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Das Wurstbrot

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23.09.2016
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Das Wurstbrot

„Nee. Dit will ick nich. Geh mir mit der Scheiß Salami weg“, schrie Annemarie, als ihr ein Passant ein Wurstbrot vom Bäcker in die Hand drücken wollte. Die Berliner Schnauze hatte sie sich antrainiert. Sie wollte authentischer klingen. Auf der Straße war es so leichter durchzukommen als mit schwäbischem Geschwätz. Vor vier Jahren kam sie zum Studieren in die Hauptstadt. Physik. Das ist ihr Ding gewesen, ehe sie der Tod ihrer Oma aus der Bahn geworfen hatte. Sie brach ihr Studium ab und gab sich dem Alkohol hin. Nicht den Drogen. Das war ihr immer wichtig gewesen. Ihr Leben lang hatte sie nicht mal von einem Joint gezogen. Sie hatte immer ein gutes Verhältnis zur alten Gerda. Jedes Wochenende war sie als Kind dort gewesen, auch als Jugendliche so oft sie konnte. Während Oma Gerda in der Küche Kartoffeln schälte, erklärte sie ihr die Funktionsweise eines Schnellkochtopfs. Abends spielten sie Kanaster und schauten sich dann eine Quizshow an.

Als die alte Gerda starb brach für Annemarie eine Welt zusammen. Scheiß auf Physik, scheiß auf den Druck im Schnellkochtopf. Annemarie heuerte in einer Kneipe an, betrank sich mit den Stammgästen, mit den Kollegen, gab immer wieder Schnäpse aus, bis es ihrem Chef zu viel wurde. Ihn kümmerten ihre Umstände nicht, sie selbst kümmerte sich auch nicht mehr darum. Vier Monate später, an einem Dienstag im April vor zwei Jahren, stand der Vermieter mit dem Gerichtsvollzieher vor der Tür Annemarie durfte noch ihre Sachen packen, dann musste sie raus. Anfangs kam sie noch bei Bekannten unter, doch die hatten bald die Nase voll. Geld, um zurück nach Lorch zu fahren, hatte sie nicht – und von ihren Eltern brauchte sie nichts erwarten. Sie hatten sich überworfen, als sie nach Berlin gegangen war. So saß sie nun meistens in Prenzlauer Berg vor einem Supermarkt. Hier waren die Menschen mehrheitlich politisch grün. Das bedeutet sie hatten Geld, aber ein schlechtes Gewissen, das es so war. Hier gab es immer was zu holen. Mal Kohle, mal Essen.

Nachts schlief Annemarie meist in einer Notschlafstelle. Sie war gut organisiert, stets eine der Ersten in der Schlange, ab und an fand sie auch bei einer ehemaligen Kommilitonin Unterschlupf auf dem Sofa. Es war keine Freundschaft zwischen ihnen. Es war mehr Mitleid. Annemarie wusste das und legte es darauf an.

„Sei mal nicht so wählerisch“, sagte der Mann mit dem Anzug und den ungekämmten Haaren spöttisch. „Dir muss es ja gut gehen, wenn du dir aussuchen kannst, was du willst.“

Annemarie reagierte nicht. Sie schaute zur Seite. „Verpiss dich!“

Seit 16 Jahren hatte Annemarie kein Fleisch gegessen. Mit sieben Jahren hatte sie beim Spielen auf einem Nachbarhof mitbekommen, wie ein Schwein getötet wurde, um daraus Knackwurst zu machen. Sie liebte Knackwurst. Bis zu diesem Moment, als sie das Schwein sah, wie es nach dem Bolzenschuss zusammensackte. Sie war wie versteinert. Die Eltern ihrer Freundin erklärten ihr, was vorgefallen war und warum das Schwein sterben musste. Da fasste sie ihren Entschluss. Ihre eigenen Eltern hatten das nicht verstehen wollen, was das Verhältnis sicherlich schon frühzeitig ins Wanken brachte. Nur Oma Gerda hatte immer Verständnis für ihre einzige Enkelin. Sie versuchte auf ihr ‚Mariechen‘ einzugehen, auch wenn sie erst lernen musste, dass Bratkartoffeln auch dann nicht mehr vegetarisch sind, wenn die Speckwürfel ‚nur für den Geschmack‘ sind.

Annemarie wartete weiter. Der Mann im Anzug war längst weg. Im Gehen hatte er genüsslich in das Salami-Brötchen gebissen und sich noch einmal umgedreht. Annemarie blieb bei ihren Prinzipien und überhaupt: Sie müsste in Prenzlauer Berg tatsächlich nicht alles essen.

Am nächsten Tag, Annemarie saß wieder vor dem Supermarkt und ließ ihre Gedanken schweifen, joggte der Mann am Laden vorbei und musterte sie von oben bis unten. „Verhungert bist du ja nicht“, sagte er.

„Du auch nicht“, schrie sie und verstummte sofort. Sie klang leicht hysterisch, empfand sie. So wollte sie nicht klingen. „Hast noch’n Versuch. Kauf mir diesmal was Richtiges.“ Das gefiel ihr schon besser. So wollte sie sich hören – und der Mann schien zu gehorchen. Sie beobachtete, wie er in der Bäckerschlange stand und Kleingeld aus diesen albernen kleinen Taschen, die Laufklamotten stets haben, harauspulte. ‚Geht doch‘, dachte sie. Doch dann hielt er ihr ein Schinkenbrötchen unter die Nase.

„Haste een Ei am Wandern?“ Annemarie war richtig sauer. Sie wusste, dass sie keinen Anspruch auf Hilfe hatte, das war aber eindeutig eine Provokation. „Ick ess keen Fleisch. Weeste doch.“

Der Mann setzte sich neben sie und begann das Brötchen zu essen. „Solltest du aber vielleicht. Ist lecker.“

Annemarie sagte nichts. „Ich bin Falk.“

Annemarie sagte nichts. Falk sagte nichts.
Als er das Brötchen aufgegessen hatte, stand er auf und ging. Ab sofort kam Falk täglich vorbei und köderte sie mit einem Wurstbrötchen. Teilweise wurde er fast übergriffig und sie glaubte kurz, er würde ihr gleich irgendein ekelhaftes Angebot machen, während er sich das Gesicht mit der Remoulade des Brötchens vollschmierte. Doch das kam zum Glück nicht. Es blieb bei der bloßen Demütigung. Sie bekam zwar genug Geld zugesteckt, um sich selbst zu versorgen und doch genoss es der hagere, groß gewachsene Mann mit dem schütteren Haar, ihr unter die Nase zu reiben, dass er offenbar in der Hand hat, ob sie jetzt essen könne oder nicht.

Knapp einen Monat ging das so. Annemarie hatte längst das Verhalten von Falk studiert. Einmal, als sie gerade zur Schlafstätte aufbrach, sah sie ihn mit einem Liter Milch an ihr vorbei in seine Wohnung hetzen. Sie blieb noch etwas und schaute hoch und auf die Klingelschilder. Er lebte allein im ersten Stock. Seine Gardinen waren Orange. ‚Wer hängt orangene Gardinen auf? Diese Farbe zerstört doch alles‘, dachte sie. ‚So einer hat eine Wohnung und ich nicht…‘

29 Tage nachdem sie sich kennengelernt hatten, also genau 29 Wurstbrote, die man Falk am Bauch gefühlt schon ansah, ging Annemarie nicht zur Schlafstätte. Zuletzt wurde es da ohnehin noch voller als sonst schon und sie musste zuletzt einige Nächte in Hauseingängen oder Hinterhöfen verbringen.

Eine Stunde vor Ladenschluss, es war etwa 22 Uhr, stand sie auf und setzte sich auf die gegenüberliegende Straßenseite. Falk kam gerade von seinem späten Termin, davon hatte er ihr ungefragt erzählt. „Geiles Projekt, blablabla.“ Er wirkte abgehetzt, seine Haare waren wieder genauso zerstrubbelt wie so oft in den vergangenen 29 Tagen. Annemarie schlenderte die Straße entlang und bog rechts ein. Sie stand vor Falks Haus und klingelte alles durch: „Ja? Ja! Ja…“, ertönte es aus der Gegensprechanlage. „Amazon“, sagte Annemarie. Das klappte hier immer.

Die Tür ging auf. Sie legte ihren Rucksack und ihren Hackenporsche in den Innenhof. Dann ging sie zurück ins Vorderhaus, sprintete in den ersten Stock und noch eine halbe Treppe nach oben. Dort hockte sie sich hin. Fünf Minuten vergingen, als ihr Atem langsam ruhiger wurde und die Aufregung aus ihren Gliedern schwand ging das Licht im Flur wieder an. Jemand kam ins Treppenhaus und pfiff eine Melodie. Welche wusste Annemarie nicht, aber im Original hat sie sicherlich anders geklungen. Es war Falk. Mit seinen langen Beinen nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Vor seiner Tür kramte er nach seinem Schlüssel, schloss auf.

Als er bereits mit einem Fuß in der Wohnung war, kam Annemarie angesprungen. Das Messer, das sie für sieben Euro im Supermarkt gekauft hatte im Anschlag. Falk bekam es erst nicht mit, erst als ihm die Klinge seitlich im Bauch steckte. Er ließ seine Einkäufe, die er in einer Papiertüte unter dem Arm geklemmt hatte fallen. Annemarie stieß die Haustür zu und stach noch ein paar Mal auf Falk ein. Blut floss aus den Wunden, teilweise spritze es sogar. Es war eine viel größere Sauerei als damals bei dem Schwein, dachte Annemarie als sie die Klinge immer wieder in den Körper gleiten lies, doch es machte ihr nichts aus.

Als sie sicher war, dass Falk sich nicht mehr bewegen würde, nahm sie ihm den Schlüssel aus der Hand und holte ihre Sachen. Ein paar Nächte würde sie in dieser Wohnung schon verbringen können, dachte sie. Erstmal würde sie eine Dusche nehmen und sich dann ins warme Bett legen. Das hatte sie sich verdient. Sie brauchte Falks Almosen nicht. Das Geld für das Messer hatte sie schließlich auch ohne ihn zusammenbekommen – in gerade einmal drei Stunden.

 
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Hola Marekovic,

ich nehme an, Du wirst noch mehr Texte hier einstellen – und selbstverständlich positive Kommentare erwarten.
Damit kann ich im Moment nicht dienen, denn obwohl Dein Text gut fließt, dank Deiner Schreiberfahrung, gefällt mir die Geschichte nicht.
Warum? Weil Mariechen durch Ommas Tod zusammenklappt und das Saufen anfängt – so zart ist sie besaitet, und auch fast selbst stirbt, als es dem Schwein nebenan an den Kragen geht – und dann so etwas:

Annemarie stieß die Haustür zu und stach noch ein paar Mal auf Falk ein. Blut floss aus den Wunden, teilweise spritz(t)e es sogar. Es war eine viel größere Sauerei als damals bei dem Schwein, dachte Annemarie (K) als sie die Klinge immer wieder in den Körper gleiten lies (ließ), doch es machte ihr nichts aus.

Das finde ich doch arg unpassend.
Aber nichtsdestotrotz ist ein besserer Plot einfacher zu finden als wenn es beim Schreibhandwerklichen hapert – und da hast Du ja Gott sei Dank keine Probleme.

Bis demnächst und herzlich willkommen!

José

 
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Re: Die Wurststulle
Hey Marekovic,
der tag: Krimi hat mich total aufs Glatteis geführt. Beim schnellen runter scrollen dachte ich, ganz schön kurz für nen Krimiaufbau. Dann fängt der Text auch noch in semi-korrektem Berliner Dialekt an. Macht nix, in Prenzlauer Berg gibt es sowieso nur Zugezogene. Ich bezweifle auch, dass der Stadtteil landesweit bekannt ist.
Ich wartete beim Lesen auf die Krimihandlung, bekam aber nur diese phycho-Metzger-Rache-Nummer. Um keine falschen Erwartungen zu wecken, solltest du den tag ändern. Vllt. auf seltsam.

Viele Grüße
wegen

 

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