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- 09.12.2019
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Deine Welt
Edgar zitterte immer noch. Trotz der heißen Dusche nach der Kälteschlafkammer, in der er allein für den Rückflug zur Erde fast dreizehn Jahre verbracht hatte. Später würde er versuchen, noch die letzten Reste des Schutzgels zu entfernen, das ihn in der Kammer umgeben hatte.
Er setzte sich an den Tisch in dem kleinen Aufenthaltsraum seines Weltraumseglers. Der schwebende Roboter, der wie ein großes Tablett mit vier Armen aussah, brachte ihm eine dampfende Mahlzeit. Ein Glas Wasser stand bereits vor ihm.
„Ich frage gar nicht erst, was das ist“, sagte Edgar.
„Proteine und …“, begann der Roboter, Ria, mit einer weiblichen, leicht knisternden Stimme.
„Vielleicht noch etwas für die Verdauung?“, unterbrach er.
„Nur wenn du aufisst."
„Okay, dann los."
Nachdem er im Cockpit erneut den Zustand des Seglers geprüft und keine Auffälligkeiten entdeckt hatte, rief Edgar per Sprachbefehl die Daten der Erde auf. Er hatte den Hyperflug im vorgegebenen Abstand zu seinem Heimatplaneten beendet, sofern die ihm bekannten Werte nach so vielen Jahren noch galten. Insgesamt war er gut zweiundvierzig Jahre im interstellaren Raum unterwegs gewesen und dabei dank der Kälteschlafkammer nur wenige Wochen gealtert. Nun hatte er Informationen eines Planeten im Bordcomputer, die ihm ein Vermögen einbringen konnten. Seine Existenz für viele Jahre sichern würden. Eine Welt voller Leben, zwar nur unter Wasser, aber mit einer für den Menschen atembaren Atmosphäre.
Ein Bild der Erde erschien vor ihm, auf die Scheibe des Cockpits projiziert. Daneben detaillierte Informationen: Größe der Land- und Wasserfläche, durchschnittliche Temperatur in verschiedenen Klimazonen, aktuelle Naturkatastrophen und … Edgar lehnte sich nach vorne, diese Information konnte nicht stimmen. Die Zahl der lebenden Menschen lag bei Null.
„Informationen Lebewesen“, forderte Edgar mit heiserer Stimme.
Er konnte bei den erscheinenden, zusammengefassten Informationen zunächst nichts Ungewöhnliches erkennen, die Flora und Fauna der Erde schien intakt. Erst bei den detaillierten Werten, beginnend mit der Anzahl der lebenden Menschen, erschien der gleiche Fehler. Als wäre der Mensch von der Erde verschwunden. Auch bei den Tierarten schienen nach einer oberflächlichen Prüfung einige zu fehlen.
Edgar wollte den großen Landeplatz bei Neu-Berlin ansteuern und versuchte, eine Verbindung aufzubauen. „Kommunikation zu BER-8 herstellen“, wies er den Bordcomputer an.
„Kein Signal vorhanden. Kommunikation nicht möglich“, meldete der Bordcomputer mit monotoner Stimme.
Er bekam Gänsehaut. „Prüfe Signale im Umkreis von einhundert Kilometern um BER-8.“
Diesmal kam die Antwort erst nach einigen Sekunden. „Keine Signale gefunden.“
Das konnte nur ein Fehler der Bordtechnik sein. „Fliege BER-8 an. Manuelle Übernahme der Kontrollen einhundert Meter über dem Landeplatz.“
„Kurs errechnet und aktiviert.“
„Okay. Dann dusche ich nochmal.“
Edgar betrachtete den großen Landeplatz und das anliegende Gebäude aus Glas, in dem es sonst durch die vielen Geschäfte vor Leben wimmelte. Der Platz war leer, kein einziger Raum- oder Stadtgleiter zu sehen. Auch das Gebäude wirkte geisterhaft, der Innenraum vollständig dunkel. Von den schwebenden Hochgeschwindigkeitszügen, die ins Zentrum von Neu-Berlin und zu anderen Städten fuhren, konnte er ebenfalls keinen ausmachen.
„Übergabe an manuelle Kontrolle“, meldete der Bordcomputer.
Edgar griff die Flugsteuerung und schwebte einem Landeplatz nahe dem Glasgebäude entgegen. Die sonst blau leuchtenden Linien, welche die Plätze voneinander trennten, waren nicht aktiviert und kaum zu erkennen. Erst kurz vor der Landung bemerkte er, dass seine Hände leicht zitterten. Er setzte härter auf als beabsichtigt, aber die Hydraulik federte die Landung ab.
Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Das Außenthermometer zeigte vier Grad. Edgar stand auf und ging in die Kabine, um seine Jacke zu holen. Er würde jemanden finden, der ihm erklären konnte, was hier vor sich ging. Egal, was die Instrumente zeigten, es konnten nicht alle Menschen verschwunden sein.
Kalte Luft wehte ihm entgegen, als er die Ausstiegsluke herunterfuhr. Er wollte das Schiff schon verlassen, drehte sich aber nochmal um und rief: „Ria!“
Wenige Sekunden später schwebte der Roboter zu ihm, die Arme unter dem tablettförmigen Körper gefaltet. Edgar deutete nach draußen.
Ria bewegte sich nicht. „Nach dir.“
Er trat hinaus in den kühlen, aber sonnigen Wintertag. Ria folgte ihm, die Luke schloss sich hinter ihr. Nach einem erneuten Blick über den Landebereich schauderte er. Nicht nur, weil alles verlassen war. Noch etwas anderes wirkte hier nicht richtig, er konnte es nur nicht greifen.
Sie näherten sich dem gläsernen Gebäude, sahen ihre Spiegelbilder. Keine Bewegung, kein Licht war darin zu erkennen. Edgar legte seine Hände an die Scheiben und blickte unter ihnen ins Innere. Und sah nur Leere. Keine Geschäfte, keine Menschen. Auch alles andere fehlte, die Etagen, Aufzüge und Rollbänder. „Was zum Teufel …“, flüsterte er und ging zu einer der Eingangstüren. Sie öffneten sich automatisch, wenn jemand nah genug war, aber nicht diesmal.
„Was ist hier passiert, Ria?“
„Nichts.“
„Danke. Sehr hilfreich.“
„Ich habe nicht mehr Informationen als du und …“
„Ja, schon o.k.“
Edgar versuchte, die Tür aufzuziehen, aber er kam mit den Fingern nicht in den schmalen Spalt. Er blickte zurück zu seinem Raumgleiter, dann zu den einige Kilometer entfernten Hochhäusern der Innenstadt. Auch dort bewegte sich nichts, wo sonst unzählige Stadtgleiter um die Gebäude schwirrten.
„Wir gehen ins Zentrum, parallel zu den Schwebebahnen der Züge. Ich habe mich lange genug nicht bewegt.“
Ria rührte sich nicht.
„Ich weiß, ich zuerst.“
Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie einen der silbrig-gläsernen Hochgeschwindigkeitszüge. Wieder störte Edgar mehr als nur die Tatsache, dass der Zug mitten auf der Strecke stand. Auch in seinem Inneren war alles dunkel und leblos. Er blickte in beide Richtungen, entdeckte aber keinen anderen Zug. Die Welt wirkte auf ihn nicht verlassen oder ausgestorben, sondern eher … unfertig. Als hätte jemand eine Modellwelt begonnen.
„Scanne mal das Bild der Innenstadt“, sagte er zu Ria. „Und vergleiche es mit deinen Aufzeichnungen.“
Ria drehte ihren runden Körper, bis das Auge Richtung Zentrum ausgerichtet war. „Eins der Hochhäuser fehlt und die Abstände der übrigen weichen geringfügig von meinen bisherigen Daten ab.“
Edgar strich sich über den Dreitagebart. „Ich will mir das ansehen, irgendeine Erklärung muss es geben.“
„Vielleicht sollten wir besser …“, begann Ria.
„Nein.“
Sie folgte ihm schweigend.
Der Vorort war genauso verlassen wie alles andere bisher. Vor einigen der Einfamilienhäuser standen Stadtgleiter, aber es waren wenige. Zu wenige. In keinem Gebäude brannte Licht, niemand war zu sehen. Die einzigen Geräusche waren seine Schritte, Rias leises Summen und der Wind, der durch die Straßen wehte, die Bäume rascheln ließ. Und er roch nichts, wie ihm zum ersten Mal bewusst wurde. Noch nicht mal die Bäume oder Winterpflanzen in den Vorgärten.
„Ria, stelle mal eine Verbindung zum Bordcomputer her und prüfe, ob während unseres Flugs etwas passiert ist. Lass dir alles auflisten, was auf eine Anomalie hindeutet, oder auf etwas abweichend vom erwarteten Flugumfeld.“
„Ich werde eine Suchsequenz starten. Wird einige Stunden dauern, bei der Anzahl an Jahren. Außerdem wissen wir nicht, wonach wir suchen.“
„Okay. Gib Bescheid, wenn du was hast.“
Edgar bemerkte bei einem der Häuser eine offen stehende Eingangstür und ging in diese Richtung. Die kleinen Hecken, die den Vorgarten vom Bürgersteig trennten, waren perfekt gerade geschnitten. Das ganze Gebäude und alles daran wirkte wie ein für Publikum zurecht gemachtes Musterhaus. Er trat ein und rief: „Hallo?“ Niemand antwortete, er hatte auch nicht damit gerechnet. Im Flur war auf der linken Seite eine Tür, die ebenfalls offen stand. Edgar betrat das dahinter liegende Wohnzimmer. Alles wirkte wie neu eingerichtet und unbewohnt.
„Können wir dann weiter?“, fragte Ria hinter ihm.
Edgar zuckte zusammen. „Wenn du mich nochmal so erschreckst, gehe ich ohne dich weiter.“
„Nein.“
„Doch. Ich will mir noch das Schlafzimmer ansehen.“
Er fand es auf der ersten Etage, wie erwartet wirkte auch hier alles unbenutzt. Ihn interessierte der Kleiderschrank, sein Inhalt. Irgendetwas, das auf Menschen hindeutete. Er war jedoch leer.
„Lass uns weiter. Hier gibt es nichts.“
Der Eindruck der Umgebung änderte sich nicht, als sie die Innenstadt erreichten. Alles blieb ruhig und verlassen. Wie erstarrte Riesen umgaben sie die Hochhäuser, nahmen ihnen das Tageslicht.
„Hat die Suchsequenz schon etwas ergeben?“, fragte Edgar.
„Nein, achtzehn Jahre sind nun geprüft, ohne Auffälligkeiten. Ich gebe dir schon Bescheid, wenn ich …“
„Ja, ich war nur neugierig. Ich werde den Autopilot des Gleiters aktivieren und hierher ordern, ich muss mir diese Geisterwelt nicht weiter ansehen. Wir fliegen zum Mars, dort wird man wohl wissen, was hier passiert ist.“
Er wollte den Kommunikator an seinem Handgelenk aktivieren, als er etwas am Rand einer der Wolkenkratzer bemerkte. Ein Licht, das die Farbe wechselte. „Was ist das?“, flüsterte er und ging darauf zu. Als er um die Ecke bog, sah er eine große, holografische Werbefläche. Sie zeigte eine Siedlung mit Musterhäusern. Davor stand eine junge Frau, Edgar schätzte sie um die zwanzig. In einem roten Kleid, die langen, blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Sie lächelte und drehte sich einmal um die eigene Achse. Dann schnippte sie mit Daumen und Mittelfinger. Die Siedlung hinter ihr verschwand, stattdessen erschienen Bilder von fertig eingerichteten Räumen. Sie zeigte darauf und sah ihn an. Schnippte erneut mit den Fingern, wonach die Werbefläche verschwand. Nur sie selbst blieb übrig, ihre vorher leuchtenden Farben wurden dunkler.
Lächelnd kam sie auf ihn zu. Edgar war zunächst wie erstarrt, ging dann einige Schritte rückwärts.
„Hab keine Angst“, sagte die junge Frau. „Es ist deine Welt.“
„Wer bist du?“, war das einzige, was Edgar einfiel. Sie kam ihm bekannt vor, vielleicht aus einem Werbespot.
„Ich bin kein Individuum, nur ein vom Kollektiv getrennter Teil. Erkennst du deine Welt? Sie ist noch nicht fertig, aber bald bin ich soweit.“
Edgar sah zu Ria, dann wieder zur Frau im roten Kleid. „Dann bin ich nicht auf der Erde?“
„Nein, aber ich wollte es dir so angenehm wie möglich machen. Warte!“ Wieder schnippte sie mit den Fingern. Um sie herum erschienen andere Menschen, gingen an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Auch in den Hochhäusern erschienen Lichter hinter den Scheiben, als hätte die Frau einen Schalter umgelegt und das Leben aktiviert.
„Es funktioniert!“ Sie klatschte in die Hände und sprang in die Luft.
Trotz der Situation ließ sich Edgar von der Fröhlichkeit der jungen Frau anstecken und lächelte.
„Und sagst du mir nun, wo ich bin?“
„Ja, du …“ Von einem Moment auf den anderen wurde ihr Gesicht traurig, die Augen gläsern. „Ich war neugierig, es liegt in unserer Natur. Es tut mir leid.“
„Was denn … Ist was passiert?“
Sie senkte den Kopf, wie ein Kind, das bei etwas erwischt wurde. Dann aktivierte sie erneut die holografische Fläche. Sie zeigte zunächst seinen Raumgleiter, aber nicht auf BER-8, sondern im Weltall. Nach einigen Sekunden wechselte das Bild und zeigte seine Kälteschlafkammer. Er erkannte die Kette mit dem kleinen, steinernen Kleeblatt, die auf einer Ablagefläche oberhalb der Kammer lag. Die er auch jetzt trug. Er selbst war in der Kammer durch das Schutzgel kaum zu erkennen. Etwas Rotes schimmerte hindurch, als hätte sich etwas über sein Gesicht gelegt. Die Farbe erinnerte ihn an das Kleid der jungen Frau.
„Was ist das, auf meinem Gesicht? Bist das …“
„Ja.“ Sie hielt den Blick gesenkt. „Ich wusste nicht, welch wunderbare Welten ich finden würde. Lange werde ich sie nicht mehr halten können.“
Nach einigen Sekunden verstand Edgar die Bedeutung des Bildes und ihrer Worte. Er taumelte rückwärts, setzte sich mit zitternden Beinen auf den Boden. Fast wäre einer der Passanten gegen ihn gelaufen.
„Wie lange noch?“, brachte er schließlich mit leiser Stimme hervor.
„Genau weiß ich es nicht, aber die Nacht ist nicht mehr weit.“
Sie schwiegen einige Minuten. Edgar blickte starr auf das Bild von sich in der Kälteschlafkammer. Ihm geisterten unzählige Fragen durch den Kopf, unter anderem, wie das Wesen in die Kammer gekommen war. Aber er stellte keine einzige davon, es würde nichts ändern.
„Darf ich mir etwas wünschen?“, wollte er schließlich wissen.
Sie blickte auf, mit der Andeutung eines Lächelns. „Ja!“
Edgar saß mit seinen Eltern auf einer großen Picknickdecke, nicht weit vom See entfernt. Es war der erste Tag der Sommerferien, morgen begann das Ferienlager. Hatte er je eine bessere Zeit gehabt, die sich lohnte, nochmal erlebt zu werden?
Seine Mutter las in einem Holo-Buch, sein Vater genoss wie so oft stumm die Sonne. Er stand auf, gab zuerst ihm und dann seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.
„Hey“, grummelte sein Vater, lächelte dabei aber.
„Womit haben wir das verdient?“, fragte seine Mutter.
„Ach, nur so. Weil ihr bei mir seid. Bin gleich wieder da.“
„Bleib in der Nähe!“, rief ihm seine Mutter hinterher.
Nicht weit entfernt saß die junge Frau auf einer kleinen Decke, diesmal in einem roten Badeanzug. „Hey, Edgar“, begrüßte sie ihn. „Genießt du deinen Wunsch?“
„Ich versuche es. Es ist alles so unwirklich.“ Über diese Worte musste er selbst kurz lachen.
„Es ist so wirklich, wie du es zulässt. Warte, es fehlt noch jemand.“ Ria schwebte hinter einem Baum hervor, auf ihrer Fläche ein Glas Eistee.
„Cool, danke! Eigentlich gehörst du hier nicht hin, Ria, ich kaufe dich erst später.“ Er nahm das Glas und trank einen großen Schluck.
„Irgendjemand muss dich ja bedienen.“
„In meinem Bordcomputer sind Informationen zu einer interessanten Welt, voller Leben. Falls es dich nicht stört, nass zu werden“, meinte Edgar, wieder an die Frau gewandt.
„Ich habe dazu schon einiges in deinen Gedanken gefunden und werde es dem Kollektiv ...“
Der Boden vibrierte leicht. Sie sah ihn an. „Es tut mir leid, Edgar. Nun geht es nicht mehr.“ Am Horizont wurde der Himmel schwarz.
„Was passiert jetzt mit mir?“, fragte er, als sich die Finsternis ausbreitete.
„Ich weiß es nicht. Was auch immer geschieht, wenn dein Organismus stirbt. Ich kann dich nicht in meine Welt holen, alles passiert in deiner.“
Edgar stellte das Glas wieder auf Rias Oberfläche ab. Die junge Frau und er blickten sich ein letztes Mal an. Tränen liefen ihre Wangen hinab. „Es tut mir leid“, wiederholte sie.
„So ist es nun. Vielleicht gibt es andere Welten.“ Er ging zu seinen Eltern. Beide hatten sich hingesetzt, blickten dem näher kommenden Schwarz entgegen. Er setzte sich dazu und umarmte sie. Ria schwebte über ihnen. Bis es dunkel wurde.
Er setzte sich an den Tisch in dem kleinen Aufenthaltsraum seines Weltraumseglers. Der schwebende Roboter, der wie ein großes Tablett mit vier Armen aussah, brachte ihm eine dampfende Mahlzeit. Ein Glas Wasser stand bereits vor ihm.
„Ich frage gar nicht erst, was das ist“, sagte Edgar.
„Proteine und …“, begann der Roboter, Ria, mit einer weiblichen, leicht knisternden Stimme.
„Vielleicht noch etwas für die Verdauung?“, unterbrach er.
„Nur wenn du aufisst."
„Okay, dann los."
Nachdem er im Cockpit erneut den Zustand des Seglers geprüft und keine Auffälligkeiten entdeckt hatte, rief Edgar per Sprachbefehl die Daten der Erde auf. Er hatte den Hyperflug im vorgegebenen Abstand zu seinem Heimatplaneten beendet, sofern die ihm bekannten Werte nach so vielen Jahren noch galten. Insgesamt war er gut zweiundvierzig Jahre im interstellaren Raum unterwegs gewesen und dabei dank der Kälteschlafkammer nur wenige Wochen gealtert. Nun hatte er Informationen eines Planeten im Bordcomputer, die ihm ein Vermögen einbringen konnten. Seine Existenz für viele Jahre sichern würden. Eine Welt voller Leben, zwar nur unter Wasser, aber mit einer für den Menschen atembaren Atmosphäre.
Ein Bild der Erde erschien vor ihm, auf die Scheibe des Cockpits projiziert. Daneben detaillierte Informationen: Größe der Land- und Wasserfläche, durchschnittliche Temperatur in verschiedenen Klimazonen, aktuelle Naturkatastrophen und … Edgar lehnte sich nach vorne, diese Information konnte nicht stimmen. Die Zahl der lebenden Menschen lag bei Null.
„Informationen Lebewesen“, forderte Edgar mit heiserer Stimme.
Er konnte bei den erscheinenden, zusammengefassten Informationen zunächst nichts Ungewöhnliches erkennen, die Flora und Fauna der Erde schien intakt. Erst bei den detaillierten Werten, beginnend mit der Anzahl der lebenden Menschen, erschien der gleiche Fehler. Als wäre der Mensch von der Erde verschwunden. Auch bei den Tierarten schienen nach einer oberflächlichen Prüfung einige zu fehlen.
Edgar wollte den großen Landeplatz bei Neu-Berlin ansteuern und versuchte, eine Verbindung aufzubauen. „Kommunikation zu BER-8 herstellen“, wies er den Bordcomputer an.
„Kein Signal vorhanden. Kommunikation nicht möglich“, meldete der Bordcomputer mit monotoner Stimme.
Er bekam Gänsehaut. „Prüfe Signale im Umkreis von einhundert Kilometern um BER-8.“
Diesmal kam die Antwort erst nach einigen Sekunden. „Keine Signale gefunden.“
Das konnte nur ein Fehler der Bordtechnik sein. „Fliege BER-8 an. Manuelle Übernahme der Kontrollen einhundert Meter über dem Landeplatz.“
„Kurs errechnet und aktiviert.“
„Okay. Dann dusche ich nochmal.“
Edgar betrachtete den großen Landeplatz und das anliegende Gebäude aus Glas, in dem es sonst durch die vielen Geschäfte vor Leben wimmelte. Der Platz war leer, kein einziger Raum- oder Stadtgleiter zu sehen. Auch das Gebäude wirkte geisterhaft, der Innenraum vollständig dunkel. Von den schwebenden Hochgeschwindigkeitszügen, die ins Zentrum von Neu-Berlin und zu anderen Städten fuhren, konnte er ebenfalls keinen ausmachen.
„Übergabe an manuelle Kontrolle“, meldete der Bordcomputer.
Edgar griff die Flugsteuerung und schwebte einem Landeplatz nahe dem Glasgebäude entgegen. Die sonst blau leuchtenden Linien, welche die Plätze voneinander trennten, waren nicht aktiviert und kaum zu erkennen. Erst kurz vor der Landung bemerkte er, dass seine Hände leicht zitterten. Er setzte härter auf als beabsichtigt, aber die Hydraulik federte die Landung ab.
Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und atmete tief durch. Das Außenthermometer zeigte vier Grad. Edgar stand auf und ging in die Kabine, um seine Jacke zu holen. Er würde jemanden finden, der ihm erklären konnte, was hier vor sich ging. Egal, was die Instrumente zeigten, es konnten nicht alle Menschen verschwunden sein.
Kalte Luft wehte ihm entgegen, als er die Ausstiegsluke herunterfuhr. Er wollte das Schiff schon verlassen, drehte sich aber nochmal um und rief: „Ria!“
Wenige Sekunden später schwebte der Roboter zu ihm, die Arme unter dem tablettförmigen Körper gefaltet. Edgar deutete nach draußen.
Ria bewegte sich nicht. „Nach dir.“
Er trat hinaus in den kühlen, aber sonnigen Wintertag. Ria folgte ihm, die Luke schloss sich hinter ihr. Nach einem erneuten Blick über den Landebereich schauderte er. Nicht nur, weil alles verlassen war. Noch etwas anderes wirkte hier nicht richtig, er konnte es nur nicht greifen.
Sie näherten sich dem gläsernen Gebäude, sahen ihre Spiegelbilder. Keine Bewegung, kein Licht war darin zu erkennen. Edgar legte seine Hände an die Scheiben und blickte unter ihnen ins Innere. Und sah nur Leere. Keine Geschäfte, keine Menschen. Auch alles andere fehlte, die Etagen, Aufzüge und Rollbänder. „Was zum Teufel …“, flüsterte er und ging zu einer der Eingangstüren. Sie öffneten sich automatisch, wenn jemand nah genug war, aber nicht diesmal.
„Was ist hier passiert, Ria?“
„Nichts.“
„Danke. Sehr hilfreich.“
„Ich habe nicht mehr Informationen als du und …“
„Ja, schon o.k.“
Edgar versuchte, die Tür aufzuziehen, aber er kam mit den Fingern nicht in den schmalen Spalt. Er blickte zurück zu seinem Raumgleiter, dann zu den einige Kilometer entfernten Hochhäusern der Innenstadt. Auch dort bewegte sich nichts, wo sonst unzählige Stadtgleiter um die Gebäude schwirrten.
„Wir gehen ins Zentrum, parallel zu den Schwebebahnen der Züge. Ich habe mich lange genug nicht bewegt.“
Ria rührte sich nicht.
„Ich weiß, ich zuerst.“
Nach einer knappen halben Stunde erreichten sie einen der silbrig-gläsernen Hochgeschwindigkeitszüge. Wieder störte Edgar mehr als nur die Tatsache, dass der Zug mitten auf der Strecke stand. Auch in seinem Inneren war alles dunkel und leblos. Er blickte in beide Richtungen, entdeckte aber keinen anderen Zug. Die Welt wirkte auf ihn nicht verlassen oder ausgestorben, sondern eher … unfertig. Als hätte jemand eine Modellwelt begonnen.
„Scanne mal das Bild der Innenstadt“, sagte er zu Ria. „Und vergleiche es mit deinen Aufzeichnungen.“
Ria drehte ihren runden Körper, bis das Auge Richtung Zentrum ausgerichtet war. „Eins der Hochhäuser fehlt und die Abstände der übrigen weichen geringfügig von meinen bisherigen Daten ab.“
Edgar strich sich über den Dreitagebart. „Ich will mir das ansehen, irgendeine Erklärung muss es geben.“
„Vielleicht sollten wir besser …“, begann Ria.
„Nein.“
Sie folgte ihm schweigend.
Der Vorort war genauso verlassen wie alles andere bisher. Vor einigen der Einfamilienhäuser standen Stadtgleiter, aber es waren wenige. Zu wenige. In keinem Gebäude brannte Licht, niemand war zu sehen. Die einzigen Geräusche waren seine Schritte, Rias leises Summen und der Wind, der durch die Straßen wehte, die Bäume rascheln ließ. Und er roch nichts, wie ihm zum ersten Mal bewusst wurde. Noch nicht mal die Bäume oder Winterpflanzen in den Vorgärten.
„Ria, stelle mal eine Verbindung zum Bordcomputer her und prüfe, ob während unseres Flugs etwas passiert ist. Lass dir alles auflisten, was auf eine Anomalie hindeutet, oder auf etwas abweichend vom erwarteten Flugumfeld.“
„Ich werde eine Suchsequenz starten. Wird einige Stunden dauern, bei der Anzahl an Jahren. Außerdem wissen wir nicht, wonach wir suchen.“
„Okay. Gib Bescheid, wenn du was hast.“
Edgar bemerkte bei einem der Häuser eine offen stehende Eingangstür und ging in diese Richtung. Die kleinen Hecken, die den Vorgarten vom Bürgersteig trennten, waren perfekt gerade geschnitten. Das ganze Gebäude und alles daran wirkte wie ein für Publikum zurecht gemachtes Musterhaus. Er trat ein und rief: „Hallo?“ Niemand antwortete, er hatte auch nicht damit gerechnet. Im Flur war auf der linken Seite eine Tür, die ebenfalls offen stand. Edgar betrat das dahinter liegende Wohnzimmer. Alles wirkte wie neu eingerichtet und unbewohnt.
„Können wir dann weiter?“, fragte Ria hinter ihm.
Edgar zuckte zusammen. „Wenn du mich nochmal so erschreckst, gehe ich ohne dich weiter.“
„Nein.“
„Doch. Ich will mir noch das Schlafzimmer ansehen.“
Er fand es auf der ersten Etage, wie erwartet wirkte auch hier alles unbenutzt. Ihn interessierte der Kleiderschrank, sein Inhalt. Irgendetwas, das auf Menschen hindeutete. Er war jedoch leer.
„Lass uns weiter. Hier gibt es nichts.“
Der Eindruck der Umgebung änderte sich nicht, als sie die Innenstadt erreichten. Alles blieb ruhig und verlassen. Wie erstarrte Riesen umgaben sie die Hochhäuser, nahmen ihnen das Tageslicht.
„Hat die Suchsequenz schon etwas ergeben?“, fragte Edgar.
„Nein, achtzehn Jahre sind nun geprüft, ohne Auffälligkeiten. Ich gebe dir schon Bescheid, wenn ich …“
„Ja, ich war nur neugierig. Ich werde den Autopilot des Gleiters aktivieren und hierher ordern, ich muss mir diese Geisterwelt nicht weiter ansehen. Wir fliegen zum Mars, dort wird man wohl wissen, was hier passiert ist.“
Er wollte den Kommunikator an seinem Handgelenk aktivieren, als er etwas am Rand einer der Wolkenkratzer bemerkte. Ein Licht, das die Farbe wechselte. „Was ist das?“, flüsterte er und ging darauf zu. Als er um die Ecke bog, sah er eine große, holografische Werbefläche. Sie zeigte eine Siedlung mit Musterhäusern. Davor stand eine junge Frau, Edgar schätzte sie um die zwanzig. In einem roten Kleid, die langen, blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Sie lächelte und drehte sich einmal um die eigene Achse. Dann schnippte sie mit Daumen und Mittelfinger. Die Siedlung hinter ihr verschwand, stattdessen erschienen Bilder von fertig eingerichteten Räumen. Sie zeigte darauf und sah ihn an. Schnippte erneut mit den Fingern, wonach die Werbefläche verschwand. Nur sie selbst blieb übrig, ihre vorher leuchtenden Farben wurden dunkler.
Lächelnd kam sie auf ihn zu. Edgar war zunächst wie erstarrt, ging dann einige Schritte rückwärts.
„Hab keine Angst“, sagte die junge Frau. „Es ist deine Welt.“
„Wer bist du?“, war das einzige, was Edgar einfiel. Sie kam ihm bekannt vor, vielleicht aus einem Werbespot.
„Ich bin kein Individuum, nur ein vom Kollektiv getrennter Teil. Erkennst du deine Welt? Sie ist noch nicht fertig, aber bald bin ich soweit.“
Edgar sah zu Ria, dann wieder zur Frau im roten Kleid. „Dann bin ich nicht auf der Erde?“
„Nein, aber ich wollte es dir so angenehm wie möglich machen. Warte!“ Wieder schnippte sie mit den Fingern. Um sie herum erschienen andere Menschen, gingen an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Auch in den Hochhäusern erschienen Lichter hinter den Scheiben, als hätte die Frau einen Schalter umgelegt und das Leben aktiviert.
„Es funktioniert!“ Sie klatschte in die Hände und sprang in die Luft.
Trotz der Situation ließ sich Edgar von der Fröhlichkeit der jungen Frau anstecken und lächelte.
„Und sagst du mir nun, wo ich bin?“
„Ja, du …“ Von einem Moment auf den anderen wurde ihr Gesicht traurig, die Augen gläsern. „Ich war neugierig, es liegt in unserer Natur. Es tut mir leid.“
„Was denn … Ist was passiert?“
Sie senkte den Kopf, wie ein Kind, das bei etwas erwischt wurde. Dann aktivierte sie erneut die holografische Fläche. Sie zeigte zunächst seinen Raumgleiter, aber nicht auf BER-8, sondern im Weltall. Nach einigen Sekunden wechselte das Bild und zeigte seine Kälteschlafkammer. Er erkannte die Kette mit dem kleinen, steinernen Kleeblatt, die auf einer Ablagefläche oberhalb der Kammer lag. Die er auch jetzt trug. Er selbst war in der Kammer durch das Schutzgel kaum zu erkennen. Etwas Rotes schimmerte hindurch, als hätte sich etwas über sein Gesicht gelegt. Die Farbe erinnerte ihn an das Kleid der jungen Frau.
„Was ist das, auf meinem Gesicht? Bist das …“
„Ja.“ Sie hielt den Blick gesenkt. „Ich wusste nicht, welch wunderbare Welten ich finden würde. Lange werde ich sie nicht mehr halten können.“
Nach einigen Sekunden verstand Edgar die Bedeutung des Bildes und ihrer Worte. Er taumelte rückwärts, setzte sich mit zitternden Beinen auf den Boden. Fast wäre einer der Passanten gegen ihn gelaufen.
„Wie lange noch?“, brachte er schließlich mit leiser Stimme hervor.
„Genau weiß ich es nicht, aber die Nacht ist nicht mehr weit.“
Sie schwiegen einige Minuten. Edgar blickte starr auf das Bild von sich in der Kälteschlafkammer. Ihm geisterten unzählige Fragen durch den Kopf, unter anderem, wie das Wesen in die Kammer gekommen war. Aber er stellte keine einzige davon, es würde nichts ändern.
„Darf ich mir etwas wünschen?“, wollte er schließlich wissen.
Sie blickte auf, mit der Andeutung eines Lächelns. „Ja!“
Edgar saß mit seinen Eltern auf einer großen Picknickdecke, nicht weit vom See entfernt. Es war der erste Tag der Sommerferien, morgen begann das Ferienlager. Hatte er je eine bessere Zeit gehabt, die sich lohnte, nochmal erlebt zu werden?
Seine Mutter las in einem Holo-Buch, sein Vater genoss wie so oft stumm die Sonne. Er stand auf, gab zuerst ihm und dann seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.
„Hey“, grummelte sein Vater, lächelte dabei aber.
„Womit haben wir das verdient?“, fragte seine Mutter.
„Ach, nur so. Weil ihr bei mir seid. Bin gleich wieder da.“
„Bleib in der Nähe!“, rief ihm seine Mutter hinterher.
Nicht weit entfernt saß die junge Frau auf einer kleinen Decke, diesmal in einem roten Badeanzug. „Hey, Edgar“, begrüßte sie ihn. „Genießt du deinen Wunsch?“
„Ich versuche es. Es ist alles so unwirklich.“ Über diese Worte musste er selbst kurz lachen.
„Es ist so wirklich, wie du es zulässt. Warte, es fehlt noch jemand.“ Ria schwebte hinter einem Baum hervor, auf ihrer Fläche ein Glas Eistee.
„Cool, danke! Eigentlich gehörst du hier nicht hin, Ria, ich kaufe dich erst später.“ Er nahm das Glas und trank einen großen Schluck.
„Irgendjemand muss dich ja bedienen.“
„In meinem Bordcomputer sind Informationen zu einer interessanten Welt, voller Leben. Falls es dich nicht stört, nass zu werden“, meinte Edgar, wieder an die Frau gewandt.
„Ich habe dazu schon einiges in deinen Gedanken gefunden und werde es dem Kollektiv ...“
Der Boden vibrierte leicht. Sie sah ihn an. „Es tut mir leid, Edgar. Nun geht es nicht mehr.“ Am Horizont wurde der Himmel schwarz.
„Was passiert jetzt mit mir?“, fragte er, als sich die Finsternis ausbreitete.
„Ich weiß es nicht. Was auch immer geschieht, wenn dein Organismus stirbt. Ich kann dich nicht in meine Welt holen, alles passiert in deiner.“
Edgar stellte das Glas wieder auf Rias Oberfläche ab. Die junge Frau und er blickten sich ein letztes Mal an. Tränen liefen ihre Wangen hinab. „Es tut mir leid“, wiederholte sie.
„So ist es nun. Vielleicht gibt es andere Welten.“ Er ging zu seinen Eltern. Beide hatten sich hingesetzt, blickten dem näher kommenden Schwarz entgegen. Er setzte sich dazu und umarmte sie. Ria schwebte über ihnen. Bis es dunkel wurde.
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