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Das Träumelein
Das Träumelein glitt eilig durch den Wald. Bald hatte sie den Waldrand erreicht und würde dann endlich zu Tom gelangen, der eingeschlafen war. Es war ihr erstes Mal, dass sie zu einem Menschen durfte, um ihn Träumen zu lassen.
Träumelein war ein guter Traum. Sie hatte sich schon einiges Schönes ausgedacht und freute sich auf den Jungen. Sie wusste, wenn sie nur eindringlich auf ihn einwirkte, würde er sie nicht vergessen.
Schnell flog sie weiter, immer Toms Geschichte vor sich hin murmelnd, damit ja keine Zeile vor Aufregung verloren ging. Die Bilder waren in ihrem Körper gespeichert und würden ihm sicher gefallen.
Gerade hatte sie den Rand des Traumlandes erreicht, da hörte sie ein tiefes Grummeln und Rauschen hinter sich. Zitternd versuchte sie schneller zu fliegen, doch etwas Pelziges packte sie und riss sie zurück, zog sie zwischen den Tannen, in das Unterholz. Dunkel und bedrohlich schnappte er nach ihr, versuchte sie zu fressen. Doch sie konnte sich aus dem eisernen Griff befreien und nur ein kleiner Traumfetzen blieb in seinen Händen zurück, den er sofort verschlang. Während sie davon stob, blickte sie kurz zurück und sah einen dunklen Schatten unter sich, der brüllend seine Pranken nach ihr ausstreckte. Den Traumfresser hatte sie in ihrer Aufregung ganz vergessen. Sie spürte den Hass, der ihr entgegen kochte und sie flog schneller.
Als sie sich sicher fühlte, kontrollierte sie ihre Verletzungen. Die Bilder waren zwar durcheinander geraten, aber alle noch da. Erschrocken stellte sie fest, das ihr Schweif fehlte. Das Ende fehlte! Sie wollte doch kein Traumfetzen sein!
Tom würde aufwachen und nichts mehr wissen. Denn das Ende war das Beste gewesen.
Zurück konnte das Träumelein nicht mehr, denn mit einem Traum gab es keinen Weg ins Traumland hinein. Nur hinaus.
Andere Träume flogen an ihr vorbei und sie selbst wurde immer langsamer. Konnte sie so zu Tom? Was würde er tun, wenn er aufwachen würde? Es war so wichtig, dass er sich an sie erinnerte, sonst konnte sie nicht wieder zurück und neue Träume erfinden, sie war sonst vergessen und verloren.
Sie hatte jahrelang gelernt, sich in Träumereien zu üben. Wachte der Mensch auf und dachte an sie, würde sie weiter leben. Wenn nicht, würde sie einfach im Gedankennebel verschwinden und niemals wieder zurück ins Traumland kommen.
Langsam kamen die ersten menschlichen Behausungen in Sicht. Träumelein bremste sich weiter ab, fast bis zum Stillstand. Bedrückt trödelte sie durch die kleinen Gassen. Nur noch zwei Häuserreihen trennten sie von Tom. Dann war es nur noch eine. Und schließlich war sie vor seinem Fenster. Große, mit Büchern und Kleidung gefüllte Kartons standen darin, die Regale an den Wänden waren dagegen fast leer. Tom lag in seinem Bett und schlief, traumlos. Nicht das kleinste Lächeln lag auf seinem Gesicht. Im Gegenteil. Auf seiner Wange waren winzige Salzkrümel und auf dem Boden lagen benutzte Taschentücher. Tom hatte geweint. Nein, dachte sich da das Träumelein. Ich darf nicht so selbstsüchtig sein. Mein Traum ist schön, selbst ohne Ende. Und vielleicht erinnert er sich ja doch an mich. Sie glitt durch das Fenster und ließ sich auf Toms Stirn nieder. Dann schüttelte sie sich ein wenig auf, wurde ganz weich und sackte in Tom hinein. Sogleich formten sich Toms Lippen zu einem Lächeln.
Angstvoll wartete das Träumelein am nächsten Morgen, dass Tom erwachte. Er sah immer noch glücklich aus. Jetzt regte er sich langsam. Doch dann flogen mit einem Mal seine Augenlider weit auf und die Bettdecke beiseite. Tom sprang aus dem Bett und lief in den Flur hinaus.
"Papa, Papa!", rief er durch das Haus. "Ich habe einen Anfang zu deiner Geschichte. Es ist so schön, das wird dem Verlag bestimmt gefallen. Und dann gibt er dir ganz viel Geld und wir können das Haus behalten!"
Träumelein folgte Tom und sah, wie der Junge zu seinen Eltern ins Bett stieg und ihnen aufgeregt seinen Traum erzählte. Der Vater erzählte sein Ende dazu und es hätte nicht schöner geträumt werden können.
Ein warmes, wohliges Gefühl erfüllte Träumelein auf einem Male und sie wusste, sie war ausgeträumt. Endlich konnte sie wieder ins Traumland zurückkehren und sich neue Träume ausdenken.