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Der Anruf

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05.09.2022
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Der Anruf

Alice war nicht überrascht, als ihr Handy klingelte. Es war ja nicht das erste Mal. Sie geriet nicht mehr in Panik, rannte nicht mehr in die Notaufnahme und machte Ärzte und Pflegepersonal nicht mehr mit ihren Fragen verrückt. Sie hörte aufmerksam zu (Sie musste nicht mehr fragen, in welches Spital sie gebracht worden war., sie wusste aus Erfahrung, dass die 144 einen in Zürich immer ins Unispital brachte.) Seufzend erhob sich Alice vom Sofa, auf dem sie sich nach einem langen Tag im Büro endlich hingesetzt und sich ein Glas Wein eingeschenkt hatte.

Ihr Beruf als Anwaltsassistentin langweilte sie zu Tode. Gescheiterte Existenzen zu ihrer Scheidungsgeschichte zu interviewen, empfand sie als Zumutung, genauso wie die Tatsache, dass sie Michael jeden Tag sehen musste. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr nicht absichtlich diese Fälle zuschanzte. Nach zwei Jahren hatten sie es aufgegeben. Also er. Er mochte nicht mehr zweite Geige spielen, sondern wolle ein normales Leben führen, verreisen und eine Partnerin haben, die frei war. Freier als Alice.

War es ein Klischee, sich vorzustellen, man wäre ein Vogel? Vogelfrei? Niemand sagte «Frei wie ein Maulwurf.» Oder ein Krokodil. Obwohl in Alices Augen alle Tiere frei waren. Freier als die meisten Menschen auf jeden Fall. Sie beneidete die Nachbarskatze, die tagaus, tagein auf dem Sessel auf dem Balkon lag und ab und zu reinging, um zu essen oder zu kacken. Gab es überhaupt freie Menschen? War nicht jeder gefangen in Konventionen, Erwartungen, Job, Miete bezahlen, Familie, Verpflichtungen?

Alice schaute sich im Flur im Spiegel an. Sie sah müde aus, abgekämpft. Alt für ihr Alter. Ihre Falten waren abends immer tiefer als morgens, das Make-up war leicht verschmiert, ihre mausbraunen Haare könnten wiedermal einen Schnitt vertragen. Langsam zog sie Stiefel und Mantel wieder an, nahm ihre grosse Handtasche vom Haken, schloss die Wohnungstür hinter sich zu und stieg schwerfällig die Treppe hinunter. Draussen nieselte es noch immer, nasse Blätter lagen auf dem glänzenden Parkplatz. Sie setzte sich in ihren alten Polo, starrte auf den nassen Parkplatz und schloss die Augen. Tief atmete sie den warmen, vom kürzlich gefallenen Regen dampfenden Asphalt ein. Wieso erinnerte sie dieser Geruch immer an ihre Kindheit? Als habe es damals nur Sommertage mit abendlichen Regenfällen gegeben. Schnee oder Wind erinnerten sie nie an ihre Kindheit. Nur Sonne und Regen, erst heiss, dann nass.

Ihre jungen Nachbarn kamen gerade nach Hause, mit Sack und Pack, hievten ihre schlafenden Kinder aus dem Rücksitz. Das Paar hatte es eilig, sie hielten die Kleinen ganz eng an sich geschmiegt, während sie zum Hauseingang ihres grauen Mehrfamilienhaues aus den Siebzigern hasteten. Alice seufzte. Ihr Magen zog sich für einen kurzen Moment zusammen. Sie hatte schon lange umziehen wollen, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, ihre enge Zweizimmerwohnung zu verlassen. Sie wusste ja nicht mal, wo sie lieber wohnen würde. Sie empfand einen nagenden Neid gegenüber diesen jungen Menschen, die wussten, wo sie hingehörten. Die sich umeinander kümmerten.

Kümmern musste sie sich zwar auch. Aber nicht freiwillig. Und nur einseitig. Sie konnte nicht mal mehr sagen, ob sie sich um Rosi wirklich Sorgen machte. Wenn sie ehrlich war, fuhr sie ausschliesslich aus dem immer gleichen schlechten Gewissen heraus zum Krankenhaus. Dieser Kieselstein, den sie seit ihrer Kindheit im Schuh hatte. Wie damals, als die Zigeuner sie an der Strandpromenade um Geld für ihre hungernden Kinder anbettelten. Sie wusste, es ist ein abgekartetes Spiel und dennoch gab sie ihnen Geld. Um ihr Gewissen zu beruhigen, um für ein paar Stunden nicht mehr über die Weltsituation und hungernde Kinder nachdenken zu müssen. Um ihre Ruhe zu haben.

Auch ihre Psychologin war dieser Meinung gewesen: «Sie tragen zu viel Verantwortung für Ihre Mutter.» No shit, Sherlock! Sie war damals 20 gewesen und war danach nie wieder hingegangen. Denn was hätte sie tun sollen? Ihre Mutter alleine lassen, ihrem Schicksal übergeben? Sie wusste selber, dass sie nicht helfen konnte, dass es theoretisch nicht ihre Aufgabe war, Rosi immer wieder wachzurütteln, über die Kloschüssel zu halten oder im schlimmsten Fall eben in die Notaufnahme zu fahren. Was wäre denn die Alternative gewesen? Hatte es je eine gegeben? Wie wäre ihr Leben wohl dann verlaufen?

Sie fuhr auf geradem Weg zum Unispital, nicht besonders schnell, sie hatte es nicht eilig. Es war praktisch, dass die Strasse von Schwamendingen zum Krankenhaus praktisch immer geradeaus ging. Als sie im ankam, wies man sie in ein Zimmer, dessen Storen runtergelassen waren. Alice konnte sich nur mit Mühe verkneifen, nicht rechtsum kehrt zu machen, der beissende Krankenhausgeruch bescherte ihr jedes Mal Herzrasen, ihr war leicht übel. Ihre Mutter lag in einem blendend weissen Bett, die strähnigen Haare klebten an ihrem Kopf, ihr Mund war leicht geöffnet, sie schlief. Ihre Wangen waren eingefallen und die Haut wirkte zerknittert und glänzte, wie das Papier, das der Metzger zum einwickeln der Steaks benutzte.

Alice war froh, noch etwas Zeit für sich zu haben, sie hätte sowieso nicht gewusst, was sie sagen soll. Nicht schon wieder. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, zog ihren Mantel nicht aus. Wenn ihre Mutter in 10 Minuten noch schliefe, würde sie wieder nach Hause fahren, sagte sie sich und riss an ihren Nagelhäutchen. Sie hatte schon zu viele Nächte am Krankenhausbett von Rosi verbracht.

Alice war sechs, als ihr Vater nicht mehr nach Hause gekommen war. Sie hatte damals nicht gewusst, dass es Menschen gab, die man anrufen konnte, wenn jemand am Boden lag und nicht mehr antwortete. Als sie ihre Mutter im Schlafzimmer neben dem ungemachten Bett vorfand, dachte sie erst, sie schliefe, aber als sie nicht aufwachen wollte, begann Alice fürchterlich zu weinen. Sie schrie sich die Angst aus dem Leib und war gleichzeitig wie erstarrt auf den Knien sitzen geblieben. Sie heulte so laut, dass die Nachbarin irgendwann rüberkam, um sich zu beschweren. Und hatte dann die Ambulanz gerufen. Seither wusste Alice, was eine Notrufnummer war und musste die Nachbarin nie wieder mit ihrem Heulen belästigen.

Ab diesem Tag ging sie nicht mehr gerne in die Schule. Sie wollte nur noch den Unterricht möglichst schnell hinter sich bringen, damit sie nach Hause konnte. An normalen Tagen kam sie nach Hause, ihre Mutter hatte gekocht und sie assen zusammen. An den müden Tagen – wie Alex diese insgeheim nannte – lag ihre Mutter im Bett. Meist schlief sie nur. Bis sie dann wiedermal im Wohnzimmer oder im Bad lag und ihr Zustand kein normaler Schlaf war. Alice entwickelte ein sicheres Gespür dafür, wann sie die Ambulanz anrufen musste und wann sie es selber regeln konnte. Selber regeln hiess: starken Kaffee machen, Rosi Wasser einflössen, manchmal die Haare halten, wenn sie kotzen musste.

Mit den Jahren war es zu einer Routine geworden. Nachdem sie ausgezogen war – eine Entscheidung, für die sie zwei Jahre gebraucht hatte – ging sie je nach Laune ihrer Mutter fast täglich bei ihr vorbei, um zu sehen, ob alles «normal» war. Das war es zwar nie, aber solange sie atmete, war es Alice normal genug.

Rosi stöhnte im Schlaf. Ihre eingefallenen Wangen bliesen sich bei jedem Atemzug leicht auf, sie schnarchte leise. Gesicht und Haare schienen farblos, Rosi schien durchsichtig. Aber nicht auf eine romantische Jane Austin Art, sondern eher, als würde sie langsam verschwinden, wie Rauch, der sich verflüchtigte. Zehn Minuten waren vergangen, seit Alice sich hingesetzt hatte. Sie stand auf und wollte das Zimmer verlassen, als ein bulliger Pfleger die Tür öffnete. «Schläft sie noch?», fragte er Alice und schwebte ins Zimmer. Für seine Körpermasse war er erstaunlich leichtfüssig unterwegs. Bevor Alice antworten konnte, hatte er sich selber vergewissert, dass Rosi noch schlief, kontrollierte ihre Infusion und die piepsenden Geräte.

«Was ist passiert?», fragte Alice, obwohl sie das natürlich längst wusste. In der Regel nahm ihre Mutter Tranquilizer mit Alkohol, wobei dieser variierte. Rosi hatte es schon mit Vodka, Tequila und Wein versucht. Auch die Tabletten waren nicht immer dieselben gewesen: Xanax, Valium, aber auch Betablocker hätten ihr schon mehrmals ins Jenseits verhelfen sollen. Doch jeder Versuch war bisher gescheitert. Unter anderem daran, dass Alice sie jeweils fand und die Ambulanz anrief. Jeder dieser Versuche entfernte sie etwas mehr von der Person, die sie einmal gewesen war. Von Alices Mutter. Mama.

«Sind Sie die Tochter?», fragte der Pfleger, wohl aus Pflichtgefühl. Suizid war immer ein heikles Thema, das konnte man nicht mit jeder Dahergelaufenen besprechen. «Ja, Alice Schneider.» stellte sich Alice vor. Der Pfleger nickte. «Ihre Mutter hat Ihren Namen genannt, nachdem wir ihren Magen ausgepumpt haben. Sie hat Schlaftabletten genommen, zusammen mit Vodka.» Aha. Er liess diese Aussage im Raum stehen, ging wohl davon aus, dass auch Alice wusste, dass das keine gesunde Kombination war. Entsprechend nickte sie nur. Ob er wusste, dass es nicht das erste Mal war? Das stand bestimmt in Rosis Krankenakte.

Früher hätte sie sich noch geschämt. Für ihre Mutter. Aber vor allem für sich. Hatte sich verantwortlich gefühlt. Schuldig. Offensichtlich hatte sie als Tochter versagt, warum sonst wollte ihre Mutter nicht mehr leben? Wenn schon nicht für sich selber, dann wenigstens für ihre Tochter?

Der Pfleger verschwand so leise, wie er gekommen war. Rosi öffnete die Augen und sah Alice direkt an. «Es tut mir leid», hauchte sie und schloss die Augen wieder. Alice wollte ihre Augen auch schliessen, sie war müde, so müde. Wie oft hatte sie diese Entschuldigung ihrer Mutter schon gehört? Zehn Mal? Zwanzig? Zum ersten Mal als Sechsjährige, als sie vollkommen aufgelöst neben ihrer Mutter gesessen hatte und auf die Ambulanz gewartet hatte. Und dann in unregelmässigen Abständen bis heute, kurz vor ihrem 46sten Geburtstag.

Wieso hasste ihre Mutter ihr Leben so? So schlecht konnte es doch nicht gewesen sein? Zumindest nicht in Alices Augen, wenn sie über das Unglück so vieler anderen Menschen nachdachte. Aber Rosi fand ihr Dasein offensichtlich unerträglich. Und Alice mittlerweile auch. Es gab keinen Moment in ihrem Leben, in dem sie keine Angst um ihre Mutter gehabt hatte, in dem sie sich frei gefühlt hatte. Immer war da Rosi im Hinterkopf. Rosi, die sie brauchte. Rosi, die traurig war. Rosi, die Migräne hatte, weshalb sie Alice mitten in der Nacht weckte, damit sie ihr eine Tablette brachte. Oder sie machte gerade sonst eine Krise durch und Alice musste da sein. Nicht weg gehen, bitte bleib bei mir, lass mich nicht alleine!

Mit 23 hatte Alice es gewagt, von zu Hause auszuziehen. Schon die Ankündigung ein paar Monate im Voraus hatte für ein unsägliches Drama gesorgt, worauf Alice das Thema nie wieder ansprach, bis zum Tag des Auszugs. Ein Freund war gekommen, um ihr zu helfen, ihr Kinderzimmer auszuräumen. Während dessen sass Rosi im Wohnzimmer und heulte Rotz und Wasser. «Wie kannst du mir das antun? Gerade jetzt?» Wobei Alice nicht genau wusste, wieso gerade jetzt schlechter war als vor zwei Monaten oder in einem Jahr. Es war nie der richtige Zeitpunkt. Danach hatte Rosi Alices neue Wohnung kein einziges Mal sehen wollen. Wenn Alice erwähnte, sie wolle in die Ferien fahren, fragte Rosi sie ängstlich «Wie lange?». Als ein Jahr später eine Wohnung in Rosis Siedlung frei wurde, zog Alice ein, obwohl ihr die Gegend in der Agglo überhaupt nicht gefiel.

Rosi war wieder eingeschlafen und Alice nahm die Gelegenheit wahr, um sich endlich aus dem Zimmer zu schleichen. Es war bereits nach acht, sie wollte nur noch nach Hause, endlich ihr Glas Wein fertig trinken und irgendeine Serie netflixen. Bevor man sie zurückrufen konnte, hastete sie zum Parkplatz, stieg in ihr Auto und fuhr nach Hause.

Sie hatte sich gerade die Schuhe ausgezogen, da klingelte ihr Handy. Sie erkannte die Nummer auf Anhieb. Sie liess es klingeln und schlurfte in ihr Schlafzimmer. Dort zerrte sie den Koffer vom obersten Regal ihres Kleiderschrankes herunter. Einen Rucksack mit Rädern. Den hatte sie sich vor ein paar Jahren besorgt, als sie eine Weltreise plante. Damals dachte Alice, jetzt könne sie es endlich wagen und für ein paar Monate ihr eigenes Leben leben. Bis ein Anruf gekommen war.

 

Hallo @Wordnerd!

Ich hatte einige Probleme, in deine Geschichte hinein zu kommen, denn du erzählst von sehr vielen Dingen - gerade am Anfang - die später nicht mehr relevant sind. Daher brauchte ich sehr lange, um zu verstehen, worum es in deiner Geschichte eigentlich gehen soll: die Tochter, die viel zu früh Verantwortung für die Mutter übernehmen muss. Da würde ich dir raten noch drüber zu schauen, damit man sich als Leser schneller zurecht findet.
Ein Beispiel dafür ist die Klammer - die Information braucht keiner. Auch am Anfang viel es mir schwer, mich zu orientieren, wo ist dir Hauptfigur? Später kommt Büro, aber am Anfang stellte ich mir die Notaufnahme vor.

genauso wie die Tatsache, dass sie Michael jeden Tag sehen musste. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr nicht absichtlich diese Fälle zuschanzte.
Das ist auch so eine Information, die man nicht braucht.

War es ein Klischee, sich vorzustellen, man wäre ein Vogel? Vogelfrei? Niemand sagte «Frei wie ein Maulwurf.»
Vogelfrei und frei wie ein Vogel sind nicht synonym.

Es war praktisch, dass die Strasse von Schwamendingen zum Krankenhaus praktisch immer geradeaus ging.
Zweimal praktisch

Alice war sechs, als ihr Vater nicht mehr nach Hause gekommen war.
„war sechs gewesen“
Überhaupt wechselst du teilweise in der Zeit.

Lg Lucifermortus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi @Wordnerd,

ich bin normalerweise nicht so der Allgemeine-Ratschläge-Geber, das machen andere besser. Aber jetzt tu ich`s doch mal: Man sieht immer wieder, dass sich jemand hier neu anmeldet und gleich zwei oder mehr Geschichten einstellt. Das ist von außen gesehen nachvollziehbar: Wenn die eine Geschichte nicht gefällt, dann vielleicht die andere? Die Chance, dass jemand antwortet, scheint bei zwei Geschichten größer. Ist sie aber nicht: Alle hier schaffen nur eine kleine Auswahl der Texte. Wenn ich jetzt diese Geschichte von dir lese, dann sicher nicht die zweite. Wenn du sie in drei Wochen einstellst, sieht das schon anders aus. Da würd ich vielleicht sagen: Sieh an, das ist doch die von neulich usw. und wär eventuell schon wieder dabei.

Eigentlich versuche ich mir zur Zeit obendrein an die Regel zu halten, Neulingsgeschichten gar nicht zu kommentieren. Die Gefahr, dass das Neumitgled wortlos wieder verschwindet und seine Geschichte mitnimmt, ist statistisch ziemlich groß. Die meisten Neuanmeldungen, die ich in der letzten Zeit kommentiert habe, waran ein paar Tage danach (nicht deswegen :kuss:) spurlos verschunden. Ich bin in den letzte Jahren eher selten hier, da hoffe ich dann schon, wenn ich mir die Zeit abringe, auf eine Art Austausch (nicht immer und nicht zwingend, aber eine 20%-Quote ist mir zu wenig). Diesmal tu ich es aber halt und ich hätte das jetzt auch nicht so lange erklärt, wenn es nicht eben zugleich die Erklärung dafür wäre, warum ich mich im eigentlichen Kommentar (der viel mehr Zeit kostet, als so ein Geplauder hier herunterzutippen) kurz fasse.

Ich fand die Geschichte sprachlich teils ansprechend, teils zu wenig griffig. Ähnlich der Inhalt: grundsätzlich ein anspruchsvolles Thema im Hintergrund, aber so richtig kommt es nicht zum Tragen, da ist zu viel drumrum.

Wenn ich ein Beispiel rausgreifen sollte, dass meinen Eindruck veranschaulicht, würde ich diese Stelle wählen:

War es ein Klischee, sich vorzustellen, man wäre ein Vogel? Vogelfrei? Niemand sagte «Frei wie ein Maulwurf.»
Find ich von der Idee her schön, die (letztlich unausgesprochene) Metapher zu befragen. Auch das Schlingern zwischen dieser Metapher und dem ganz anders belegten "vogelfrei" gefällt mir. Mir fehlt nicht einmal eine Erklärung, dass die Protagonistin verstanden hat, dass "frei wie ein Vogel" und "vogelfrei" etwas ganz anders bedeuten. Dann geht es aber weiter:

Oder ein Krokodil. Obwohl in Alices Augen alle Tiere frei waren. Freier als die meisten Menschen auf jeden Fall.
... und damit wird es ausgelatscht. Ich hatte es vorher schon kapiert, der Maulwurf ist nämlich super: blind und unter der Erde, metaphorisch geradezu der Gegenpol, aber tatsächlich so frei, wie er sich nur wünschen kann, zu sein. Was soll das Krokodil jetzt Neues bringen? Die Menschen brauchst du auch nicht zu erwähnen, den Bogen kriegt man beim Lesen schon geschlagen (oder du hättest "Kinder" taggen müssen, aber das passt natürlich insgesamt dann nicht).
Sprachlich kriegst du so keinen Zug rein, und inhaltlich eben auch nicht, wenn deine Hauptsorgfalt darauf gerichtet ist, ja nicht aus Versehen etwas auszulassen.

Ich tät ja denken, das kann was werden mit dieser Geschichte, aber du müsstest dran arbeiten.

Besten Gruß
erdbeerschorsch

 

Danke für deine Inputs, sowohl betr. meiner Neumitgliedschaft und meiner Geschichte. Du hast, recht, ich traue den Lesern zu wenig zu. Ich würde mich sehr freuen, wenn du noch mehr kritisieren würdest, damit aus der Geschichte noch was wird. ;-) DAnke!

 

Danke für deinen kritischen Kommentar. Ich wollte die Figur lebendiger machen, in dem ich etwas Background bringe. Aber du hast recht, die Details sind danach nicht mehr relevant. Das finde ich eben so schwierig an Kurzgeschichten, alles sagen, aber nicht zuviel. Dein Input ist sehr wertvoll, danke!

 

Moin @Wordnerd ,

erstmal zur Seite: mit einem @ vor dem Namen kannst du User markieren, denen wird das dann direkt angezeigt. Ist ganz gut, um klar zu machen, auf wen du dich in welchem Kommentar beziehst. Probiere es einfach mal aus. Wenn du mit der Maus einen Teil markierst, kannst du ihn mit Zitieren nachher unten im Kommentar einfügen; das macht es leichter für dich, mit Texten und Feedback dazu zu arbeiten.

Kleimkram:

rannte nicht mehr in die Notaufnahme und machte Ärzte und Pflegepersonal nicht mehr mit ihren Fragen verrückt.

Zweites "nicht mehr" nach Pflegepersonal kann weg, das erste sollte reichen.

Sie hörte aufmerksam zu (Sie musste nicht mehr fragen, in welches Spital sie gebracht worden war., sie wusste aus Erfahrung, dass die 144 einen in Zürich immer ins Unispital brachte.)

Lass die Klammern weg, mach da einen richtigen Satz draus. Und der Punkt nach war muss weg.

Obwohl in Alices Augen alle Tiere frei waren. Freier als die meisten Menschen auf jeden Fall.

Naja, diskutabel. Tiere müssen zwar nicht Mama pflegen, sind aber anders durch den Menschen eingeeingt. Sehe aber, warum deine Prot. darauf kommt.

Sie beneidete die Nachbarskatze, die tagaus, tagein auf dem Sessel auf dem Balkon lag und ab und zu reinging, um zu essen oder zu kacken.

Kannst den Satz auch mMn. nach lag beenden.

Langsam zog sie Stiefel und Mantel wieder an, nahm ihre grosse Handtasche vom Haken, schloss die Wohnungstür hinter sich zu und stieg schwerfällig die Treppe hinunter. Draussen nieselte es noch immer, nasse Blätter lagen auf dem glänzenden Parkplatz. Sie setzte sich in ihren alten Polo, starrte auf den nassen Parkplatz und schloss die Augen. Tief atmete sie den warmen, vom kürzlich gefallenen Regen dampfenden Asphalt ein.

Schau mal, wie viele Adjektive du verwendest. Es lohnt sich oft, Worte, die von Adjektiven begleitet werden, einfach durch passendere zu ersetzen.
Außerdem: groß mit ß. Und der letzte Satz ergibt keinen Sinn, sie atmet schließlich nicht den warmen, dampfenden Asphalt ein, sondern den Wasserdampf. Bis der Asphalt so heiß wird, dass er selber dampft, ist Alice Geschichte.

heraus zum Krankenhaus.

Ins Krankenhaus ist besser.

Wie damals, als die Zigeuner sie an der Strandpromenade um Geld für ihre hungernden Kinder anbettelten.

Uff. Zigeuner ist ein schwieriger Begriff. Würde ich nicht verwenden. Ausnahme, deine Prot. hat ein verschrobenes Weltbild und du legst Fokus darauf, ihre Ansichten darüber in Vordergund zu stellen. Ansonsten würde ich es ersetzen.

zum einwickeln der Steaks benutzte.

Das Einwickeln.

Aber nicht auf eine romantische Jane Austin Art

Jane Austin-Art

Sind Sie die Tochter?», fragte der Pfleger, wohl aus Pflichtgefühl. Suizid war immer ein heikles Thema, das konnte man nicht mit jeder Dahergelaufenen besprechen. «Ja, Alice Schneider.» stellte sich Alice vor. Der Pfleger nickte. «Ihre Mutter hat Ihren Namen genannt, nachdem wir ihren Magen ausgepumpt haben. Sie hat Schlaftabletten genommen, zusammen mit Vodka.» Aha. Er liess diese Aussage im Raum stehen, ging wohl davon aus, dass auch Alice wusste, dass das keine gesunde Kombination war. Entsprechend nickte sie nur. Ob er wusste, dass es nicht das erste Mal war? Das stand bestimmt in Rosis Krankenakte.

Tipp für Lesbarkeit: Mach bei Dialogen Absätze, also ungefähr so:
"Ja, Alice Schneider", stellte sich Alice vor.
Der Pfleger nickte. "Ihre Mutter bla bla .."

Probiere das mal mit deinen Dialogen.

Während dessen sass Rosi im Wohnzimmer

Währenddessen zusammen, saß mit ß.

Inhalt: Der Knackpunkt des Textes, nämlich die Beziehung zwischen Mutter und Tochter, kommt erst auf den letzten Metern. Vorher geht es überwiegend um Alice selbst, aber ohne einen klaren Faden; du beschreibst ihr Leben und ihre Gefühlswelt, dümpelst dabei aber vor dich hin. Stell den Mutter-Tochter Konflikt mehr in den Vordergrund, darum geht es mMn. Schmeiß raus, was nicht damit zu tun hat. Bau den Konflikt aus. Aktuell sehe ich deine Geschichte nicht als Geschichte, mehr als Einführung in Alice leben. Es fehlt die Handlung.

So weit meine paar Cent. Hoffe, du kannst damit was anfangen.

Liebe Grüße
Meuvind

 

Liebe @Meuvind . Ja, kann ich, danke dir! Bin gerade dabei, den Text zu überarbeiten und finde deine Inputs spannend. Vor allem die Adjektive, ich wusste, mich stört der Absatz, aber ich wusste nicht warum. Das Doppel-S gibt es in der Schweiz so nicht, wir verwenden einfach ss. ;-) Danke dir!!

 

War es ein Klischee, sich vorzustellen, man wäre ein Vogel? Vogelfrei? Niemand sagte «Frei wie ein Maulwurf.»

Guter Vergleich,

liebe/r Wordnerd,

nur leider falsch.

Wer möchte schon gern ein Vogel sein und auf seinem Zug nach Süden über Norditalien als Leckerei „eingefangen“ zu werden? Um nur ein Beispiel zu nennen.

Oder gar der althergebrachten juristischen Formel der „Vogelfreiheit“ anheimfallen, wonach sich jederman gleich welchen Ranges und Standes an einem „Vogelfreien“ vergreifen kann. Der bekannteste für „vogelfrei“ erklärte Mensch heißt Martin Luther, ein Unruhstifter und Spalter der Gesellschaft, an dem sich die Elite des Reiches durch ein Urteil auf dem Wormser Kongress „gütlich“ tun wollte … ohne sich selbst die Hände schmutzig machen zu müssen.

Zu dieser naiven Haltung passt dann auch

Obwohl in Alices Augen alle Tiere frei waren.

Aber gemach, es gefallen mir durchaus Sätze wie die eine natürliche Haltung offenbarende
Sie beneidete die Nachbarskatze, die tagaus, tagein auf dem Sessel auf dem Balkon lag und ab und zu reinging, um zu essen oder zu kacken.

Nun, das gesprochene Wort ist flüchtig, kaum der Zunge „entkommen“ tritt es zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus, während das geschriebene Wort gefesselt auf seiner Unterlage liegt und alle sprachlichen Schwächen seines Schöpfers offenbart, wie hier gleich zu Anfang in der „Umklammerung“

Sie hörte aufmerksam zu (Sie musste nicht mehr fragen, in welches Spital sie gebracht worden war., sie wusste aus Erfahrung, dass die 144 einen in Zürich immer ins Unispital brachte.)
„sie“ (oder warum die Höflichkeitsform?) und warum der passivische-dreifache Verbverbund, wo „gebracht wurde“ doch ein Wort spart, aber vor allem warum der Punkt nach dem „war“?

Seufzend erhob sich Alice vom Sofa, auf dem sie sich nach einem langen Tag im Büro endlich hingesetzt und sich ein Glas Wein eingeschenkt hatte.
Das zwote „sich“ ist entbehrlicher als das „endlich“ (auf das man aber „nach einem langen Tag“ sicher auch von sich - dem geneigten Lesser aus - hineindenken kann.)

Und nun kommen wir zu schwierigsten Thema überhaupt: dem Konjunktiv, der Möglichkeitsform, und da hab ich zunächst die Frage, warum hier

Ihre Falten waren abends immer tiefer als morgens, das Make-up war leicht verschmiert, ihre mausbraunen Haare könnten wiedermal einen Schnitt vertragen.
als hätte nicht der schlichte Indikativ „können“ in seiner Zweiwertigkeit von „können“ oder eben „nicht können“ genug Freiheiten, als ein offenes „könnte“ so sein …?

Draussen nieselte es noch immer, nasse Blätter lagen auf dem glänzenden Parkplatz. Sie setzte sich in ihren alten Polo, starrte auf den nassen Parkplatz und schloss die Augen.
Erwähnenswert wäre ein trockener Parkplatz trotz Regens … finde ich

Wieso erinnerte sie dieser Geruch immer an ihre Kindheit? Als habe es damals nur Sommertage mit abendlichen Regenfällen gegeben.
Wer erzählt da über Sommertage?
Konj. I ist die Form indirekter Rede – in dem Fall dann die Frage, wessen Stimme? Der Konj. II, "als hätte es ..." äußert offen Zweifel ...

Als sie im ankam, wies man sie in ein Zimmer, …
Ich bin mir sicher, da liegt kein ÜbertragungsFEHLer von mir vor.
Wo kam sie an?
Du bist auf jeden Fall hier angekommen und ein bisschen ordentliche Korrekturlesung (am besten durch einen Freund oder Bekannten, allein ist allemal schwieriger, weil man ja im Grunde sein eigener Herr ist & damit

welcome 2 the pleasuredome vom

Freatle

 

@Friedrichard Danke dir! Ja, ich merke schon, dass man selber einfach zu tief drin ist, als dass man solche Fehler bemerkt. Lesson learned, aber ich finde dieses Forum sehr hilfreich!

 

Hallo Wolnerd,
das hört sich ja leider sehr nach selbst Erlebtem an. Deine Geschichte erinnert mich an etwas, was ein Kumpel mir über seine Mutter erzählt hat. Nach der Scheidung ergab sie sich dem Alkohol, und er musste für sich und seine beiden Geschwister den ganzen Haushalt schmeißen, obwohl er auch noch ein Kind war. Das hat ihn natürlich völlig überfordert. Naja, jedenfalls blitzt seine Wohnung immer, wenn man bei ihm vorbeikommt. Seine Mutter klinkte sich erst wieder ein, als sie einen neuen Mann kennenlernte. Warum hat das für uns Frauen eine so große Bedeutung, dass viele von uns völlig abdrehen, wenn wir verlassen werden? Wahrscheinlich liegt es daran, dass den Mädchen von Kindesbeinen an eingehämmert wird, dass Liebe das Wichtigste im Leben ist. Ein realitätsfernes Bild von Beziehungen wird gezeichnet. Nicht umsonst fallen bei Boybands immer reihenweise Mädchen vor Begeisterung in Ohnmacht.
Gruß Frieda

 

Hallo Wordnerd,

in der Geschichte wird ein ernstes Thema behandelt. Gerade deshalb muss ich (im positiven Sinne) hervorheben, wie mutig ich es finde, dass du über so etwas Schwieriges schreibst.

Ich dachte mir, ich gebe dir hier in Kurzform wieder, was bei mir als Leser ankam; vielleicht hilft das als Reflexion:

Bei mir kam an, dass Anwaltsassistentin Alice immer wieder ihre Mutter Rosi im Krankenhaus besucht und sich um diese kümmert. Diese wollte sich bereits mehrmals das Leben nehmen. Alice hat dafür ihr eigenes Leben sehr hinten angestellt. Am Ende der Geschichte scheint es so, als ob sie sich jetzt davon loslöst.

Ich habe Anfangs ein bisschen gebraucht, um in den Text reinzukommen, die Ausführungen über Rosi sind aber sehr gut verständlich.

Wie ich sehe, bist du auch neu :-)

Gruß Adelynn

 

Hallo @Wordnerd
Und auch von mir ein herzliches Willkommen hier!!!

Grundsätzlich kann ich mich den Vorkommentatoren anschließen :)

Daher ein paar Details:

Alice war nicht überrascht, als ihr Handy klingelte. Es war ja nicht das erste Mal. Sie geriet nicht mehr in Panik, rannte nicht mehr in die Notaufnahme und machte Ärzte und Pflegepersonal nicht mehr mit ihren Fragen verrückt.
Ich mag den Einstieg. Er hat Bezug zum Titel, und betont, dass etwas "nicht normal" ist.

Sie hörte aufmerksam zu (Sie musste nicht mehr fragen, in welches Spital sie gebracht worden war., sie wusste aus Erfahrung, dass die 144 einen in Zürich immer ins Unispital brachte.)
Wenn Du den Satz in Klammern drinlässt, fehlt aus meiner Sicht ein Punkt am Satz vor der Klammer.
Ihr Beruf als Anwaltsassistentin langweilte sie zu Tode.
Das habe ich nicht so gerafft, wieso sie sich zu Tode langweilt - bzw. was das mit dem Kern der Geschichte zu tun hat. Eigentlich müsste sie sich doch besser fühlen, wenn sie das Elend anderer Menschen mitbekommt.
Gescheiterte Existenzen zu ihrer Scheidungsgeschichte zu interviewen, empfand sie als Zumutung, genauso wie die Tatsache, dass sie Michael jeden Tag sehen musste.
Hier ist mir zu viel in einem Satz. Zum einen wird davon ausgegangen, dass "gescheiterte Existenz" und "Scheidung" zusammengehören - warum eigentlich? Ich hatte Probleme den Satz zu entziffern weil diese Puntke für mich getrennt sind (bzw. sein können). Also eine Gescheiterte Existenz braucht nicht unbedingt eine Scheidung, und eine Scheidugn muss nicht unbedingt zu einer gescheiterten Existenz führen. Dazu kommt dann noch ein Michael reingeworfen. :) Ich hoffe, du verstehst was ich meine ;)

Nach zwei Jahren hatten sie es aufgegeben. Also er.
Entscheide Dich (als Autor) doch gleich, wer aufgegeben hat.
War es ein Klischee, sich vorzustellen, man wäre ein Vogel? Vogelfrei?
Ui. Also "Frei wie ein Vogel" und "vogelfrei" sind sehr unterscheidliche Dinge. Das würde ich nicht zusammenwürfeln!
Niemand sagte «Frei wie ein Maulwurf.» Oder ein Krokodil.
Das fand ich gut! :)
Ihre jungen Nachbarn kamen gerade nach Hause, mit Sack und Pack, hievten ihre schlafenden Kinder aus dem Rücksitz.
Hier passt mir die Zeit nicht. Ich kenne das Bild, von schlafenden Kindern aus dem Auto - aber wenn das so Feierabend-Zeit (16-18 Uhr) ist, wo die Eltern die Kids von Schule oder Kita abholen, dann sind die aufgedreht und schlafen nicht, Bzw. Suggeriert das Schalfen der Kinder für mich "nach 21 Uhr".
Wieso hasste ihre Mutter ihr Leben so? So schlecht konnte es doch nicht gewesen sein?
Das "so" im ersten Satz würde ich streichen. Es würde den Satz klarer machen und die Wortwiederholung wäre vermieden.

Soweit meine Kommentare.
Ich hoffe Du kannst damit etwas anfangen.

Viel Spaß hier!
pantoholli

 

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