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Das verlorene Gestern
Plötzlich schreckte ich aus einem unangenehmen, verwirrenden Schlaf hoch und versuchte krampfhaft die Einzelheiten meines Traums festzuhalten, sich an ihnen wie an einem Seil hochzuziehen um die nötige Höhe für einen klaren Überblick zu erreichen, aber mein Traum entglitt mir, wie einem nasse Seife zwischen den Fingern entgleitet.
Ich wusste, dass noch vor Sekunden mir der Traum real vorkam, so real wie das Leben, aber nun hatte ich bloß ein blasser werdendes Durcheinander von Farben in meinem Kopf, wie wenn jemand mit der Handfläche über ein unfertiges Ölgemälde geht und das prächtige Bild zu einem abstoßenden schlammigen Grau zerschmiert.
Mir schmerzte die Nase und von meinem Schienbein vernahm ich ein dumpfes unangenehmes Pulsieren. Ich fasste mir an die Nase, berührte durch den dünnen Stoff der Jeans mein Schienbein, konnte aber keinerlei Prellungen oder Beulen erkennen. Der Schmerz selbst kam mir entfernt und unwirklich vor, wie wenn man jemandem zusieht, der große Qualen erleidet und unwillkürlich sich selber unter diesen Qualen vorstellt.
Ich sah mich um und stellte fest, dass ich in einem Zug saß und der imaginäre Schmerz meine geringste Sorge sein sollte. Denn ich hatte keinen blassen Schimmer, was ich hier machte und wie ich eigentlich hierher gelangt war. Die Erkenntnis, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was gestern passiert war, überrollte mich wie eine Flutwelle, und eine Weile rang ich vergeblich um Luft – ich schnappte nach ihr, aber bekam keine.
Als ich wieder zu Atem kam, versuchte ich das Ganze nüchtern zu betrachten, so nüchtern wie nur möglich für einen Menschen, der gerade ein riesiges leeres Nichts in seinem Gedächtnis entdeckt hatte.
Ich wusste, wer ich war. Ich wusste wie alt ich war, wie meine Eltern hießen, wie der Pudel meiner Tante hieß und welche Farbe sein Halsband hatte – einschließlich des vorgestrigen Tages wusste ich alles, was ein normaler Mensch wissen sollte. Nur Gestern erschien mir als ein weißer unbekannter Fleck in meinem Gedächtnis.
Panik stieg in mir auf – keine Spur von Nüchternheit mehr. Die Gewissheit verrückt zu sein.
Die Befürchtung die Kontrolle über den eigenen Geist verloren zu haben, die Befürchtung in Wirklichkeit irgendwo in einer Gummizelle zu liegen, mit dem Oberkörper hin und her wackelnd, die Augen verdrehen, der Verstand auf einer imaginären Zugfahrt.
Ich musste hier raus. Vielleicht würde es helfen. Vielleicht würde ich das Gestern finden.
Bei der nächsten Station stürzte ich aus dem Zug. Ich nahm drei Stufen mit einem Satz, mein Knöchel verkeilte sich an der untersten, und ich krachte auf den betonierten Bahnsteig. Meine Hände waren nicht schnell genug, um den Aufprall abzufangen, ich stürzte mit voller Wucht auf mein Gesicht, auf die Nase. Etwas knackte, und warme, salzige Flüssigkeit rann mir in den Mund. Mühsam rappelte ich mich auf und wischte mir mit dem Ärmel meines Hemdes das Blut aus dem Gesicht. Die helle Baumwolle färbte sich sofort rot, weiteres Blut strömte aber zielstrebig aus meiner Nase, die gebrochen sein musste. Ich blickte mich um – der Bahnsteig war leer – keine Hilfe zu erwarten. Ich versuchte, irgendwelche Erinnerungen an Gestern aus meinem Gedächtnis zu fischen, diese Anstrengung bescherte mir aber nur solche Kopfschmerzen, dass ich wankte und beinahe nach vorne umkippte. Die Welt vor meinen Augen wurde dunkler, und durch diesen dunkler werden Schleier erkannte ich zwanzig Schritte von mir entfernt eine Bank, zu der ich mich mühsam hinschleppte und sich auf die harten Bretter fallen ließ.
Nach ein paar Minuten nahm die Welt wieder ihre gewohnten Formen an. Die Nasenblutung hatte aufgehört, und mein Verstand wurde klarer. Neue Hoffnung keimte in mir auf. Vielleicht hatte ich gar keinen Gedächtnisverlust? Warum war ich mir so sicher, dass es überhaupt jenes Gestern gab? Ich meine nicht gestern überhaupt, sondern den Tag, den ich mir als Gestern vorstellte. Vielleicht existierte der Zeitabschnitt, den ich als eine große weiße Unbekannte empfand, nur in meiner Einbildung, und das, was ich als Vorgestern betrachtete, war in Wirklichkeit Gestern?
Ich ging noch Mal alle Einzelheiten von Vorgestern (oder Gestern?) durch – es war ein stinklangweiliger Samstag, den ich alleine zu Hause verbracht hatte. Ja, Samstag der Vierzehnte! Wieso bin ich nicht schon früher darauf gekommen? Ich musste nur das Datum vergleichen um mir Klarheit zu verschaffen.
Alle Schmerzen vergessen, sprang ich blitzschnell von der Bank und suchte mit den Augen den Bahnsteig ab. Bald fand ich, was ich suchte – eine alte blaue Bahnhofsuhr. Mit Datumsanzeige. Sechzehnter April. Ich war also doch verrückt.
Kraftlos sank ich wieder auf die Bank. Eine fürchterliche Leere füllte meinen Kopf, und ich saß einfach nur da und starrte ins Nichts. Nach einer unbestimmten Zeit verschwand die Leere, und Fragen nahmen ihren Platz ein.
Was hatte ich eigentlich die ganze Zeit getrieben? War ich vielleicht gefährlich? Konnte ich jemanden umgebracht haben? Wo war ich hier überhaupt und von wo bin ich eigentlich gekommen? Dies war die einzige Frage, auf welche ich im Stande war, eine Antwort zu bekommen, also rappelte ich mich von der Bank auf und schlenderte zum bescheidenen gelben Fahrplan auf einer Graffiti-besprühten Säule nicht weit von mir. Von diesem Ort hatte ich nie zuvor gehört. Von dem Ort, woher laut Fahrplan mein Zug kam, auch nichts. Aus dem Fahrplan konnte ich nur entnehmen, dass dieser Ort etwa eine Stunde von hier entfernt war und dass dorthin nur abends und morgens ein Zug fuhr.
Ich spazierte ziellos den Bahnsteig entlang. Ab und zu kamen Menschen vorbei, aber ich beachtete sie nicht. Selten hielt ein Zug an, aber er interessierte mich nicht. Mir ging die Vorstellung nichts aus dem Kopf, dass ich etwas Schreckliches getan haben könnte, etwas, dass so grauenhaft war, dass ich es tief in meinem Gedächtnis vergraben habe, mitsamt der Erinnerungen des vergangenen Tages. Dann dachte ich daran, dass jemand mir etwas so Schreckliches getan haben könnte, dass ich mich zwang es zu vergessen. Diese beiden Vorstellungen wechselten sich im Sekundentakt ab und ließen in meiner Fantasie dermaßen blutige, abstoßende Bilder aufblitzen, was mir oder von mir angetan wurde, dass ich jedes Mal innerlich aufschrie. Dieser Zustand ähnelte einer Wechseldusche, mal eisig kalt, mal feurig heiß, und beides über der Schmerzgrenze.
Irgendwann zwang ich mich damit aufzuhören, um nicht verrückt zu werden, falls ich es noch nicht war. Ich entschloss mich an die Polizei zu wenden, machte ein paar Schritte Richtung Ausgang, kehrte aber gleich wieder um.
Was ist, wenn ich schon gesucht wurde? Was ist, wenn sie mich sofort in eine Klapsmühle stecken würden? Oder ins Gefängnis wegen Mordes. Wen würde es schon interessieren, wenn ich behaupten würde, mich an den Mord nicht zu erinnern?
Ich schaute auf die Bahnhofsuhr. Mir blieb eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Zuges zurück dorthin, von wo ich gekommen war. Obwohl ich nicht wusste, was mir das bringen sollte, entschloss ich mich in diese Stadt zu fahren. Dort war der Ursprung meines Problems. Vielleicht würde dort alles klar werden. Vielleicht würde sich dort die weiße Leere, die sich in meinem Gedächtnis eingenistet hatte, mit gestrigen Erinnerungen füllen. Ich hoffte es, denn es war meine letzte Chance.
Aber davor hatte ich noch Zeit, und mir knurrte der Magen. Ich durchsuchte meine Hosentaschen und stieß dort auf kühle rund geformte Metallstücke – genau das, was ich brauchte. Am Ausgang entdeckte ich eine Imbissbude und eilte zu ihr. Die Verkäuferin musterte mit Unbehagen mein blutverschmiertes Hemd und die bereits zu einem Tennisball angeschwollene Nase, aber gab mir das von mir geforderte Frikadellenbrötchen.
Ich suchte mir ein stilles Plätzchen – es war nicht schwer, denn die Station war menschenleer – um mein erstes Mahl seit eineinhalb Tagen (zumindest das erste, an das ich mich erinnern konnte) in Ruhe zu genießen, aber als ich das Brötchen betrachtete, versperrte mir ein harter klebriger Klumpen die Speiseröhre und ließ meinen Appetit „Auf Wiedersehen“ sagen und davon spazieren.
Ich fühlte mich wieder verrückt. Ich fühlte wie dünn die Realität war, wie unecht das Brötchen war, die Welt färbte sich grau und wurde durch die Vision eines schalldichten, weich gepolsterten Raumes ersetzt, in dem mein Körper festgeschnallt auf einem Bett lag, und eine Infusion bekam, während mein Geist von einem Frikadellenbrötchen auf einer Bahnhofsstation träumte.
Ich glaubte mich zu drehen oder die Welt um mich drehen zu sehen. Ich glaubte jetzt den Moment der Wahrheit zu sehen, zu sich zu kommen, und zwar in der Realität, egal wo das war.
Ich öffnete schwankend die Augen und fand mich auf dem Bahnsteig derselben Station wieder. Und ich war enttäuscht – ein Irrenhaus wäre mir fast lieber.
Mit Verachtung warf ich das Brötchen weg – ein Schwarm grauer hässlicher Tauben stürzte sich sofort darauf – und verbrachte die restliche Zeit, bis der Zug eintraf, mit Nichtstun.
Als der Zug kam, fühlte ich mich wie Robinson Crusoe, als er ein Schiff sah. Ich wusste nicht warum, aber ich wusste, dass ich erlöst war. Ich wusste, dass, spätestens, wenn ich in der anderen Stadt aussteigen würde, der Spuck vorbei war.
Ich wusste es einfach und stieg mit der Gewissheit, gerettet zu sein, in den Zug.
Ich schreckte aus einem Schlaf hoch mit der Gewissheit einen unheimlich realen Traum gehabt und verloren zu haben.
Ich stellte fest, dass meine Nase und mein Schienbein schmerzten, aber ich wusste nicht warum.
Ich stellte fest, dass ich in einem Zug war, ohne zu wissen, wohin ich fuhr, woher ich kam und was eigentlich gestern passiert ist.
In Panik stürzte ich aus dem Zug und fiel schmerzhaft auf die Nase.
Der Psychiater nickte verständnisvoll und legte seinen Notizblock beiseite.
„Verstehen Sie, was für eine schreckliche Vorstellung das ist, nicht zu wissen. was war, jedes Mal zwischen Realität und Fantasie zu schweben, an der grenze des Wahnsinns?“, fragte ich ihn.
Wieder verständnisvolles Nicken.
„Ich habe diesen Albtraum jede Nacht, seit drei verdammten Monaten, und zwar unzählige Male pro Nacht! Jede Nacht schrecke ich schweißgebadet aus dem Schlaf, ohne zu wissen, ob er nun vorbei ist, ob die Endlosschleife des Traums unterbrochen ist! Jeden Abend versuche ich das Einschlafen so weit wie möglich hinauszuzögern, nur nicht um in diesen Teufelskreis zu geraten! Verstehen Sie, ich halte das nicht mehr aus, allein die Vorstellung… Ich halte es einfach nicht mehr aus, deshalb bin ich hier. Können Sie mir helfen?“
Der Psychiater versicherte mir, dass er es konnte. Wir arbeiteten mit ihm Stressbekämpfungsmethoden aus, Entspannungstherapien und Selbstberuhigungstricks. Er verschrieb mir eine Reihe von Medikamenten, die mir helfen sollten. Ich verabschiedete mich von ihm und ging erhobenen Hauptes nach Hause, um ein neues, glücklicheres, Endlosträume-freies Leben anzufangen.
Ein pandimensionales allwissendes Wesen amüsierte sich von irgendwo oben über einen kleinen, nichts ahnenden Menschen, der schon zum neunhundert zweiundsechzig tausend neunzehntem Mal hintereinander zu einem Psychiater ging um sich über einen wiederkehrenden Traum zu beklagen.