Der Coup
Etwas kitzelt und beißt an seinem Bein, ärgerlich kratzt er über die Stelle. Mist, schon wieder eine Ameise. Er liegt seit mehr als einer halben Stunde im Gebüsch am Rande des kleinen Parks und beobachtet das Haus auf der anderen Straßenseite. Nichts rührt sich dort. Auch sonst ist die Nebenstraße sehr ruhig. Inzwischen ist es kurz nach ein Uhr in der Nacht, Zeit zuzuschlagen.
Steffel geht noch einmal in Gedanken die Vorbereitungsphase durch um sicherzustellen, dass er nichts übersehen und keinen Fehler gemacht hat. Die Idee kam ihm vor über sechs Monaten, als im Feuilleton einer überregionalen Zeitung erwähnt wurde, dass der „dot com“-Unternehmer Frank Classen bei einer Auktion einen Kirchner für 127.000 Euro erworben hatte. Steffel hatte den Burschen gegoogelt und so schnell seinen Wohnsitz ausfindig gemacht. Das Anwesen liegt in einer Villengegend eines noblen Vorortes von Frankfurt. Hier wohnen keine armen Leute, das war Steffel sofort klar. Sein Geld verdient Classen offenbar als Gründer und Geschäftsführer eines Internet-Startups, das Software für eBusiness-Plattformen entwickelt.
Steffel hatte das Netz nach weiteren Informationen über seine Zielperson abgegrast. Das war nicht weiter schwierig, Classen tummelte sich auf diversen Social Media-Plattformen und hatte auch Fotos von Urlaubsreisen, seinen Autos (ein BMW-SUV, ein Porsche und ein Land Rover für die Gattin) und sogar seinem Hund auf einer Foto-Community eingestellt. Auf einigen Bildern waren Teile der Innenbereiche des Hauses zu sehen, das war sehr hilfreich. Außerdem war gut zu erkennen, dass neben dem frisch erworbenen Kirchner auch noch das eine oder andere weitere Kunstwerk die Wände schmückte. Steffel war schnell klar geworden, dass hier ein Bruch lohnen würde.
Als nächstes war die Frage der Alarmanlage zu klären gewesen. Steffel ging davon aus, dass auf jeden Fall eine installiert war. Vom kleinen Park aus hatte er mit einem Feldstecher den Haustürbereich abgesucht und das Zifferneingabefeld für die Alarmanlage gesehen. Der nächste Schritt ergab sich von selbst: mit einer Videokamera hatte er mehrfach gefilmt, wie Classen oder seine Frau den Code eingaben. Steffel erkannte, dass der Code offenbar monatlich geändert wurde. Allerdings wurden nur die letzten beiden Ziffern entsprechend dem aktuellen Monat gewählt. Sein Coup war für August vorgesehen, also einfach eine „08“ am Ende, kein Problem.
Als eine größere Hürde hatte er allerdings das Haustürschloß identifiziert. Es handelte sich um ein Sicherheitsschloß, das schwer zu knacken war. Jedenfalls würde das zu lange dauern und zu auffällig sein. Steffel hatte eine Weile gebraucht, bis er auf eine Lösung gekommen war. Die Putzfrau kam an drei Vormittagen in der Woche. Steffel folgte ihr nach Hause, sie wohnte in einer Siedlung von tristen sechsgeschossigen Wohnblocks. In ihre Wohnung einzusteigen, war für Steffel kein echte Herausforderung gewesen. So etwas war kaum mehr als eine Fingerübung. Er hatte den Schlüssel der Classens an sich genommen, in seiner Werkstatt kopiert und wieder zurückgebracht. Natürlich hatte er nichts aus der Wohnung der Putzfrau mitgehen lassen, es war wichtig, dass Classen keinen Verdacht schöpfte und nicht etwa seine Schlösser austauschte. Nicht, dass es lohnende Beute bei der Putzfrau gegeben hätte...
Der Rest war im Wesentlichen Warten gewesen, Warten auf den nächsten Urlaub der Classens. Diese hatten keine Kinder, deshalb konnte man sich nicht an den Schulferien orientieren. Aber zum Glück kam wieder Frank Classens Schwatzhaftigkeit im Internet zu Hilfe. Er hatte doch tatsächlich seinen geplanten Urlaubstermin getwittert und auf diesem Wege mit zwei anderen Paaren abgestimmt. Anscheinend wollte man sich zu einem ausgedehnten Shopping- und Badeurlaub in Dubai treffen. Das war Steffel recht, je weiter vom Schuss, desto besser.
So weit, so gut, denkt Steffel. Die Classens waren vor vier Tagen abgereist und wurden erst in der übernächsten Woche zurück erwartet. Er hatte drei Nächte lang das Haus beobachtet und keine Spur von einem Wachdienst bemerkt.
Packen wir's, denkt Steffel. Er steht aus dem Gebüsch auf und recht und streckt sich, um seine eingeschlafenen Gliedmaßen wieder auf Betriebstemperatur zu bringen. Niemand ist zu sehen, also geht er gemessenen Schrittes auf die andere Straßenseite und betritt erstmals das Grundstück der Familie Classen. Er nähert sich der Haustür, ein Bewegungssensor erfaßt ihn und schaltet das Außenlicht ein. Sehr aufmerksam, findet Steffel.
Er tippt die Zahlenkombination für die Alarmanlage ein. Die rote LED neben dem Ziffernfeld erlischt, eine grüne LED leuchtet auf. Bingo! Dann steckt er seinen Nachschlüssel in das Türschloss und dreht, auch das klappt ohne Problem. Vorbereitung ist wieder mal alles, murmelt Steffel vor sich hin.
Er macht zunächst einen kurzen Rundgang durch das Haus. Dabei achtet er darauf, dass der Schein seiner Stablampe nicht in Richtung der Fenster fällt. Den Kirchner hat er bald gefunden, er hängt an prominenter Stelle im Wohnzimmer. Steffel schaut sich den Rahmen genau an, keine Drähte zu sehen. Er holt seinen Funkscanner aus der Tasche und prüft, ob es ein drahtloses Alarmsystem am Bild gibt. Das ist nicht der Fall. Mit schnellen Schnitten trennt er das Bild vom Rahmen, rollt es zusammen und steckt es in die mitgebrachte Sporttasche. Classen hat es für 127 Mille ersteigert, Steffel würde 40% dieser Summe von dem Händler bekommen, den er in Stuttgart kennt. Der würde dann einen Privatsammler finden, der ihm das Bild mit reichlich Gewinnspanne für ihn abnehmen würde.
Steffel nimmt noch vier weitere Bilder mit. Es sind, soweit er das ohne eingehende Prüfung beurteilen kann, ebenfalls Originale und werden ihm auch ein hübsches Sümmchen einbringen, zusammen sicher noch einmal soviel wie der Kirchner.
Den elektronischen Geräten schenkt Steffel keinen zweiten Blick. Das Plasma-TV, die HiFi-Anlage und einige andere Stücke des Equipments sehen zwar nicht gerade billig aus, aber mit diesen will Steffel sich nicht abschleppen. Zu auffällig, und ihm Vergleich zu den Bildern auch vernachlässigbare Erlöse.
Bei Daniela Classens Schmuck sieht das schon anders aus. Steffel vermutet aber, dass dieser zum größten Teil entweder mit in den Urlaub gefahren ist oder in einem Bankschließfach deponiert wurde. Trotzdem sucht er sorgfältig und systematisch das Haus nach versteckten Wertfächern ab. Es dauert eine Weile, aber endlich wird er im Keller fündig. Hier gibt es einen Sauna- und einen Fitnessraum mit diversen Geräten. Hinter einem Schrank mit Handtüchern ist ein kleiner Safe in die Wand eingelassen. Steffel kennt das Modell, es bietet kaum mehr Sicherheit als ein verschließbares Schrankfach. An der falschen Stelle gespart, denkt er. Es kostet ihn weniger als vier Minuten, den Safe zu öffnen. Drinnen findet er drei Herrenuhren -eine Omega und zwei Breitlings- sowie einigen Schmuck, zwei Paar Ohrclips, eine Halskette und zwei Armbänder. Steffel steckt alles ein.
Inzwischen ist er knapp fünfzig Minuten im Haus. Er ist mit seiner Beute mehr als zufrieden und geht wieder in Richtung Haustür. Er verläßt das Haus, schließt die Haustür wieder ab und macht die Alarmanlage wieder scharf.
Er zieht die Handschuhe aus, steckt sie in die Sporttasche und geht im Tempo eines späten Spaziergängers die Straße hinunter. Nach einigen Minuten erreicht er sein Fahrrad, schließt es auf und fährt die drei Kilometer bis zu der Stelle, an der sein Wagen geparkt ist. Er lädt das Fahrrad und die Beute in den Kofferraum, setzt sich ans Steuer und fährt Richtung Heimat. Dabei achtet er darauf, alle Verkehrsregeln einzuhalten, um nicht aufzufallen. In der Nacht ist kaum Verkehr, er schafft die gut 200 km bis zu seiner Wohnung in unter zwei Stunden.
Zu Hause angekommen, räumt er das Fahrrad in die Garage und die Tasche mit der Beute hinter einen Stapel Kartons in seiner Kellerwerkstatt. Dann gönnt er sich ein Bier auf seinen erfolgreichen Coup und legt sich schließlich ins Bett, inzwischen ist es fünf Uhr morgens und er hört die Vögel bereits zwitschern.
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Er wird unsanft geweckt, als die Türglocke schrillt. Er schaut auf die Uhr, kurz vor acht Uhr morgens. Wer kann das sein? Es schellt wieder.
„Jaja!“ murmelt er, zieht einen Morgenmantel über und geht zur Tür.
„Herr Steffel?“ fragt der Mann, der in Zivilkleidung vor ihm steht. Zwei weitere Männer stehen hinter ihm. „Ich bin Hauptkommissar Schneider vom Dezernat für Eigentumskriminalität der Kripo Stuttgart. Ich verhafte sie wegen Einbruchdiebstahls im Haus der Familie Classen in Kronberg letzte Nacht.“
Steffel ist ganz benommen. Wie kann das sein? Wie können die so schnell herausbekommen haben, wer den Bruch gemacht hat? Wer hat überhaupt so schnell gemerkt, dass ein Einbruch stattgefunden hat?
Der Kommissar sieht die Verwirrung in Steffels Gesicht und grinst. Der wird schon noch früh genug erfahren, was gelaufen ist, denkt er bei sich.
Schneider war immer schon der Meinung, dass manche Leute viel zu viele Informationen über sich ins Internet stellen. Da kann man gleich an Schild an seine Haustür hängen „Bitte raubt mich aus!“.
Allerdings hatte dieser Classen, quasi als Ausgleich, auch einige geschickte Vorkehrungen getroffen. Es waren mehrere Webcams unauffällig im Haus installiert, eine davon schaute direkt auf den Kirchner. Die Signale der Webcams wurden von einem Rechner im Keller des Anwesens der Classens verarbeitet. Eine Software analysierte die Aufzeichnungen automatisch und konnte menschliche Gestalten problemlos identifizieren. Sobald solche in einem Zeitraum auftauchten, wenn sich niemand berechtigterweise im Haus aufzuhalten hatte, ging eine email an Classens Smartphone. Classen hatte so ein Bild von Steffens Gesicht auf seinem Telefon in Dubai erhalten, noch während Steffel sich im Haus aufhielt. Natürlich hatte er sofort die Polizei informiert. Die Kollegen aus Frankfurt hatten dann keine Mühe, dem Gesicht einen Namen und eine Adresse zuzuordnen.
Das alles geht Schneider auf der Fahrt ins Präsidium durch den Kopf. Wie immer hat die Technik auch hier zwei Seiten, denkt er. Steffel wird jedenfalls erstmal viel Zeit zum Nachdenken über dieses Thema haben...