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Das was mir von dir bleibt

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19.03.2003
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Das was mir von dir bleibt

eine alte Nähmaschine, ich kann nicht nähen, den halben Schrank voll mit Tischdecken, ich hasse Tischdecken, zwei Mäntel, die passen einfach nicht in ihren Schrank, vier schwarze klassisch geschnittene Röcke, viel zu eng für mich, aber wer weiß ...
Ich wälze mich durch Paragrafen, unterschreibe und bestimme damit, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen wird, telefoniere mit ihrem Arzt, sie ist gut angekommen, die Tränen kullern mir über die Wangen, ich kann nicht damit aufhören. Zur gleichen Zeit, wie in einem parallel verlaufenden Universum, meine Tochter, erwachsen geworden, flügge, raus aus dem Haus, ich habe keine Zeit sie zu vermissen, viel zu tun, viel zu tun, Gedanken, kreisen, kreisen, kreisen mich ein, verlassen von Mutter und Kind, warum kann ich nicht schlafen, ich bin müde am Tag, in der Nacht hellwach, ich sehne mich nach Umarmung, aber mag dafür ich nicht still halten, ich laufe, räume, einmal, zweimal, dreimal, bewege mich im Kreis, wie meine Gedanken, Abschied tut weh.

Wochenende. Auf der Autobahn ein langer Stau zur Ostsee. Blechlawinen auf dem Weg, das wunderschöne Wetter in den letzten Zügen.
Es ist zwölf Uhr mittags, als ich endlich angekommen bin, sie wird mit dem Essen durch sein. Ich drücke die Taste des Aufzuges, zweite Etage. Mit mir eine grauhaarige Frau, die mich freundlich anlächelt.

Ihr Zimmer ist schön, ein paar ihrer Möbel konnte ich mitnehmen. Ein paar Fotos habe ich auch aufgestellt. Sie soll ihre Kinder sehen können, auch ihre Enkelkinder. Beim Bild meines Bruders, fragte sie, warum es dort steht.
»Mama, das ist doch Uli«, sagte ich, mühsam um Fassung ringend. Mein Bruder ist vor drei Jahren gestorben.

Sie steht gerade vom Tisch auf, schiebt ihren Rollator durch die Tür, sieht mich. »Susanne, du eische, warum kommst du jetzt erst?«
Heute ist ein guter Tag, sie hat mich erkannt, ich fühle einen Stich im Herzen. Ich kann doch nicht immer nur für sie da sein.
Das Heim ist wundervoll, wirklich. Man hat das Gefühl, sie kann hier noch zehn Jahre älter werden.
»Was ist denn, Mama?«, frage ich, den Vorwurf ihrer Stimme versuche ich nicht an mich heran zu lassen. Ich will mich freuen, die gemeinsame Zeit mit ihr ist kostbar.
»Mein Zeh tut weh, ich konnte die Nacht nicht schlafen, ich musste mir selbst Jod darauf tropfen. Ruf doch Sabine an, die muss kommen!«
Ich weiß nicht, wer Sabine ist. Sie weint jetzt. Ich schiebe meinen Arm unter sie, bugsiere sie in ihr Zimmer.
»Ich guck mir das an«, sage ich sanft.
Im Zimmer ziehe ich ihr den Socken aus, begutachte den Großzeh und taste vorsichtig die empfindlichen Stellen ab. Sie bemerkt es nicht, plappert, sie habe solche Schmerzen.
»Ich mache dir ein warmes Fußbad mit Salz.«
»Hilft das denn?«
»Ja, du wirst gleich keine Schmerzen mehr haben.«
Ich bereite das Fußbad zu, prüfe die Temperatur mit dem Handinnengelenk unter dem fließenden Wasserhahn und ich erinnere mich daran, wie ich so stets die Temperatur für das Bad meiner Kinder gemessen habe, weil meine Mutter es mir nach der Geburt meiner Älteren so gezeigt hat. Eine Handvoll Salz ins Wasser und ich führe ihren linken Fuß in das Bad.
»Ist es angenehm so? Eine viertel Stunde sollte es schon sein.«
Ein Martinshorn dröhnt durch das offene Fenster
Jetzt kommt es, ich ahne es.
»Ich will nicht mehr, ich gehe nachher raus und schmeiß mich vor die Kreuzung.«
»Mama, ich habe dir was mitgebracht.«
Ich ziehe den farblosen Nagellack aus der Tasche.
»Ich brauch das nicht mehr«, sagt sie, aber ihre Tränen versiegen bereits und dann sagt sie, » der Paul an meinem Tisch macht bestimmt eine Bemerkung, wenn er meine Nägel sieht«. Sie lacht, streicht sich übers Haar.
»Lässt du mir noch Geld für den Friseur da?«
Ich lackiere ihre Nägel, genieße ihre Freude, ich erzähle von den Kindern.
»Das Wasser wird kalt«, sagt sie plötzlich.
»Kannst du dein Bein auf meinen Schoß legen?«
Sie hebt das Bein langsam, ich helfe ihr vorsichtig. Ihre Gliedmaßen sind geschwollen, Herz- und Nierenschwäche, so die weitere Diagnose.
Ich ertappe mich bei dem Gedanken, ein schöner Tod im Schlaf ...
Ich trockne ihr den Fuß, vorsichtig tupfe ich den Zeh. Ihr Blick ist leer, als ich wieder hochschaue.
»Alles ist gut«, sage ich, ziehe ihr Strumpf und Schuh über. In meinem Hals sitzt ein Kloß.
»Ich komme nächste Woche wieder«.
»Sabine soll kommen«, sagt sie.

 

Hallo Goldene Dame

eine alte Nähmaschine

Mit Absicht klein geschrieben?

in einem parallel verlaufendem Universum

verlaufenden

Ich wälze mich durch Paragrafen, unterschreibe und bestimme damit, wo sie den Rest ihres Lebens verbringen wird, telefoniere mit ihrem Arzt, sie ist gut angekommen, die Tränen kullern mir über die Wangen, ich kann nicht damit aufhören. Zur gleichen Zeit, wie in einem parallel verlaufendem Universum, meine Tochter, erwachsen geworden, flügge, raus aus dem Haus, ich habe keine Zeit sie zu vermissen, viel zu tun, viel zu tun, Gedanken, kreisen, kreisen, kreisen mich ein, verlassen von Mutter und Kind, warum kann ich nicht schlafen, ich bin müde am Tag, in der Nacht hellwach, ich sehne mich einerseits nach Umarmung, aber andererseits mag ich nicht still halten …

Die Passage hat einen ganz tollen Rhythmus. Einzig das Fettmarkierte bremst den Fluss.

Wochende.

Wochenende

Ich drücke die Taste des Aufzuges zweite Etage.

Komma oder Punkt vor „zweite“.

Mit mir eine grauhaarige Frau [K] die mich freundlich anlächelt.

»Susanne, du eische, warum kommst du jetzt erst?«

?

Ich ziehe den farblosen Nagelack aus der Tasche.

Nagellack

Ihr Blick ist leer [K] als ich wieder hochschaue.
»Ich komme nächste Woche wieder«.
»Sabine soll kommen«, sagt sie.

Ein starker Schluss.

Der Text hat mir, als Szene, sehr gut gefallen, er entwickelt gleich zu Beginn einen Sog, der mich als Leser in die Gedankenwelt der Prota reinzieht. Dann wird der Text ruhiger, erzählender, aber der Anfang, das Hektische, die kreisenden Gedanken schwingen noch immer mit und lassen mich den Text anders lesen, als ich das getan hätte, wenn es den Anfang nicht gäbe.

Die Szenen, die Handlungen sind stimmig erzählt, ich finde, das ist ein guter Mix von äusseren Handlungen, Gesten und Innenschau.

Dennoch wünschte ich mir, die ganze Szene wäre in etwas Grösseres eingebettet, es käme noch ein Plot hinzu. Ich könnte mir das sehr gut als eine Passage in einer längeren Geschichte vorstellen, da hätte ich als Leser noch etwas mehr Zeit, in diese Situation, in die Mutter-Tochter-Konstellation einzutauchen. Das wäre denn auch eine Gelegenheit, diesen Text von ähnlichen Texten abzugrenzen. Ich muss ehrlich sagen, dass ich das Gefühl habe, so etwas (Konstellation, Setting) schon ein paar Mal gelesen zu haben, und ich bin noch nicht so lange im Forum. Aber dennoch: Auch in der Kürze, wie du das hier präsentierst, fand ich den Text berührend. Gern gelesen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hej Goldene Dame,

du hast mich deiner kleinen, anrührenden Geschichte berührt. So ist das.
Der Tag kommt, die Zeit, in der man Abschied nehmen muss, Veränderungen im Leben, Seitenwechsel.

Schon der Einstieg mit den Aufzählungen zog mich direkt mittenhinein und ließ mich neben der Protagonistin stehen. Ich konnte direkt mitempfinden. Die Ablehnung der Dinge, die jetzt die Mutter zu ersetzen scheinen.

Zeitgleich die Entfernung zur eigenen Tochter und es schmerzt sicher auch unbewusst, dass den beiden Ähnliches bevorsteht.

All das hast du mit einem passenden Ton verarbeitet. Beinahe realistisch. Nichts überzogen, nichts dramatisiert. Und deswegen erkenne ich es sofort.

Ich hätte mir gewünscht, deine Protagonistin hätte Vorwärts gesehen, es als das erkannt, was es ist: Lebenslauf und sie Hoffnung gegeben, vielleicht im Hinblick auf die Zeit, die ihr selbst noch bleibt, um ihrer eigenen Tochter nicht nur eine Nähmaschine und Tischdecken von der Mutter zu hinterlassen, sondern lebendige Erinnerungen und Dinge, die sie verbinden. :shy:

Danke für das Teilen deiner Geschichte und freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo Peeperkorn, danke für die Fehlerlese.
Der Einstieg ist mit Absicht klein geschrieben, als Fortsetzung zum Titel gedacht. Ich hätte hinter dem Titel noch ein Komma setzen sollen. Eisch ist ein umgangssprachliches Wort für ungezogen.
Den Plot zu vergrößern, ja das wäre eine Möglichkeit, wer mich kennt, ich bin eine überzeugte Schreiberin verdichteter Geschichten.
Ich stehe an einem Neuanfang des Schreibens und knüpfe an, wo ich mal stand. Mein Ziel ist es, mich zu entwickeln. Mal sehen was kommt.
Hallo Kanji,
Dein Lob freut mich, das Vorwärts sehen könnte tatsächlich eine Erweiterung des Plots sein, den Peeperkorn anspricht.
Soweit bin ich erzählerisch noch nicht angekommen. :shy:Ich hoffe, es wird sich entwickeln.
Danke euch, liebe Grüße
Goldene Dame

 

Hallo Goldene Dame,

Dein Text hat mich auch berührt, ich kann mich in diesem Punkt den anderen Kommentaren anschliessen. Ich hatte in Kürze ein Bild vor Augen. Was mir sehr gefiel war, dass Du, abgesehen vom ersten Abschnitt, kaum Gefühle der Ich-Protagonistin angedeutet oder genannt hast, und dennoch (vielleicht gerade deswegen) empfand ich den Text als sehr emotional.

Interessant fand ich den ersten Abschnitt mit den kurzen, abgehackten, durch Kommas aneinandergereihten Hauptsätzen. Ich glaube, ich hätte mich nicht getraut, das so zu schreiben, aber es funktioniert sehr gut fand ich, gibt dem Abschnitt einen ungewohnten, interessanten Rhythmus.

Der Text zeigt eine Momentaufnahme. Noch besser hätte mir gefallen, wenn irgendetwas Entscheidendes geschieht, irgendein Wendepunkt, das gab es nicht.

Den letzten Satz fand ich dann wieder sehr gut.

Habe den Text gerne gelesen, Danke!

Grüsse, Jered

 

Hallo Jered,
Danke für deine Gedanken zu meinem Text. Der erste Abschnitt sollte dem Leser einerseits einen Einblick in die Gefühlssituation des Ich- Erzählers und andererseits den Wissensvorsprung, den der Ich -Erzähler zum Geschehen hat, darlegen. So ist der nächste Abschnitt für den Leser besser verständlich. Der Ich- Erzähler besucht die Mutter im Heim. Das Geschehen dort soll das Leseerlebnis des vorherigen Abschnittes vertiefen und die Aussage "das was mir von dir bleibt" nachvollziehbar machen. Eine "Wendung", den Wendepunkt habe ich dem zweiten Teil mit dem gewünschten Tod angedeutet. Die Trauer um den geliebten Menschen wäre ein richtiger Abschluss. Der bleibt aber verwehrt und das ist der eigentliche Konflikt. Der Ich Erzähler offenbart eine stoische Ruhe, denn er kann an der Situation, die Demenz der Mutter, ihr Vergessen, nichts mehr ändern. Die Akzeptanz dessen, dass von der Mutter "nichts" mehr bleibt, als die eigene Erinnerung, als wenn sie schon gestorben wäre. Die unbekannte Susanne, mag eine Pflegerin sein oder sonst wer. Jedenfalls ist sie eine Person, die dem Ich- Erzähler verborgen bleibt, wie auch der Zustand oder der Grad des Vergessens der Mutter für ihn verborgen bleibt.

Liebe Grüße
Goldene Dame

 

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