Ich bin drei Jahre nach Ende geboren, Vietnam ist für mich ein popkulturelles Phänomen, nach wie vor, obwohl ich mal da rumgereist bin, die Fiktion ist stärker als die Realität in meinem Kopf. Also: Ich weiß, dass das ein Krieg war und kein Spaß, Agent Orange, Mỹ Lai, ich bin ja nicht blöd. Aber ich hab davon Zeitpunkt-der-Geburt-bedingt nie in den Nachrichten gehört, dafür satt und sonders im Film. Und selbst die halbwegs ernst gemeinten Versuche, sich dem Thema zu nähern - zufällig habe ich nun gerade letzte Woche wieder Platoon in den Player geschoben - sind für mich gefühlt immer von so etwas erfüllt, das ich mal naive Vietnam-Romantik nenne (der einzige Film, der da für mich ausbricht, ist Full Metal Jacket). Verbunden insbesondere mit der Musik dieser Ära. Ganz überspitzt jetzt: Wenn ich zweimal am Joint gezogen habe und dann All Along the Watchtower in der Version von Jimi Hendrix höre, da könnte ich schon denken, jetzt mit M16 auf dem Schoß im Landeanflug, das wär 'ne feine Sache.

Worauf ich hinauswill, ist, mir schienen deine Veteranen beim ersten Lesen etwas zu Vietnam-romantisch. Da läuft Paint It Black und sie gucken finster, sie wurden wiedergeboren an diesen aufregend fremd und exotisch klingenden Orten. Du willst das ja nicht, du fügst ja auch das hier ein:

»Einige von uns schrien die Nächte durch, im Schlaf oder wollten gar nicht mehr schlafen. Andere lachten bis zur Bewusstlosigkeit, kifften sich das Hirn matschig, drückten sich Heroin in den Hals, damit es aufhörte …
Für mich könnte die Story hier gewinnen, wenn es konkreter wird, die Geschichte eines Freundes und seiner in Vietnam abgeholten Heroinsucht etwa. Noch besser fänd ich: Raus aus der reinen Opferrolle. Die Dämonen, die dir folgen, nicht nur wegen der Sachen, die dir getan wurden, sondern auch wegen der Sachen, die du getan hast.

Das ist für mich beim zweiten Lesen auch so der Punkt dieser GIs gewesen (beim ersten wollte ich vorschlagen, sie einfach wegzulassen), also ihr Punkt als Element in der Story, das Gegengewicht, das andere Ende. Wie der Prot ist da einer ausgezogen, aber der eine hat was über das Leben gelernt - essen, trinken, tanzen, Sex - und der andere hat was über das Sterben gelernt. Und das Töten. Yeah. Klingt wie die Tagline eines Actionfilms. Gucke ich manchmal ganz gerne und die Geschichte mochte ich auch.

Die geteerten Straßen endeten an der Stadtgrenze von Naxos, der gleichnamigen Hauptstadt der Insel
Die Erklärung zu Naxos klingt wie ein Reisebericht, aber eher Zeitung oder Blog und nicht so sehr wie der Erzähler in einer Geschichte.

Roland sog den Joint förmlich in sich auf. War es ein durchgehender Zug
Manches scheint mir von der Wortwahl nicht so richtig reinzupassen, klingt so theatralisch.

schönem Waschbecken.
Schön? Da du ja lange genug am Start bist, habe ich mich gefragt, ob das irgendwie Absicht ist.

mit dem wahrlich schweren Bastkorb.
Für mich auch so ein Ding wie den Joint "förmlich aufsaugen".

Und meine Güte, das war wirklich ein Prachtstück von Strand.
Ähnlich wie das schöne Waschbecken. Auch wenn es sich um einen Erzähler handelt, der kein Autor ist. Der übrigens für einen Anfangszwanziger teils recht genaue Kenntnisse der griechischen Mythologie beweist.

Die zwei Turteltäubchen
Das Wort habe ich außerhalb von Filmen noch nie jemanden benutzen hören.

Scheiße, dachte ich, das waren keine Touristenkekse.
Ich würde Punkt nach "ich" machen, aber auch ohne ist das meine Lieblingsstelle. Das mag nicht der originellste Witz unter der Sonne sein, aber der ist einfach super platziert, ich musste echt grinsen. Deshalb würde ich Folgendes streichen:

Ich träumte farbenfrohe Welten, gehüllt in bunte Tücher, mit nackten Frauen als Bewohnerinnen.
Da wird für meinen Geschmack der Witz erklärt.

und goss eine tiefschwarze Brühe in eine weiße Tasse.
Das erste "eine" könnte raus.

Paros‘
Apostroph andersrum.

Als Theseus nach seinem Sieg über den Minotaurus auf Kreta an diesen Gestaden die kretische Königstochter Ariadne zurückließ.
Jo, sowas meinte ich. Nicht, dass der das nicht kennen darf, mir haben diese Namen mit Anfang zwanzig auch durchaus was gesagt (aus'm Film), aber auch, wie das formuliert ist, irgendwie bekomme ich das nicht mit der Stimme des Prots überein.

Beim Einfügen meines Kommentars nochmal den Titel gesehen. Sehr geil.

War is over, if you want it.

Love
JC

 

Salü @Proof,

sonntäglichen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Es ist in der Tat erzählte Realität. Zu Vietnam habe ich ein spezielles Verhältnis, aber dazu wird es noch eine Geschichte geben. Jedenfalls hat es mich mehr als intensiv beschäftigt. Ein Familienmitglied war dort als Soldat, und seine Geschichten dazu muss ich noch auf Papier bringen. Aber klar, ist man später geboren, hört man davon, sieht Filme, aber gehörte Erzählungen machen es einfach plastischer.

Und du hast noch nie "Turteltäubchen" gehört. Verwende ich recht oft. Meine Frau auch. Das war und ist ein gut benutztes Wort in meinem bisherigen Leben.

Hab ein paar Sachen geändert, gekürzt. Das mit den Griechenkenntnissen kam bei mir recht früh. Das lag einfach daran, dass mein Russland-Opa mich zugeschüttet hat mit Büchern. An jedem erdenklichen Feiertag, und das schon in jungen Jahren. Dazu gehörten all die Dramen aus der Antike.

Vielleicht war das ja sogar die Verbindung zu diesen Gestaden. Wer weiß ...

Ich wünsche eine angenehme Woche.
Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin nochmal


dein Avatar-Bild gefällt mir gut
Lieben Dank. In dem Jahr meiner Inaktivität hier habe ich immerhin Zeit gefunden zu zeichnen. Es ist anders als schreiben, aber man kann auch hier wunderbar Dinge herauslassen, erzählen, illustrieren.
Ja, wie so oft im Leben, passiert eigentlich gar nichts. Außerhalb. Aber es passiert viel innerhalb. Oder dazwischen. Zwischen den Menschen. Blicke. Verstehen. Nachfühlen. Das ist für mich der eigentliche Sinn des Menschseins.
So sehe ich das auch. Obwohl im Außen sehr viel bei mir passiert (ist), sind die innerlichen Prozesse die wesentlichen. Letztlich ist es nie die Situation, die uns verändert, sondern das, was wir aus ihr machen.

können wir Menschen tief in Erkenntnis abtauchen - auch im anderen. Das ist unglaublich. Faszinierend.
ja, beinahe unglaublich. Wie viel leichter wäre das Leben, wenn es Konsens wäre, genau das zu glauben, anstatt sich von den ewigen Zweifeln leiten zu lassen.
Wie gesagt, deine Geschichte hallt nach. Wenn du diesen Ort noch in dir trägst, dann kannst du dich glücklich schätzen. Es ist gut, solche Orte von Zeit zu Zeit (zu) besuchen (zu können), und sei es eben nur innerlich, abgespeichert, als Konserve.

Danke fürs zeigen und mitnehmen
Grüßlichst
Weltenläufer

 

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