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Der Baum

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10.02.2000
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Der Baum

Ich klopfe kurz an die schäbige Holztür und trete ein.
»Sag mal, kannst du nicht abwarten, bis ich ‚Herein‘ sage oder so?«
Andi liegt auf der Couch. Auf seiner Brust ein Penthouse. Dem Cover nach eines aus den 70ern.
»Hast du immer noch diese alten Wichsvorlagen von damals?«, frage ich ihn und lasse mich in den Sessel vor dem kleinen, nicht minder schäbigen, Wohnzimmertisch fallen.
»Stapelweise. Diese Mädels von damals hatten einfach Klasse. Nicht so rasiertes Zeug wie heute. Damals gab es noch Buschlandschaft. Alle Größen, alle Formen, alle Farben.«
Wir blicken uns an und schweigen. Jeder wartet auf den nächsten Satz. Andi gibt auf.
»Ich hätte ja auch hier liegen und mir einen runterholen können. Ein wenig Anstand beim Eintreten käme mir gelegen.«
»Du bist doch nach wie vor Linkshänder, oder?«
»Ja, schon«, antwortet er und nimmt seine linke Hand in Augenschein.
»Und die ist seit zwei Wochen im Streckverband. Sehe ich das richtig?«
»Ja … okay, aber ich könnte ja auch mit der rechten Hand …«
»Erzähl mir nix«, unterbreche ich ihn, »sich umgewöhnen, in unserem Alter, da muss man trainieren, ansonsten reißt man sich die Vorhaut ab.«
Andi presst die Lippen aufeinander und schmeißt die 70er-Wichsvorlage hinter sich auf den Boden.
»Aber gute Artikel drin, nach wie vor. Toll geschrieben.«
»Andi, die sind 40 Jahre alt.«
»Na und? Ist wie mit den Rasierten und den Büschen. Früher war eben alles besser. Auch die Artikel.«
Er stemmt sich hoch, die lädierte Hand weit von sich gestreckt.
»Jetzt weiß ich immer noch nicht, wie du hereingekommen bist?«
»Du hast mich ja auch noch nicht gefragt. Lediglich ob ich nach dem Klopfen nicht auf ein ‚Herein‘ warten könnte. Aber kein Problem. Ich verrate dir, wie ich in deine Wohnung gekommen bin. Du hast mal wieder den Schlüssel von außen stecken lassen.«
Andi runzelt die Stirn und zieht die linke Augenbraue hoch.
»Ach! Tatsächlich? Schon wieder?«
Er seufzt und schaut mich mit Dackelblick an.
»Liegt das am Alter, Heinrich? Sind wir schon so alt? Wann geht denn das los mit der Demenz?«
»Ich geh erst mal zwei Kölsch holen.«
Sein Gesichtsausdruck hellt sich auf.
»Bring mir auch zwei mit. Danke.«

Mein Weg in die Küche führt mich am Esszimmer vorbei. Dort auf dem Boden vor dem breiten Fenster liegt ein Tannenbaum. Vollständig geschmückt. LED-Lichter blinken in unterschiedlichen Farben. Kurz wundere ich mich über das, was ich da sehe. Wofür soll der sein? Andi lebt alleine. Ebenso wie ich. Ich werde ihn fragen müssen.
In der Küche muss ich nicht lange nach dem Bier suchen. Andis Samsung-Kühlschrank ist mannsgroß und bis ins oberste Fach mit Reissdorf-Kölsch gefüllt. Neben diesem Samsung-Monster steht ein kleiner Eisschrank, normale Küchenhöhe, brummt ob seines Alters sehr laut vor sich hin und in ihm befindet sich alles Essbare; in der Hauptsache Tiefkühlzeug. Ich nehme sechs Flaschen aus dem Samsung und gehe zurück ins Wohnzimmer.
Andi hat sich zurückgelehnt, die Augen geschlossen und das Gesicht so entspannt, als befände er sich gerade in Tonga-Tonga zwischen einer Unmenge Mädchen und Hektoliter Caipirinha. Das Abstellen der Flaschen auf dem Tisch bringt ihn zurück ins Jetzt. Ich öffne zwei und wir lassen es klacken. Der erste Schluck ist immer der schönste. Kühl und leicht prickelnd. Wir schaffen es, die Hälfte unserer Flaschen leer zu trinken, setzen ab und bringen ein ‚Ah‘ raus. Für einen Wimpernschlag sind Andi und ich irgendwie glücklich. Dann fällt mir der Baum ein.

»Da liegt ein Tannenbaum in deinem Esszimmer auf dem Boden. Sieht wie ein missglückter Weihnachtsbaum-Versuch aus.«
»Genau das ist es. Ein missglückter Weihnachtsbaum-Versuch.«
Ich trinke meine Flasche leer und stelle sie auf dem Tisch ab. Ein gepflegter Rülpser folgt.
»Den letzten Weihnachtsbaum habe ich hier 1998 gesehen, kurz bevor Klara und die Kinder dich verlassen haben.«
»1998? Bist du dir sicher?«
Andi trinkt aus und öffnet zwei weitere Flaschen. Ich überlege, ob 1998 sein kann. Das war sechs Jahre, bevor meine Frau auf und davon ist. Da war sie hochschwanger mit Fritzi, meinem Sohn. Und der kam 2004 auf die Welt; das ist sicher.
»Völlig sicher. 1998«, bestätige ich.
»Und jetzt haben wir …«
»2020.«
»Scheiße«, sagt Andi und trinkt die zweite Flasche zur Hälfte aus. Er rülpst in seinen geschlossenen Mund, aber der Innendruck ist höher als die Kraft seiner Kiefermuskeln. Es hört sich an wie ein angestochener Fahrradreifen.

»Der Baum, Andi. Warum?«
Er sieht mich an. Dann trinkt er die Flasche leer. Ich warte und bin still, denn ich sehe, dass es in ihm arbeitet, an ihm nagt. Andi findet nicht gleich die richtigen Worte, wenn es kompliziert wird. Er holt tief Luft.
»Paula ist Mama geworden«, platzt es aus ihm heraus.
»Paula? Deine Tochter?«
»Genau die. Mama! Stell dir mal vor. Paula ist Mama … ich bin Opa!«
Er stellt die Flasche auf den Tisch und öffnet die dritte, setzt sie an und lässt es laufen. Ich tue es ihm nach und trinke sie leer. Paula ist Mama, geht mir durch den Kopf. Die kleine Paula. Die müsste ja schon knapp dreißig Jahre alt sein. Ich sehe, wie Andis Augen feucht werden. Er starrt auf seine linke Hand. Die Verletzung hat er sich zugezogen, als wir vor zwei Wochen das Samsung-Monster in die Wohnung gewuchtet haben.
Urplötzlich haut Andi mit der linken Hand auf den Tisch. Er schreit vor Schmerz. Eine Flasche fällt um und rollt über die Kante. Ich stehe reflexartig auf, beuge mich über den Wohnzimmertisch und versetze ihm eine Ohrfeige. So wie ich es schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit immer getan habe in solchen Momenten. Andis Mutter bat mich eines Tages dies zu tun, wenn Andi mit der Faust oder etwas anderem auf irgendwas haute, was in der Nähe stand. Was zuerst befremdlich auf mich wirkte und mir die Schamesröte ins Gesicht trieb, erwies sich als überaus wirksam, um meinen besten Freund wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Andi war mir deswegen nie böse. Andere Menschen schon, aber mit denen war ich nicht befreundet.

Andi schniefte und kramte ein zerknülltes Taschentuch aus der Hose, schnäuzte hinein und stellte die Flasche wieder auf den Tisch. Er nickte mir zu und ich öffnete meine dritte Flasche.
»Der Baum?«, wiederhole ich meine Frage.
»Paula rief mich vor ein paar Tagen an und erzählte, sie sei Mama geworden. Du kannst dir vorstellen, wie baff ich war …«
»Ich kann es mir vorstellen«, nicke ich.
»… aber dann legte sie einfach wieder auf. Und ich wollte noch so viel sagen. Verstehst du? Und da kam ich auf die Idee, wir könnten ein einziges Mal zusammen Weihnachten feiern. Nur ein einziges Mal. Also rief ich sie wieder an, und ... sie sagte zu, sie hat ‚Ja‘ gesagt. Weil der Kleine auf der Welt sei und ich ja der Opa …«
Er stockt und starrt auf das Reissdorf-Etikett.
»Wir brauchen mehr Bier. Holst du noch?«
»Kein Problem«, sage ich und pack die Flaschen zusammen. Auf dem Weg in die Küche sehe ich nach dem Weihnachtsbaum. Er blinkt. Allerdings – das fällt mir erst jetzt auf – hat Andi ihn nachträglich dekoriert. Auf der Unterseite ist überhaupt keine Deko zu sehen. Ich muss ihn fragen.
Im Samsung nehme ich von oben wieder sechs Flaschen, räume vom mittleren Fach sechs nach oben, vom unteren sechs in die Mitte und fülle aus dem Kasten unten wieder auf. Die Logistik beim Bier trinken ist besonders wichtig. Im Hängeschrank über der Arbeitsplatte finde ich Chips, Salzstangen, Erdnüsse und noch eine Menge mehr salziges Zeug, das dafür sorgen wird, dass Andi und Heinrich nicht wirklich alt werden.

Zurück im Wohnzimmer finde ich Andi dieses Mal am Fenster stehend vor. Ein halbes Jahr zuvor riet ich ihm, die alten Ado-Gardinen mal reinigen zu lassen, denn schon damals waren sie grauer als der PVC-Boden in seiner Küche. Aber Gardinen sind eben nur Gardinen. Unwichtig wie ein Kropf. Ich öffne zwei Flaschen und reiche Andi eine. Wir trinken einiges von dieser köstlichen gelben Brühe, setzen ab und starren durch das Muster der Gardinen auf die Stammstraße hinunter.
»Hier ist es viel ruhiger als drüben bei dir in der Venloer Straße.«
»Das stimmt. Ist aber auch nicht allzu schwer. Ist halt keine Einkaufsstraße hier.«
Andi dreht seinen Kopf zu mir.
»Ist nicht mehr wie früher hier, oder?«
»Du kennst die Antwort.«
Er ignoriert, was ich sage, trinkt einen Schluck und schaut hinaus.
»Das war mal die Wohnung meiner Eltern. Und ich habe sie gekauft, als es mir …«, er nickt beiläufig, »… uns noch gut ging. Damals habe ich mir nicht verziehen, Mutter in ein Heim gesteckt zu haben. Aber es gab halt keinen Platz hier für uns alle. Verstehst du? Heute denke ich …«
Ich lege ihm meine Hand auf die Schulter und drücke sanft zu.
»Andi … du musst mir nichts von alldem erzählen. Ich weiß alles. Du hast Entscheidungen getroffen. Ich habe Entscheidungen getroffen. Offenbar waren einige davon falsch.«
»Ganz offensichtlich.«
»Möchtest du Chips?«
Er sieht mich überrascht an.
»Wo hast du die Chips her?«
»Aus deinem Hängeschrank. Sind das noch die von letztem Silvester, oder wie?«
»Möglich.«

»Egal«, sage ich, trinke meine Flasche leer und reiße Chips, Erdnüsse und Salzstangen auf. Wir setzen uns, schieben uns das Knabberzeug mit vollen Händen in den Mund und spülen ordentlich nach. Wie früher, denke ich und kurz erscheint ein Bild aus Andis Kinderzimmer in meinem Kopf, er und ich mit Erdnüssen, Reissdorf und stierem Blick auf seinen Mini-Fernseher. Die Anspannung hoch, denn der FC versucht den HSV zu demontieren. Muss 1978 gewesen sein. Das Bild verblasst. Die Chips schmecken in der Tat wie alte Pappe.
»Andi?«
»Hm?«
»Warum ist der Baum nur auf einer Seite geschmückt?«
Er hört für einen Moment auf, die Erdnüsse zu zermahlen. Andi sucht die richtigen Worte. Mir fällt in dieser plötzlichen Stille auf, wie sehr ich ihn mag.
»Paula hat wieder angerufen. Einen Tag später. Sie hat abgesagt. Irgendwas von Corona gefaselt. Ich sagte, dass ich nie rausginge, mir alles bringen lasse. Und soviel ich weiß, werden junge Mütter doch getestet und … Gott, was hab ich gejammert. Sie hört sich mein Geschwafel an und sagt dann: ‚Mama will nicht, dass wir kommen. Wie jedes Jahr. Du weißt doch, Papa.‘«
Er kaut einige Male und es macht den Anschein, als habe er vergessen, dass ich ihm gegenüber sitze. Ich warte und trinke leer, öffne eine weitere Flasche.
»Ich habe sie und ihren Bruder in all diesen Jahren zehn Mal oder so gesehen.«
Er sackt sichtlich in sich zusammen, schiebt eine Ladung Chips in den Mund, von der die Hälfte links und rechts auf Couch und Boden fällt.

»Du hast dich nie um das Besuchsrecht gekümmert, Andi. Das habe ich nie verstanden. Wie oft habe ich dir dazu geraten? Kann man wohl nicht mehr zählen. Warum nicht?«
»Es hat mir genügt, dass ich für Unterhalt und Schulfahrten und all das aufgekommen bin. Ich habe mich dabei gut gefühlt. Fast wie ein Papa …«, er trinkt einen kräftigen Schluck, leert die Flasche und blickt hinein. Ich öffne ihm eine neue.
Weil er schweigt, ab und zu etwas trinkt und die Wand hinter mir anstarrt, versuche ich mir den Rest zu denken.
»Paula hat dich angerufen. Du bist losgestürzt und hast einen Baum gekauft, Lametta und den Kram. In knapp dreißig Jahren nie einen Weihnachtsbaum aufgebaut, es völlig vermasselt, ihn liegen lassen und dann ne LED-Kette drüber gehängt und das Lametta drauf geworfen. So war es, oder?«
»So war es«, bestätigt er.
»Und einen Tag später ruft dich Paula an und sagt ab. Und jetzt bleibt der Weihnachtsbaum dort liegen und leuchtet, bis sie dich mit den Füßen voraus aus der Wohnung tragen.«
Er sieht mich an und lächelt plötzlich, zuckt mit den Schultern. Wir stoßen an, trinken leer, rülpsen beide zugleich schlechte Bierluft an die Decke und lachen einfach über nichts.
»Ich bin ein Verlierer«, sagt er plötzlich.
Ich höre auf zu lachen und stehe auf.
»Komm, hoch mit dir, wir gehen jetzt zu diesem Baum.«
»Warum?«
»Wir stellen das Teil richtig hin. Und zwar hier ins Wohnzimmer.«
Andi zögert kurz. Dann steht er auf und folgt mir ins Esszimmer.

Nach einer Stunde bierloser Plackerei steht der Baum in voller Pracht mitten im Wohnzimmer. Er reicht fast bis an die Decke. Wir haben silbernes Lametta bis zur Geschmacklosigkeit auf die grünen Äste geworfen und mit Draht ein paar leere Konservendosen statt der nicht gekauften Baumkugeln angehängt. Andis Weihnachtsbaum blinkt grün, weiß, blau, rot und violett. Wir stehen vor ihm, zwei weitere Reissdorf geköpft und trinken ein paar kräftige Schlucke. Andi setzt ab und sieht mich an.
»Das ist der hässlichste Weihnachtsbaum, den ich jemals gesehen habe. Sowohl im echten Leben als auch im Fernsehen«, meint er.
»Stimmt. Schlimmer geht es nicht. Allerdings das mit den Konservendosen finde ich schon ziemlich kunstvoll.«
»Du hast nie Weihnachten gefeiert, Heinrich, nicht wahr? Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern …«, er überlegt kurz, »… außer in der Zeit, als wir Kinder waren.«
»Ich war anwesend. Aber ich habe es nie mitgemacht. Auch nicht als Kind.«
Andi nickt.
»Dafür habe ich dich geliebt«, sagt er leise.
»Für was?«
»Dafür, dass du anders warst als alle drumherum …«
Andi schluckt vernehmlich und räuspert sich.
»… aber immer in meiner Nähe. Immer …«
»Weißt du was«, unterbreche ich ihn.
»Was?«
»Wir werden Weihnachten zusammen feiern. Du und ich. Wir kochen ein Essen. Und wir schenken uns was. Scheiß auf die anderen.«
Andi schaut verdutzt. Aber schnell beginnt er zu lächeln. Ich lege meinen Arm um seine Schulter.
»He, weißt du noch? So standen wir früher den Thönnes-Brüdern gegenüber. Arm um die Schulter. Wie eine Mauer.«
»Weiß ich noch«, antworte ich, »aber wir haben auf die Fresse bekommen. Ordentlich.«
»Egal«, sagt Andi.
»Egal«, bestätige ich und stecke meine Hand in die Hosentasche, weil da was Schweres drin ist. Ich ziehe Andis Schlüssel heraus.
»Hier. Vergiss bloß nicht mehr, ihn abzuziehen. Sonst klaut womöglich noch jemand diesen wundervollen Weihnachtsbaum.«
Wir lachen, wegen nichts.

 

Moin @oneill,

hat dir ein Lächeln ins Gesicht gebracht. Dann hat die kleine Geschichte doch ihren Zweck erfüllt. Eine schöne Nachricht, an diesem Mittwoch, den 10.3.21. Mehr kann man von Worten nicht verlangen. Auch wenn es wohl, wie du schreibst, ein wenig traurig war. Tragikomisch vielleicht. So wie das Leben nun mal ist.

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Griasle
Morphin

 

Hallo @Morphin,

So viele Zitate, die ich richtig gut fand. Erst fand ich es in seiner Tragik lustig, aber zum Schluss hatte ich Pipi in den Augen. Wirklich schön.

Ich versuche mal, es in Worte zu fassen. Mir ist klar, dass es um Proleten geht, aber das du es schaffst, sie weder als minderwertig noch als Clowns darzustellen, find ich super. Ich erkenne darin die Aussage, dass die Sicht der beiden auf die Dinge keine Primitive, sondern nur eine andere ist. Wer ist man schon, persönliche Belange allgemein zu bewerten? Was dem einen unendliche Schmerzen bereitet, ist für den anderen nur ein Zipperlein, ... aber vielleicht seh ich das auch zu philosophisch.

Liebe Grüße
TheDeadFrog

 

Grüß dich @The Dead Frog,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Ich erkenne darin die Aussage, dass die Sicht der beiden auf die Dinge keine Primitive, sondern nur eine andere ist.
In der Tat. Wir sind schnell mit unseren klischeebehafteten Urteilen. Primitivlinge. Proleten. Underdogs. Loser. Wenn man es als Betrachter schafft, dies beiseite zu schieben, dann bleiben der Mensch und seine Würde. Da die "Proleten" ebenfalls Menschen sind, stehen sie vor den gleichen Problemen, wie der Betrachter. Auch ihr Blick ist nicht immer frei von Wertungen und Urteilen. Manchmal verhilft einem die Rolle des "Proleten" aber zu mehr Einsicht als es manch "höherklassige" Rolleninhaber je haben werden. Zu mehr Ehrlichkeit. Auch gegenüber sich selbst.

Übrigens, cooles Avatar-Bildchen.
Freitägliche Grüße
Morphin

 

Manchmal verhilft einem die Rolle des "Proleten" aber zu mehr Einsicht als es manch "höherklassige" Rolleninhaber je haben werden.

Das ist doch das Szenario, in dem ein kindliches "Warum?" Einen Herrn Dr. Dr. Prof. aus der Bahn wirft oder? :D

Zu mehr Ehrlichkeit. Auch gegenüber sich selbst.

Das unterschreibe ich zu 100%.

Übrigens, cooles Avatar-Bildchen.
Vielen Dank! Das Logo hab ich vor zehn Jahren mal für meinen ersten Blog gemacht. Das und der Nickname sind die einzigen Überreste.
Aber ich darf das auch zurückgeben. Ein Facepalm Che mit der klassischen Montecristo in der Hand. Schönes Ding.

Liebe Grüße und ein Schönes Wochende
TheDeadFrog

 

Hallo @Morphin,

wie ich aus den Kommentaren entnehme, hast Du das "Ding" einfach "hingeknallt". Begnadet, würde ich sagen. Lokalkolorit vom feinsten, Du zoomst so mächtig an die beiden Freunde ran, dass einem warm ums Herz wird. In dieser Story ist der ganze Schmerz über den Vorbeiflug des Lebens beschrieben. Hängengeblieben und nie losgelassen, irritiert über ihr eigenes Fahrwasser. Deutlich wird´s, wie sie am Fenster stehen und selbst das Leben ist aus der Straße gewichen. Beabsichtigt? Wenn ja, Respekt! Wenn nein, wie wunderbar! Eine Sentimentalität und Tiefe, die mich berührt hat. Freunde, die zusammen den Schmerz wegtrinken und so dem Fest etwas abgewinnen können. Hoffnung bis zur letzten Flasche. Zumindest haben beide das Rauchen aufgegeben. :-) Fazit? Geil!
Viele Grüße
Detlev

 

Guten Abend @Detlev,

Junge, da warst du im Keller der Geschichten! Und hast wieder rausgefunden. ?
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ist schon wieder Weihnachten, gell? Ehrenfeld, Stammstraße, mit all den Erinnerungen ... mit dem Wandel zurechtkommen, das ist verdammt schwer. Es gibt so viele von diesen Freundschaften da draußen ...

Es freut mich sehr, wenn dir die beiden auf die Pelle gerückt sind und du eine angenehme Lesezeit hattest. Darauf kommt es an. Vor allem in dieser manchmal einsamen Weihnachtszeit.

Beste Grüße
Morphin

 

Hallo Morphin,
habe Deine Geschichte gern gelesen. Das Weihnachten, dass Du beschreibst, entspricht wohl öfter der Realität in Deutschland, dem Land der Singles, als die Weihnachtsfeiern, die jetzt immer so über den Fernseher flimmern. Was läuft hier schief bei uns?
Ein Frohes Fest, hoffentlich mit nicht so viel Kölsch, wünscht Frieda

 

Tag @Frieda Kreuz,

danke fürs Lesen und deinen Beitrag. Weihnachten kann ja auch für eine einzelne Person was Besonderes sein. Ich selbst bin überhaupt kein 'Weihnachtsmensch', und das hat verschiedene Gründe. Innere wie äußere. An Weihnachten als Subjekt werden wohl nicht selten enorme Ansprüche gestellt, Wünsche hineinprojiziert von einem friedfertigen Seelenheil, das es so vielleicht gar nicht (mehr) gibt oder noch nie gegeben hat.

Aber das muss jede/r für sich selbst entscheiden.

Grüße
Morphin

 

Sehr schöner Text.

Lieber @Morphin ,

kannte den hier noch gar nicht. Ein bisschen traurig zu lesen, wer hier alles kommentiert hat und das davon kaum noch jemand aktiv ist derzeit. Anyways, zum Text.
Wie immer super nah, auch humorvoll und trotzdem tiefgehend. Was soll ich weiter dazu sagen? Ich erkenne mich darin wieder, auch wenn ich ein ganz anderes Leben führe und geführt hab. Dass du das schaffst, spricht eben für deine erzählerischen Qualitäten.

Was ich besonders gelungen finde:
Die Beschreibung der Szene und der Charaktere. Das ist detailliert und authentisch und ja, mir fehlt es hier einfach an nichts. Ich fühle mich gut aufgehoben in den Bildern, die du spinnst. Dann die Dialoge. Auch die sind 'echt' und tragen dazu bei, die Persönlichkeiten der Charaktere darzustellen. Der Plot ist so schmal wie er daherkommt, für mich dennoch sehr interessant und einfach menschlich. Ich will das sofort weiterlesen. Und zuletzt zum Stil: Wie immer gut geschrieben – flüssig und klar wie Gerolsteiner. Keine Flusen zu lesen und keine ungewöhnlichen Ausdrücke/Wendungen, die mich ansatzweise raushauen könnten.
Vielleicht als Anregungen daraus resultierend, weil irgendwie will man doch schon vielleicht auch noch mal einen Impuls bekommen: Ich finde, du dürftest ruhig mal mit Stil und Sprache experimentieren und versuchen, das zu schaffen, ohne da deine Klarheit und Unkompliziertheit einzubüßen, einfach mal auf Erkundungstour gehen. Ein bisschen mehr spielen ...
Ansonsten merkt man natürlich, dass du Romancier bist. Das schreit nach Hintergrundinformationen und Fortsetzung, was dem Text von der Anlage strukturell fast schon innewohnt. Vielleicht könnte das auch noch etwas mehr Pointe vertragen. Aber, wie gesagt, alles auf einem Niveau, wo ich sagen kann: das ist für mich einfach ein runder, sehr schöner Text.

Viele Grüße von
Carlo

 

Hallo @Morphin,

mal eben so eine kleine Weihnachtsgeschichte "runtergeschrieben". Du machst mich ein bisschen neidisch. Ich würde gerne so schreiben können, dass die Figuren so plastisch und greifbar werden.

Oder, um es anders zusamenzufassen, dieser kleine Weihnachtstext hat mich berührt. (Und ich erkenne Ähnlichkeiten zu der Art, wie du über Paul schreibst. )

Guten Abend @Detlev, Junge, da warst du im Keller der Geschichten! Und hast wieder rausgefunden. ?
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ist schon wieder Weihnachten, gell? Ehrenfeld, Stammstraße, mit all den Erinnerungen ... mit dem Wandel zurechtkommen, das ist verdammt schwer. Es gibt so viele von diesen Freundschaften da draußen ...
Na, da freut es mich, dass @Detlev diesen Text ausgekramt hat.

»Erzähl mir nix«, unterbreche ich ihn, »sich umgewöhnen, in unserem Alter, da muss man trainieren, ansonsten reißt man sich die Vorhaut ab.«
Uahaha, der Dialog ist klasse. Ich empfehle Selbstbefriedigung mit wechselnden Händen, dann kann sowas nicht passieren. :cool:

»Ich geh erst mal zwei Kölsch holen.«
Sein Gesichtsausdruck hellt sich auf.
»Bring mir auch zwei mit. Danke.«
Sehr schön.

Ich öffne zwei und wir lassen es klacken. Der erste Schluck ist immer der schönste. Kühl und leicht prickelnd. Wir schaffen es, die Hälfte unserer Flaschen leer zu trinken, setzen ab und bringen ein ‚Ah‘ raus. Für einen Wimpernschlag sind Andi und ich irgendwie glücklich. Dann fällt mir der Baum ein.
Hier gefällt mir der Rhythmus der Geschichte, vom Bier zum Baum. Das hat so etwas fließendes.

»Scheiße«, sagt Andi und trinkt die zweite Flasche zur Hälfte aus. Er rülpst in seinen geschlossenen Mund, aber der Innendruck ist höher als die Kraft seiner Kiefermuskeln. Es hört sich an wie ein angestochener Fahrradreifen.
Das hinterlässt ein greifbares Bild in meinem Kopf.

»Der Baum, Andi. Warum?«
Er sieht mich an. Dann trinkt er die Flasche leer. Ich warte und bin still, denn ich sehe, dass es in ihm arbeitet, an ihm nagt. Andi findet nicht gleich die richtigen Worte, wenn es kompliziert wird. Er holt tief Luft.
»Paula ist Mama geworden«, platzt es aus ihm heraus.
Hier wird es jetzt speziell und persönlich. Sehr gut.

Was zuerst befremdlich auf mich wirkte und mir die Schamesröte ins Gesicht trieb, erwies sich als überaus wirksam, um meinen besten Freund wieder auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Andi war mir deswegen nie böse. Andere Menschen schon, aber mit denen war ich nicht befreundet.
Cooles Detail.

Er hört für einen Moment auf, die Erdnüsse zu zermahlen. Andi sucht die richtigen Worte. Mir fällt in dieser plötzlichen Stille auf, wie sehr ich ihn mag.
Das sind so die feinen Beobachtungen, die deine Protagonisten sympathisch machen.

‚Mama will nicht, dass wir kommen. Wie jedes Jahr. Du weißt doch, Papa.
Traurig, aber oft wahr.

Er sieht mich an und lächelt plötzlich, zuckt mit den Schultern. Wir stoßen an, trinken leer, rülpsen beide zugleich schlechte Bierluft an die Decke und lachen einfach über nichts.
»Ich bin ein Verlierer«, sagt er plötzlich.
Ich höre auf zu lachen und stehe auf.
»Komm, hoch mit dir, wir gehen jetzt zu diesem Baum.«
»Warum?«
»Wir stellen das Teil richtig hin. Und zwar hier ins Wohnzimmer.«
Andi zögert kurz. Dann steht er auf und folgt mir ins Esszimmer.
Nach einer Stunde bierloser Plackerei steht der Baum in voller Pracht mitten im Wohnzimmer. Er reicht fast bis an die Decke. Wir haben silbernes Lametta bis zur Geschmacklosigkeit auf die grünen Äste geworfen und mit Draht ein paar leere Konservendosen statt der nicht gekauften Baumkugeln angehängt. Andis Weihnachtsbaum blinkt grün, weiß, blau, rot und violett. Wir stehen vor ihm, zwei weitere Reissdorf geköpft und trinken ein paar kräftige Schlucke. Andi setzt ab und sieht mich an.
»Das ist der hässlichste Weihnachtsbaum, den ich jemals gesehen habe. Sowohl im echten Leben als auch im Fernsehen«, meint er.
»Stimmt. Schlimmer geht es nicht. Allerdings das mit den Konservendosen finde ich schon ziemlich kunstvoll.«
Klasse.

»Egal«, bestätige ich und stecke meine Hand in die Hosentasche, weil da was Schweres drin ist. Ich ziehe Andis Schlüssel heraus.
»Hier. Vergiss bloß nicht mehr, ihn abzuziehen. Sonst klaut womöglich noch jemand diesen wundervollen Weihnachtsbaum.«
Wir lachen, wegen nichts.
Sehr schöne Geschichte.

Vielen Dank dafür.

Liebe Grüße
Gerald

 

Guten Abend @C. Gerald Gerdsen,

da macht sie noch die Runde. Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Die Geschichte hat dir gefallen. Das freut mich. Ja, in der Tat, es gibt da durchaus Ähnlichkeiten zu Paul. Man könnte sagen, die einen Charaktere sind jung in der einen Geschichte und paar Jahrzehnte älter in der anderen. Wenn man es genau nimmt, bilden alle Geschichten um Heinrich ein Leben ab, auch wenn es unterschiedliche Zeiten und Orte sind.

Dann wünsche ich dir noch ein hoffentlich angenehmes Jahr 2023.

Grüße
Morphin

 

Servus @Carlo Zwei,

entschuldigung, den habe ich tatsächlich zwar gelesen, aber dann im Weihnachtsstrudel ist er hinten runtergefallen. Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Ich finde, du dürftest ruhig mal mit Stil und Sprache experimentieren und versuchen, das zu schaffen, ohne da deine Klarheit und Unkompliziertheit einzubüßen, einfach mal auf Erkundungstour gehen. Ein bisschen mehr spielen ...
Das mit dem 'Spielen' habe ich vor zig Jahren probiert. Also, so wie es jetzt ist, hat es sich in den letzten drei, vier Jahren herauskristallisiert. Das i-Tüpfelchen war der Roman INSEL 64, da habe ich es zum ersten Mal im größeren Rahmen durchgezogen und für gut befunden. Aber in 45 Jahren schreiben habe ich schon manch Wandlung erlebt und denke, dies war noch nicht die letzte. Deswegen bin ich ganz beruhigt, weil das Erzwingen oder Experimentieren ging bei mir schon immer daneben. Es kam mit der Zeit und so wird es beim nächsten Mal auch wieder sein. Ein langer, ruhiger Fluss ...

Ansonsten war die Geschichte genau das: einfache Menschen in Alltagssituationen, kein großer Anspruch, keine Ideologie, keine Theorien, kein Krimi. Im Prinzip so, wie ich das Leben erlebe oder erlebt habe. Was bleibt, sind die Menschen, die sich irgendwie durchs Leben kämpfen, mal mehr, mal weniger erfolgreich.

Mehr soll es nicht sein.

Grüße
Morphin

 

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