Was ist neu

Der dritte König - Ein weihnachtlicher Kulturschock (nach wahren Begebenheiten)

Mitglied
Beitritt
15.12.2017
Beiträge
5
Zuletzt bearbeitet:

Der dritte König - Ein weihnachtlicher Kulturschock (nach wahren Begebenheiten)

Weihnachten 1973 - Friede, Freude, deutsch-amerikanische Freundschaft. Der Gefreite Rufus Moody Junior ist zu Gast bei der Stadtratswitwe Gesine D. Bei "Karpfen blau" und James Brown erleben beide den Kulturschock ihres Lebens. Eine schwarz-weiße Erzählung nach wahren Begebenheiten.


... denn von den Gedanken nimmt die Seele ihre Farbe an.
Marc Aurel, römischer Kaiser und Philosoph


Dichte Schneeschleier trieben die Schweinheimer Straße hinauf, wo sie über die Mauern der amerikanischen Kasernen hinweg wirbelten und dabei das im Laternenlicht aufgereihte Kriegsgerät einhüllten. Wuchtige Böen peitschten die wenigen Uniformierten in den Schutz der Gebäudeblocks zurück.
Vor der Ampel unterhalb des Kasernentors der Fiori Kaserne heulte der Motor eines zweisitzigen Oldtimers auf, einer Isabella, deren Cremefarbe sich im Schneetreiben auflöste.
„Damit musstest du rechnen“, murmelte die Fahrerin, „ja, Gesine, damit hast du rechnen müssen.“
Flockengestöber nährte eine Windhose, die inmitten der Kreuzung anschwoll und Gesine in Schwindel versetzte. Mochten ihre Sohlen noch so sanft zwischen Gas und Kupplung modulieren, die Reifen fanden keinen Halt auf der seifigen Fahrbahn. Sie kam nicht von der Stelle. Das Hupen galt ihr. Der Fahrer des folgenden Wagens bedeutete ihr lebhaft winkend, doch endlich in Gang zu kommen. Wie ein Fisch hinter beschlagenem Glas musste sie dem Schnösel vorkommen; wie sie jedes Wort pantomimisch im Rückspiegel wiederholte. „Zwei.Und.Sechzig! – Ja, Zweiundsechzig Jahre! – Verdammich“, fauchte sie, ihr Führerschein sei älter als die meisten der Quälgeister, die sich hinter ihr aufgereiht hatten, sie mit nervösen Hup- und Lichtsignalen antreiben wollten.
Die Ampel sprang auf rot. Gesine knöpfte ihren Lodenmantel auf, hob das Kinn, und während sie sich von ihrem Schal befreite, den sie sich unter die Schenkel knäulte, starrte sie unbeirrt auf die Straße. „Damit hättest du rechnen müssen,“ ermahnte sie sich wiederum.
Solch ein Cabriolet fuhr man eben nur sommers. Und hätte Justus nicht kurzfristig abgesagt, wäre der Wagen bis ins Frühjahr hinein in der Garage stehen geblieben.
„Hättest ja auch ein Taxi nehmen können.“
Grün. Trotz ihrer Eile musste sie jetzt Ruhe bewahren, um den Wagen wieder in Bewegung zu setzen. Sie sog an der Unterlippe und konzentrierte sich auf das Spiel der Pedale. Die Isabella wedelte kurz mit dem Heck, dann schlingerte sie der Schweinheimer Höhe entgegen. Gesine bog in die Rhönstraße ein, wo linker Hand das Unteroffiziers-Casino lag. Sie sagte NCO-Club, das klang legerer, amerikanischer eben. Sie bremste zaghaft und war entschlossen, die Straße direkt nach dem anrollenden Gegenverkehr zu überqueren. Bloß kein unnötiges Halten mehr, befahl sie sich.
Eine Kolonne näherte sich von den Ready Barracks her. Die mächtigen Lichtkegel eines Räumfahrzeugs blendeten sie aus Manneshöhe herab. Dabei pflügte die Maschine einen faustdicken, straßenschmutzigen Schneestrahl über die Isabella. Gleichzeitig hatte die Erde zu beben begonnen. Lenkrad und Rückenlehne vibrierten. Höchstens einen Schritt weit neben ihr passierte einer von drei Kampfpanzern. Das Klirren der Kettenglieder ließ sie ihre Handflächen auf die Ohren pressen. Das Bellen aus rußenden Auspuffrohren fuhr ihr durch Mark und Bein. In fette Abgasschwaden gehüllt, wartete Gesine das Ende der unheimlichen Parade ab.
Welcher der beiden Hebel machte die Scheibe frei? Sie wählte den linken, nein, beide, mit beiden Händen. Die Arme der Wischer drohten zu versagen, zitterten quietschend. Schließlich gaben sie die Sicht frei. Ins Dunkel. In ihrer Panik hatte sie die Scheinwerfer ausgeschaltet. Sie lenkte den Wagen auf den Parkplatz des NCO Clubs, dessen Anblick sie an einen verschneiten See erinnerte, der inmitten all dieses Tumultes unberührt vor ihr lag.
Der Schneefall verebbte. Die Wolkendecke brach auf und der Mond zeigte sich am Himmel wie eine helle Scheibe hinter Milchglas. Sterne flackerten, das Universum gewann an Tiefe.
„Manche sind schon gar nicht mehr“, dachte sie, „nur noch das Licht, das zu uns unterwegs ist. Wir sehen, was schon nicht mehr ist.“
Noch immer raste ihr Herz, das sie nun durch ausgedehnte Atemzüge zu beruhigen versuchte.
„Damit hast du nicht rechnen können, Gesine.“
Und alles nur weil Justus sie versetzt hatte. Wehe, wenn sie keinen Offizier mehr für sie hatten!
Der Schein des Mondes reichte aus, um ihr Gesicht im Rückspiegel betrachten zu können. Ihr Rouge hatte ein wenig gelitten. Vom Beifahrersitz nahm sie ihre bauchige Handtasche, aus der sie eine Puderdose hervorkramte. Um die Augen herum war nichts mehr zu machen. Weit in ihre Höhlen zurückgezogen waren sie von Furchen umrahmt, die nicht mehr zu kaschieren waren. Den Wangen, deren straffe Haut sie mit Erdbeerpink bestäubte, mangelte es an Fleisch. Lippenstift setzte sie sparsam ein. Allein seinen Gebrauch empfand sie als frivol, doch half er, die Runzeln um den Mund zu glätten, der sonst aussah, als wäre er mit einem Reißverschluss versehen.
Die Sorge, ihr Treffen zu verpassen, schob sie schnell beiseite. Der jungen Frau vom Verbindungsbüro, dem Public Affairs Office, hatte sie ihren Wunsch mit Nachdruck dargelegt. Ein Junge aus gutem Hause, ein netter Collegeboy sollte es schon sein.
Zwar war sie als Witwe eines Stadtrates a. D. nicht mehr auf der offiziellen Gästeliste der Kommandantur zu finden, doch konnte sich das Fräulein vom PAO bei ihrem Telefonat noch gut an Gesine als eine der führenden Honoratiorinnen der Stadt erinnern. Zum Tee bei der Frau des Kommandeurs war Gesine immer eine der ersten gewesen, die eine Einladung erhielten. Bei feierlichen Anlässen hatte man sie mit ihrem Mann gleich neben die alteingesessenen Brauereifamilien platziert. Der Polizeidirektor nebst Frau saßen ihnen dem Protokoll entsprechend gegenüber. Erst dann kamen die Leute von der Handels- und der Handwerkskammer.
Gesine hätte sich ihren Offizier auch unbesehen schicken lassen können, aber ein Besuch bei den Amerikanern kam ihr gerade recht, jetzt, wo ihre Auftritte dort seit dem Tod ihres Mannes seltener wurden. Dass es still um sie werden könnte, davor fürchtete sie sich.
Sie stellte den Motor ab. Mit einem Griff an den Türrahmen hievte sie sich aus dem Sitz und befreite somit den Schal, den sie sich untergeschoben hatte und auf dessen losem Ende sie stand. Darüber rutschte ihr unterkühlter Fuß nach vorn, ließ sie aus dem Auto purzeln, dass sie mit dem Gesäß und den Ellbogen aufschlug. Ein stechender Schmerz fuhr ihr ins Becken.
„Die Hüfte, um Gottes Willen, nur nicht die Hüfte!“
Sie blickte zum Eingang des NCO Clubs, der vor ihr zu verschwimmen drohte. Nichts rührte sich. Der Zahl der geparkten Fahrzeuge nach mussten sich mindestens etwa zwanzig Besucher im Gebäude befinden, die gerade dabei waren, die deutsch-amerikanische Freundschaft zu fördern. Der Frost kroch ihr in die Knochen und betäubte ihren Hintern. Sie musste aufstehen. Von der Straße her konnte man sie nicht liegen sehen. Vor ihr der mit Schnee gepuderte Parkplatz.
Weit drüben am anderen Ende entdeckte sie die Umrisse einer Gestalt, die jetzt zu traben begann. Die Silhouette kündigte einen groß gewachsenen Mann an, der geradewegs auf sie zuhielt. Seine dampfenden Atemstöße steigerten sich mit jedem seiner Schritte. Was war mit seinem Kopf? Was trug er da auf den Schultern? So groß. So rund. Eine Kugel, deren Schatten sich zwischen Gesines Gesicht und den Abendhimmel schob, und dabei einen feinen Schein um die – wie sie nun erkannte – wuschelige, rötliche Haarpracht glimmen ließ.
„Jessas, ein Neger“, entfuhr es ihr, „hoffentlich ein freundlicher.“
„Are you hurt? Can I help you, Madam?“, fragte der Schatten.

* * *​


„Mein Näim is Rufus Moody Junior. Isch ...“ Noch blieben ihm zwei Stunden, seine Begrüßung auswendig zu lernen. Er legte das Merkblatt auf seine makellos gespannte Bettdecke, öffnete seinen Spind, um sich Waschzeug und Handtuch zu holen.
American Forces Radio! Aus dem Transistorradio am Fenster krächzte Wolfman Jack und kündigte einen Titel aus Superfly, dem brandneuen Gangsterfilm an. In der Mitte des Zimmers 214 saßen vier Soldaten an einem Tisch, der mit einer Flasche Wild Turkey, einem Grüppchen Cola-Dosen und mit unterschiedlich hoch gestapelten Dollarnoten bestückt war. Die drei Schwarzen und einer, der wie ein Mexikaner aussah, spielten Black Jack, worüber sie in einen handfesten Streit gerieten. Moodys Stubenkamerad, der Gefreite Jackson, eine Art pausbackiges Riesenbaby, hatte sich wieder einmal in die Klemme gezockt.
Gonzalez faltete seine Karten. „Puta Madre, Tschagg-son! Das sieht nach Stunk aus.“
Der bullige Williams, den sie The Dog nannten, zeigte die hellhäutigen Innenflächen seiner Hände. „Ich bin draußen, der Nigger baut nur Scheiße“, sagte er im Gehen begriffen.
Blieben noch Jackson und Winslow, die sich abwartend beäugten. Winslow ließ einen Zahnstocher im Mund kreisen. Die Karo-Zehn, die er zwischen zwei Finger geklemmt schwenkte, trug den Abdruck seiner Stiefel.
„Du wärst verbrannt gewesen, Jackson.“
„Die muss mir runtergefallen sein, Mann.“
„Nein, nein, nein, Mann, du wärst verbrannt gewesen. Und du weißt ja, du kleiner Hurensohn: Wer die Hitze nicht verträgt, sollte die Küche meiden.“
Jacksons massiger Leib zuckte. Er faselte Floskeln, die Wiedergutmachung versprachen. Winslow bediente sich an den Zigaretten seines Gegenübers, steckte sich eine Kool an, deren Mentholqualm er, gefolgt von einem gelangweilten Seufzer, bis in die Lungenspitzen schickte. Indes pulte er einen Krümel Heilsalbe aus dem Bart, der die hohlen, von geröteten Pockennarben durchzogenen Wangen bedeckte. Er murmelte an der Melodie aus dem Radio entlang: „Freddie‘s dead, that‘s what I said...“
Moody wusste, was nun folgen würde. Winslow würde einen dreckigen Deal mit Jackson aushandeln, der den Glücklosen noch tiefer in der Kreide stehen ließ. Auf diese Weise hielt sich Winslow eine ganze Menge Kerle in der Kompanie gefügig. Spielschulden. Wenn sich Winslow mit einem anlegte, dann standen immer gleich zwei oder drei seiner Schuldner für ihn ein. Winslow, der Kredithai, hatte das Sagen.
Moody ignorierte Jacksons Hundeblick. Mit einem Handtuch um die Hüften und seiner Uniform auf einem Bügel verließ er das Zimmer in Richtung Duschraum. Dieser Idiot hatte sich den Ärger doch selbst zuzuschreiben, dachte Moody wütend. Mit Winslow zu zocken! Dann noch so dämlich bescheißen zu wollen. Idiot!
Sich vorzustellen, wie draußen der Schnee fiel, erhöhte den Genuss, das heiße Wasser über den Körper fließen zu spüren. Noch zwei Stunden bis zu dem wohl größten Abenteuer, das er seit seinem Eintritt in die Army erleben würde. Wie es wohl bei ihr aussehen mochte – worüber würden sie reden? Er hielt den geöffneten Mund in den Duschstrahl, schluckte gegen die Trockenheit an, die in ihm wie ein pelziger Tennisball empor kroch. Dieses Ding, dieser Kloß, dieses unkontrollierbare Gefühl hieß Zweifel.
Vielleicht war er doch nicht so willkommen, wie sie es ihm versprochen hatte. Aber schließlich war sie ja freiwillig da gewesen, um sich einen Amerikaner einzuladen. Ja, Moody, einen Amerikaner, dachte er. Aber einen schwarzen? Der Leutnant, Flannegan aus der Stabskompanie, hatte auf die alte Dame gewartet. Einen wahren Prachtkerl hatten sie da für sie reserviert. Flannegan hätte als einer der Beach Boys durchgehen können, dachte Rufus. Blond, gebräunt, breites Lachen. Nur seine Aussprache verdarb das Bild vom fixen Jungen ein wenig. Die Trägheit seiner Südstaatenzunge bewirkte, dass sie bedächtig seinem Namen hinterher rollte. Den flotten Flannegan bremste sie zu einem Fläihnegäihn, was den strahlenden Kerl ein wenig einfältig klingen ließ.
Doch er selbst? War er etwa nur angenommen worden, weil er sie dort hilflos liegend gefunden hatte? Hatte sie sich verpflichtet gefühlt, ihn nicht stehen zu lassen, weil der Markt sich schon verlaufen hatte, als sie beide, sie auf ihn gestützt, den NCO Club betreten hatten? Nachdem sich die PAO-Frau bei ihm bedankt hatte, hatte sie tatsächlich recht ratlos gewirkt. Der sich ausbreitenden Verlegenheit war dann die alte Dame entgegengetreten.
„Ich nehme ihn“, hatte sie in ihrem scharfen Briten-Englisch gesagt. Rufus war darüber erschrocken. So wie Generationen seiner Vorfahren erschrocken sein mussten, wenn eine weiße Lady verkündet hatte, dass sie einen von ihnen nehmen würde. Rufus trocknete sich ab und begann sich anzukleiden.
„Mann!“, sagte er beim Pressen seiner krausen Haarpracht, “Man nimmt mich doch nicht einfach so.“
Freuen solle er sich, hatte ihm die PAO-Frau geraten und ihm zu seiner Wahl gratuliert. Wirklich überzeugend hatte ihr Lächeln dabei nicht gewirkt. Ein wenig steif hatte sie sich schließlich der alten Dame zugewandt: „... die beiden werden pünktlich sein.“

* * *

Der Tisch hatte zwei Beine verloren. Die Platte ragte vom Boden aus schräg in den Raum empor. Davor lehnte Jackson, über dessen rechtem Auge die Haut um eine Schnittwunde anschwoll. Rufus reichte ihm sein feuchtes Handtuch und befahl ihm, die Verletzung damit zu bedecken. Bei näherer Betrachtung erwies sich der Schnitt als harmloser als Rufus vermutet hatte.
„Eine Warnung“, erklärte Jackson, „mehr nicht. Can‘t reason with the pusherman ...
„Du bist so ein beschissener Idiot, Mann!“ Rufus wollte nichts mit diesen Dingen zu schaffen haben. Und doch gab er nach, als ihn Jackson um einen Batzen Dollars anbettelte, die Winslow von ihm forderte. Jackson mochte zwar schwachsinnig sein, dachte Moody, aber das war kein Grund ihn Winslow zu überlassen. Rufus leerte seine Börse und zählte die Scheine.
„Das müsste reichen. Ich geh‘ zu ihm.“
„Danke Bruder, right on. Kannst jederzeit auf mich zählen.“
„Lass´ gut sein, Jackson, lass gut sein.“
Die Zeit wurde knapp, in einer halben Stunde wurde er am Kasernentor erwartet. Er trat auf den Flur, folgte der Musik, die aus einem Zimmer, Bunker genannt, fünf Türen weiter rechts dröhnte. Hier war ihm der Zutritt verboten, hier hingen die Vietnamveteranen ab. Männer, deren Schreie er nachts durch den ganzen Block hallen hörte, Männer, die ihre Alpträume aus dem wirren Kopf soffen oder die darin aufsteigenden Szenen mit Bourbon benebelten.
Rufus hielt inne.
In seine Vorstellung mischten sich Gedanken an zu Hause, an seinen Onkel Sylvester, der diesen Kerlen im Bunker so ähnelte. Sly, dem die Wunden des Krieges, in den er wie die meisten nicht freiwillig gezogen war, das Herz vernarbt hatte.
Seit seiner Entlassung aus der Armee begrenzte sich Slys Lebensraum auf die Bretter seiner Veranda und von dort aus auf die Strecke zu seinem Bett – nicht mehr als dorthin, nicht weniger als von dort in die Sonne. Regungslos wie ein Reptil brütete er in der Hitze des Tages mit staunend offenem Mund vor sich hin. Den regelmäßigen Griff zur Bourbonflasche begleitete ein Zucken, das unentschlossen zwischen Grinsen und Wehmut lavierte, derart faltenreich, dass ihm dieser seltsame Ausdruck den Namen Sly, das Wellblechgesicht, in der Gemeinde eingebracht hatte.
Und so als wollte sich der Onkel seiner Wiedergeburt, seiner Existenz versichern, strich er unablässig über den schlangenledernen Stiefel, in dem eine Prothese stak, die ihm den rechten Fuß ersetzte, mit dem er seinen Einsatz beglichen hatte. Die Zeit blieb in einem stets wiederkehrenden Bild gefangen:
In einer als feindfrei geltenden Zone war Sly mit einer Aufklärungspatrouille unterwegs, als die undurchdringliche Blätterwand des Dschungels MG-Salven auszuspucken begann. Sly suchte Deckung und stürzte geradewegs in ein Meer aus Qualen. Kniehohe Bambusspieße schlitzten ihm die Sohlen seiner Kampfstiefel auf, durchbohrten beide Füße wie die des ans Kreuz genagelten Jesus. Und der Regen wollte nicht enden.
In seiner Einsamkeit begann er lauthals zu beten. Wenn die Pein ihn zum Wahnsinn zu treiben drohte, verdammte er das Land dieser gottlosen Kommunisten, überzog es mit Flüchen, die die Vögel von den Bäumen schreckten.
„Fuck, I‘m stuck!“ Nie fand er seine Worte treffender als in diesen endlosen Stunden. Als die Inbrunst erschlaffte, schickte ihm der Herr die Schlange.
Ein Tiger-Python, länger als ein Mann groß war, hatte die Wärme des fiebernden Menschenkörpers erspürt. Anmutig glitt er in die Grube hinab, wo er den Rumpf des Gepfählten in atemberaubender Weise umfing. Einer des anderen Opfer. Onkel Slys schwindende Kräfte reichten aus, eine Bambuslanze zu brechen, die er dem Python in den Rachen stieß. Der Würgereflex des Schlangenleibes erstarb.
Während ihm der Wundbrand die Füße verzehrte, erhielt ihn der Python am Leben. Scheibchenweise. Als nur noch die schillernde Schlangenhaut übrig war, wand sich Sly, zum Sterben bereit, die Trophäe um den Hals.
Mehrere Monsuntage später wurde der unergründlich vor sich hin lächelnde Soldat geborgen und ausgeflogen. Direkt nach Howler‘s Point, Louisiana. Zumindest war es Sly, dem jede Erinnerung an seine Erlösung fehlte, so vorgekommen. Mit dem Verwundetenabzeichen, dem Purple Heart ausgezeichnet, landete Onkel Sylvester auf seiner Veranda, die er seither nicht mehr verlassen hatte. Es schien ihm unmöglich, das Heer aus Bambusspitzen zu durchqueren, das den Vorgarten besetzt hielt.
Moody wurde bewusst, dass Sly im fernen Louisiana und die Veteranen, die ihn hinter der Tür zum Bunker erwarteten, einer Generation von Männern, einer Spezies von Kriegern angehörten, die zwar dem Tod getrotzt, doch darüber ihr Leben verloren hatten.
Er ergriff die Türklinke. Niemand beachtete ihn, als er in dieses von bitter riechenden Schwaden und von Tarnnetzen verhangene Loch eintrat. Er erkannte The Dog Williams, der ein schwarzes Stirnband trug. Winslow saß auf einer Munitionskiste. Mit der Klinge seines Springmessers ritzte er sich feine Linien in den Unterarm und ließ sich dabei von Jimis Gitarrenriffs ohrfeigen. Machine Gun. Von einer Garbe aus Buddy Miles‘ Trommelstöcken niedergestreckt, sank er in sich zusammen. Rufus hielt ihm ein gerolltes Bündel Dollarnoten entgegen.
„Lass Jackson in Ruhe.“
Winslow betrachtete ihn aus geröteten Augen. Ein erbärmlicher Anblick, der Moody phantasieren ließ. In diesem hässlichen Moment wäre Winslow eine leichte Beute für den Teufel gewesen, der ihn ritt. Der aber war wohl noch nicht fertig mit seiner Kreatur.
„Bist ein vortrefflicher, ein nobler Mensch, Moody!“ Winslows Hand tätschelte über den Tisch, bis sie einen Joint von der Größe einer zwei Daumen langen Kerze zu fassen bekam, einen Peacemaker.
„Wirkung unvorhersehbar, überraschend wie ein Weihnachtsgeschenk. Frohes Fest, junger Bruder“. Der Herrscher der Barracks gebot ihm, sich zu beugen. Als hefte er ihm einen Orden an, steckte ihm Winslow die Grastüte in die Brusttasche seines Hemdes.
„Wirst ihnen gefallen, den Fräuleins. ,So ein süßer kleiner Nigger‘, werden sie sagen.“ Winslow presste seinen Segen zwischen geschlossene Zahnreihen hindurch. „Aber pass‘ auf, Bruder, auf dass deine Seele keinen Schaden nehme. Amen. Und jetzt raus hier ... raus, verschwinde.“


* * *​

Nickend zog Jackson die Mundwinkel herab. Gut sehe er aus, der Gefreite Moody Jr. in seiner Ausgehuniform, mit der braunen Papiertüte voller Präsente im Arm. Rufus bettete das Schiffchen auf seiner Frisur. „Bleib sauber, Mann.“
„Du auch.“
Es dämmerte bereits. Rufus schlitterte über das Kopfsteinpflaster dem Kasernentor entgegen, wo ihn Leutnant Flannegan erwartete, der eine gleiche PX-Tüte bei sich trug. Sauber gescheitelt, den altmodischen Duft von Old Spice verbreitend, hielt der Offizier seine Füße in Bewegung. Die Lackschuhe taugten nicht zum Wintereinsatz. Moody salutierte.
„Guten Abend, Sir!“
Flannegan erwiderte den Gruß mit Unbehagen. Wie sie diese gemeinsame Mission denn ausführen sollten, fragte er. Schließlich handele es sich ja mehr um ein Privatvergnügen. Andererseits müsse man sich im Klaren darüber sein, dass sie beide die Uniform der United States Army trugen, zu deren Repräsentanten sie befohlen seien.
„Wir werden das Ding schon schaukeln, nicht wahr?“, meinte Flannegan, wobei er Rufus in die Rippen knuffte, als seien sie beide Mitglied im selben Herrenclub. „Nicht wahr, Moody, wir machen uns keine Schande, oder?“
Die Antwort ließ auf sich warten. Rufus wurde durch eine Gruppe Schwarzer abgelenkt, die in knöchellangen Fellmänteln und mit grellfarbenen, breit-krempigen Hüten vorüberzogen und ihn abschätzig musterten.
„Viel Spaß, Onkel Tom“, hörte er einen von ihnen zischen.
Rufus mochte diese schrillen Aufschneider nicht, die so taten als seien sie von der üblen Sorte, coole Typen, die sich vom Weißen Mann nichts bieten ließen und schnell mit dem Stilett bei der Sache waren. Doch niemand zwang sie dazu, hier zu sein. Der Wehrdienst war abgeschafft, ihr Aufenthalt war, bis auf den der Kleinkriminellen, Dealer, Zuhälter unter ihnen, die vor die Wahl zwischen Knast und Armee gestellt worden waren, mehr oder weniger freiwillig.
„Nicht wahr, Moody, wir machen uns doch keine Schande, oder, Moody? Oder?“, wollte Flannegan noch einmal wissen.
Uns?’, dachte Rufus. Außer ihrer Uniform hatten sie beide nicht viel gemeinsam. Uns? Sie standen beisammen und warteten auf ihren Fahrer, eine Situation wie sie daheim eher selten vorkam, außer man spielte vielleicht im gleichen Sportteam. Ansonsten blieb man unter seinesgleichen, wie man daheim sagte. Man kaufte in verschiedenen Vierteln ein, bevorzugte Steak oder Schweinefüßchen, Weiß- oder Maisbrot; jeder besuchte seine eigene Kirche, hörte die gleichen Worte aus unterschiedlichen Mündern – eben für seinesgleichen bestimmt. ‚Musste da gleich Jim Crow, der Rassenhass, dahinter stecken?’, dachte Moody. Es genügte doch schon, dass man den Humor des anderen nicht teilte, dass man dessen Lieder nicht sang, dass – wie just in diesem Augenblick – die Scheu vor Missverständnissen das Beisammensein von vornherein lähmte. Different strokes for different folks, hieß das daheim. Amen.
„Das ist doch Blut, Moody, nicht wahr?“ Flannegan zeigte auf den linken Hemdsärmel des Gefreiten, „Da, an der Manschette.“
Das musste vom Nasenbluten kommen, das ihn manchmal befalle, konterte Rufus und verfluchte Jackson im Stillen. Im selben Moment fuhr eine nachtblaue Mercedes-Limousine vor. Ein zierlicher Mann mit dunklem, schulterlangem, seine mädchenhaften Züge betonendem Haar, winkte ihnen hinter dem Steuer zu. Er trug eine runde Nickelbrille und mochte ebenfalls um die Zwanzig sein. Erst bei näherer Betrachtung fiel das flaumige Bärtchen auf, das sein weiches Kinn umkräuselte. Flannegan zögerte beim Öffnen der Beifahrertüre.
„Moody, wenn du‘s verbockst, reiß‘ ich dir den Arsch auf. Versprochen.“
Der Chauffeur stellte sich als Justus, Enkel der alten Dame vor. Sein Englisch klang passabel, ein wenig kantig, dem Deutschen ähnlich, fand Rufus, den Flannegan auf den Rücksitz verwiesen hatte. Der Schnee schien Justus nicht zu stören. Die Limousine rauschte die Würzburger Straße hinab, die Rufus als dih Strahss kannte, an der sich die Kasernen wie an einer Schlagader entlang aufreihten, um von ihrem Puls belebt zu werden. Vor der Jägerkaserne bogen sie rechts ein. Nach einer oder zwei Kreuzungen ging es den Berg wieder hinauf, wo sie vor einer der stolzen Villen hielten, die den Hang säumten. Gegenüber führte ein verschneiter, von Hunden gelblich markierter Pfad in einen von kahlem Gestrüpp durchwucherten Wald hinein. Auf einen Gehstock gestützt zeigte sich die alte Dame an der Haustüre. Neben der Treppe zum Eingang sah Rufus den Oldtimer in einer offenen Garage stehen.
Flannegan nahm sich den Vortritt. Seine Vorstellung klang perfekt, soweit Rufus dies beurteilen konnte. Die Dame, deren Namen er sich nicht hatte merken können, reagierte verzückt. Und als die Worte, die er noch vorhin hatte pauken wollen, nicht kommen wollten – „Guhdn ... äh, ...“ - beließ es Rufus bei einem einfachen „Hello Madam.“
Was für ein Baum! Sie hatten ihre Mäntel abgelegt und standen um eine so einfach wie geschmackvoll geschmückte Tanne, deren Spitze bis knapp unter die Decke ragte. Die Nadeln rochen ätherisch frisch, alles andere in diesem Haus wirkte gediegen, gepolstert, solide und schwer, massiv wie das gewaltige Hirschgeweih über einem gemauerten Kamin, das Flannegan Anlass bot, die Männer seiner Familie ins Gespräch zu bringen, die allesamt passionierte Jäger waren. Vor einer breiten Fensterfront, hinter der Rufus einen Garten vermutete, erwartete sie ein festlich für vier Personen gedeckter Esstisch.
Die alte Dame hieß sie willkommen. Ein unhörbares und betagtes Dienstmädchen hielt ihm ein Tablett entgegen, auf dem es Gläschen mit einer hellen zähen Flüssigkeit anbot.
„Kosten Sie!“, forderte ihn die alte Dame auf, “selbst gemacht! From the chickens!“
Das Zeug schmeckte fürchterlich.
„Aierlikohr? Aha. Good, sehr gut“, sagte er, worauf ihm Justus gleich ein zweites Glas „zum Aufwärmen“ in die Hand drückte. Prost. Der nüchterne Magen rebellierte.
Für eine Weile gedachten sie des Hausherrn, der sich zeitlebens für die unverbrüchliche Freundschaft zwischen Amerikanern und Deutschen eingesetzt hatte. Hiervon zeugte eine von Fotografien umstellte, in Messing gerahmte und von zwei Majors-Epauletten flankierte Urkunde auf dem Kaminsims, welche den Verstorbenen als Ehren-Offizier des in der Ready Kaserne stationierten Panzer-Bataillons auswies.
„Ein Tusker – einer von uns“, bemerkte Flannegan anerkennend.
Ja, ein Mann mit Prinzipien sei er gewesen, sagte die alte Dame. Schwermütig schweifte ihr Blick über die Bilder, die ihren Gatten als jugendlichen Helden in schwarzer Uniform zeigten.
„Im Krieg war er Leutnant wie Sie,“ bedeutete sie Flannegan.
Das erfülle ihn mit besonderem Stolz, gab der junge Offizier im servilen Charme eines Konföderierten zu verstehen. „Yes Ma‘am.“
Einen dritten Likör lehnte Rufus freundlich ab und war froh, an den Tisch gebeten zu werden. Deutsche und Amerikaner saßen sich jeweils gegenüber, so, dass beide Soldaten der Gastgeberin zur Seite sitzen konnten. Die Anordnung des Bestecks irritierte ihn. Mehr als eine Gabel und ein Messer hatte er daheim nie gebraucht. Hier standen Teller über Teller, alles doppelt und noch ein Löffelchen oben quer. Davon war auf dem Merkblatt für Soldaten im Weihnachtsprogramm nichts zu lesen gewesen. Er werde es so machen wie die anderen, nahm er sich vor.
Das Hausmädchen schlich um den Tisch und füllte schmale Stilgläser mit Sekt. Abermals wurden sie willkommen geheißen, abermals wurde ihnen zugeprostet. Noch bevor er einen einzigen Bissen bekommen hatte, wurde dem Likör im Bauch Schluck für Schluck, in kleinen Zügen, deutscher Schaumwein beigemischt. Obenauf sollte nun auch noch eine Suppe vor dem Essen folgen.
Das Gesicht der alten Dame hatte einen rosigen Ton angenommen und die heiße Kraftbrühe trieb auch ihm den Schweiß auf die Stirn. Wo sie beide denn herstammten, wollte die alte Dame wissen. New York, Chicago? Dort sei sie schon einmal gewesen. Mit ihrem Mann, hab‘ ihn selig. Green River, Georgia, da sei er geboren, rollte Flannegan.
„Und Sie, Rufus? Ich darf doch Rufus sagen, oder?“
„Ja, Madam, Rufus ist okay. – Värschbach.“
Justus und seine Großmutter stutzten.
„Värschbach bei Wörzbörg.“
In Louisiana sei er aufgewachsen, geboren aber sei er in dem fränkischen Dorf gar nicht so weit von hier. Die Geschichte sei schnell erzählt, erwiderte er ihr auf ihr Bitten hin. Mitte der Fünfzigerjahre war Moody Senior nach Würzburg zur 3. Infanterie-Division versetzt worden. Auf dem Talavera-Fest hatte er Gabi Endres kennengelernt. Das sei alles nicht so einfach gewesen in diesen Tagen.
„Ja, das war sicher nicht einfach“, stimmte die alte Dame zu.
Seine Erinnerung trug ihn nach Hause, weit zurück in die Kindheit, wo ihm jedoch das Bild seiner Mutter verborgen blieb. Jede Spur von ihr hatte Moody Senior aus dem Haus verbannt und so wusste Rufus nicht, ob sich seine Phantasie bloß ein Wunschbild geschaffen hatte, damit er sie in seinem Herzen bewahren konnte. In diesem Moment begriff er, dass sein Eintritt in die Army nur dem einen unausgesprochenen Wunsch gegolten hatte, nach Deutschland zu kommen, um den Teil zu suchen, der ihm in Louisiana fehlte. Und diesen Abend hier hatte er sich als eine Übung für den Ernstfall ausgedacht. Auf den einen Moment wollte er vorbereitet sein, wollte wissen, wie die Deutschen lebten, damit er sie nicht vertreiben würde, wenn sie sich gegenüber standen. Mit dem Zug nach Würzburg, von dort aus würde er dann schon sehen, wie er weiterkam.
Justus‘ Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Solche Sachen seien auch heute noch nicht einfach, meinte der feingliedrige Enkel, der den Korkenzieher am Hals einer Flasche ansetzte. „Moselwein – Kröver Nacktarsch“, gab er Flannegan zu verstehen und deutete auf das Etikett, auf dem ein Knabe den blanken Hintern versohlt bekam. „Oh, ich liebe Nacktarsch“, grinste er vielsagend.
Daheim, dachte Rufus, würde kein Mensch einen Wein mit solch einem ordinären Namen und schon gar nicht mit so einem perversen Aufkleber kaufen. Sauer schmeckte der Fusel auch noch.
„Prost, Riesling? Oh ja, sehr gut.“ Er überlegte, ob er das reife Hausmädchen wohl um eine Cola bitten durfte.
Der Hauptgang wurde unter einer Silberglocke verborgen auf einem Servierwagen hereingerollt. Großmutter und Enkel heuchelten Spannung, bis ihnen das gelüftete Geheimnis in Form eines gedämpften Karpfens entgegen glotzte. Dessen Anblick ließ die Deutschen lustvoll summen, derweil die Gäste ihr Erstaunen schweigend teilten und sich mit erhobenen Augenbrauen Mut signalisierten. Durch die alte Dame ermuntert, gab sich das Mädchen beim Beladen der Teller sehr großzügig. Filetierte Fischbrocken schwammen mitsamt halbierten Salzkartoffeln in einer blassen Soße, die das Mädchen mit Grünzeug bestreute, bevor sie die Portionen auftrug.
Justus hatte eine weitere Flasche entkorkt, mit der er den Tisch umkreiste. Indes er mit der einen Hand Flannegans Glas füllte, strich die andere über die Schultern des Leutnants. Ein weiterer Toast folgte.
Noch immer hielt niemand für ein Tischgebet inne. So wollte Rufus dem Herrn doch wenigstens danken, indem er die Augen in Andacht schloss. Ob alles in Ordnung sei, fragte die Hausherrin. Rufus nickte freundlich und prüfte den Geruch der Soße, der dem des Fusels in seinem Glas verwandt war.
Zerdrückte man die grünlichen, Rosinen ähnelnden Beeren mit der Zunge, verströmten sie einen salzig-sauren Geschmack, der sich mit der mehligen Soße vermengte, die das fade Fischfleisch an den Gaumen pappte, sodass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als mit dem Nacktarsch nachzuspülen.
Er fühlte sich beobachtet. An seinen Manieren fand er nichts Auffälliges, auch das Grummeln seiner Eingeweide konnte nicht so laut sein, dass es Aufsehen erregte. Dennoch bemerkte er, wie ihn die alte Dame aus den Augenwinkeln taxierte, bis er sie geradewegs anstarrte und sie nachgab.
„Die Mutter aus Versbach“, sinnierte sie auf Deutsch, griff zum Glas und lächelte ihm entgegen.
„Ich schwarz, du schwarz.“
Ihr Satz erzeugte Verwunderung in der Runde. Kichernd wiederholte sie ihren Scherz: „Ich schwarz, du schwarz.“ Obgleich ihr die anderen nicht folgen konnten, prustete sie vor Lachen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Justus schickte einen flehenden Blick an die Decke. Ihr köstliches Bonmot schien erklärungsbedürftig, auch wenn es die Pointe kostete. Seine Großmutter spreche von der Übereinstimmung ihrer inneren politischen Gesinnung mit dem äußeren Erscheinungsbild ihres Gastes, was die Betroffene schallend bestätigte. „I black, you black!“
Der Rülpser war nicht zu halten gewesen. Rufus entschuldigte sich kurzatmig, sichtlich bemüht, die in ihm brodelnde Mixtur bei sich zu behalten. Schon war Justus zur Hausbar unterwegs. Medizin! Medizin! Der Inhalt der braunen Bauchflasche sei das beste Mittel gegen das Brennen. Vor dem shnaahpps der Deutschen war er bereits vor seiner Abreise gewarnt worden. Also gut, aber nur einen. Der Name des Gesöffs war unaussprechlich, wenngleich Justus ihn geduldig wiederholte: „Spessarträuber! Runter damit! Down with it!“
Die alte Dame geleitete ihre Gäste vor den leuchtenden Baum, wo sich das Hausmädchen mühte, an die Kerzen der obersten Reihe zu gelangen. Rufus, der sie um mindestens zwei Köpfe überragte, übernahm die Streichhölzer und erledigte das Entzünden. Weil er den Engel auf der Schachtel so niedlich fand, gestattete ihm das Hausmädchen mit einem leichten Schwung der Hand, die Hölzer zu behalten.
Justus hatte eine Platte aufgelegt und ließ den Tonarm in die Rillen gleiten. Silent Night, Holy Night. Samtig. Die Züge der alten Dame entspannten sich.
„Harry Belafonte“, schwärmte sie, „ein Neger wie du, lieber Rufus. Macht das Heimweh? Schön, nicht wahr?“
Diese Geste wisse er wirklich sehr zu schätzen, entgegnete er ihr, obwohl er dieses Gesäusel zum ersten Mal in seiner ganzen Süße wahrnahm. Jetzt war wohl nicht der passende Augenblick seiner Gastgeberin zu eröffnen, dass er nicht damit einverstanden sein konnte, ein Neger genannt zu werden. Den rechten Moment wollte er abwarten, um sie höflich darauf hinzuweisen. Spätestens seit Dr. King und all den anderen waren die Zeiten des Negro ein für allemal vorbei. So viel schwarzer Stolz durfte sein, nein, musste sein, da hatte er keine Zweifel.
Prompt läuteten die Glocken der umliegenden Kirchen. Gerne hätte er gehört, wie die Deutschen ihren Gospel sangen. Dem Herrn Jesus hätte er gerne für diesen Abend gedankt. Zumindest unter seinesgleichen tat man das. Amen.
Flannegan trat vor, straffte seinen Oberkörper und räusperte sich. Das folgende Sprüchlein musste er auswendig gelernt haben, ohne so recht zu wissen, was er da aufsagte. Die beiden Gastgeber schienen seine Worte zu amüsieren. Rufus klatschte Beifall.
Die Päckchen, die Flannegan der alten Dame und dem Enkel überreichte, kamen Rufus sehr bekannt vor. Identisch, oder waren es sogar seine eigenen? Was, wenn sich auch Flannegan genau an die Empfehlungen auf dem Merkblatt für Soldaten im Weihnachtsprogramm gehalten hatte? Bereits jetzt wirkte Rufus wie ein Nachahmer, der seinen Vorgänger imitierte. Und so hieß es: Oh, so feine Taschentücher! Danke, Herr Leutnant! Und gleich weniger euphorisch, eher von der mangelnden Originalität enttäuscht: „Ach, auch Taschentücher! Auch schön.“
Die alte Dame hatte sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen, echte Seidenkrawatten aus dem Nachlass ihres Mannes, zu schade, um sie einfach wegzugeben. Für jeden drei Stück, uni, gestreift, kariert.
Justus hielt eine Überraschung aus Marzipan bereit, die er eigens bei einem Konditor hatte formen lassen: Den amerikanischen Freunden einen Ascheberger Arsch, jedem ein Paar Po-Backen, wie sie als Zierstück im Gemäuer beim Pompeijanum zu finden waren. Doch nicht nur heimische Ärsche seien ihm lieb, ließ er Flannegan wissen.
Die Belafonte-Scheibe verschwand in ihrer Hülle. Vorfreudig die Hüften schwingend legte Justus eine Single auf.
„Fellows! I wanna get up and do my thing!“, tönte es in stereo. Justus packte Flannegan bei den Handgelenken und zog ihn auf das Parkett in der Mitte des Wohnzimmers.
„Like a, like a Sexmachine!“, schrie er James Brown folgend „One, two, three, four!“ Justus hatte den Auftakt längst verpasst, verbog sich ungelenk, während er Flannegan bei sich zu halten versuchte. Der entwand sich geschickt und gab vor, dringend auf die Toilette zu müssen. Die alte Dame rief das Dienstmädchen herbei und fuchtelte in Richtung der Stereoanlage. Beim Versuch die Musik zu beenden, entglitt der Gehilfin der Tonkopf, die Nadel sprang aus der Rille und kratzte quer über das Vinyl.
Justus warf seiner Großmutter kulturelle Ignoranz vor, wobei sein Blick bei Rufus nach Bestätigung suchte.
„Es waren die Schwarzen, die Amerika den Blues schenkten!“ Nicht ganz, dachte Rufus. Es war Amerika, das den Schwarzen den Blues bescherte. So hatte er es zumindest von Flip Wilson gehört.
Zum Nachtisch war die Stimmung dahin. Der alten Dame sah man ihre Erschöpfung an, auch wenn sie sich tapfer zu einem beständigen Lächeln zwang. Schweigend löffelten sie Vanilleeis mit Schokoladensoße, die erste Speise, die nicht säuerlich schmeckte. Unruhig behielt Justus die Tür zum Flur im Auge. Flannegans Portion schmolz vor sich hin. Justus stand auf, um nach dem Leutnant zu sehen.
Bedächtig linierte die alte Dame den Satz am Boden ihrer Dessertschale mit ihrem Löffel. Die Anwesenheit ihrer Gäste schien sie nicht mehr zu interessieren. Dezent und doch unübersehbar entzifferte sie das Blatt der Standuhr gleich beim Kamin. Hinter vorgehaltener Hand bahnte sich ein leichtes Gähnen an.
‚Das Eis!’, dachte er. Er hätte es meiden sollen. Sein Magen war nicht mehr bereit, noch mehr aufzunehmen. Er war sauer. Erste Krämpfe kündigten Abwehr an. Rufus musste sich sputen, wollte er die Toilette rechtzeitig erreichen. Drei, vier Sprünge mit der Serviette vor dem Mund und er hatte das Badezimmer erreicht. Wenn ihm nicht schon übel gewesen wäre, dann hätte es ihn spätestens jetzt, als er die Türe aufriss, erwischt. Gerade drang die Zunge des Enkels in den Mund des Leutnants ein und paarte sich leidenschaftlich mit ihrem trägen Gegenstück, das neugierig erwachte und sich dem Rhythmus der Hand anpasste, mit der Justus den Mast in Flannegans Hose aufrichtete. Sodom und Gomorrha! Die Augen wollten sich abwenden, der Magen verlangte nach einer Schüssel. Noch bevor sich Rufus entscheiden konnte, verschafften sich seine Eingeweide Erleichterung, welche sich kraftvoll auf den Hosenbeinen der Umschlungenen entlud. Nur raus hier! Er stürzte an der fassungslosen alten Dame vorbei, riss seinen Mantel vom Haken der Garderobe, warf ihr einen kurzen Blick zu, sagte Sorry und stand schon halb im Freien.
„Sie undankbarer Neger, Sie!“

* * *​


Die eisige Luft tat gut, auch wenn ihm bereits nach wenigen Schritten die Zehen abkühlten. Er war allein. Oder einsam? Die Menschheit hatte sich in ihre Wohnzimmer zurückgezogen. Wer jetzt noch draußen war, der gehörte nicht dazu. Jedes der warm erleuchteten Fenster versprach ein kleines Glück, doch die Spasmen seines Magens erinnerten ihn an die erlebte Wirklichkeit, an Völlerei und Unzucht. Amen. Er ließ sich der Altstadt entgegentreiben, lauschte dem Gesang, der aus einer Kirche zu hören war. So sangen Seelenlose, monoton, ohne Rührung des Herzens, kein Feuer in der Brust. Wie gerne hätte er jetzt seine Stimme zum Herrn erhoben. Amen. Cool Man! fanden ihn die Jugendlichen, die ihm in einer der schmalen Gassen beim Schloss begegneten und sein Lied empfingen. Schneefall, still und kalt.
Vor einer Kneipe stritten zwei kräftige Männer in kurzarmigen Lederwesten. Er wechselte die Straßenseite, um ihnen auszuweichen. Sie hatten ihn bereits bemerkt und riefen ihn zu sich.
„He, Mann, komm her, Mann!“
In gebrochenem Englisch luden sie ihn auf einen Drink ein. Sie bräuchten seine Hilfe. Nur für einen Moment. Er käme wie gerufen und vielleicht sogar in die Zeitung. Schon hatten sie ihn an den Eingang bugsiert, wo ihn das Schild an der Wand zum Stehen brachte.
OFF LIMITS.
Genauso gut hätte auch WHITES ONLY darauf stehen können, dachte Rufus. Was erlaubten sich die Deutschen da eigentlich? Daheim hatte selbst der letzte Redneck kein Recht mehr, ihm den Zutritt irgendwohin und zu irgendetwas zu verweigern.
Die Westenträger ermunterten ihn. „Bullshit, Mann, only bullshit, okay?“
Seine Finger schmerzten vor Kälte. Die Nase begann zu laufen, dass er schniefte und den Handrücken zu Hilfe nahm. Aufwärmen, das würde guttun. Ein schnauzbärtiger, kugelförmiger Wirt empfing ihn, grüßte ihn wie einen alten Bekannten, schob ihm ein Bier über den Tresen und bat ihn, sich den Hocker beim Fenster zu nehmen, was bei einigen der Gäste für Verwunderung sorgte.
Die beiden Männer waren wieder auf die Straße getreten und kehrten ihm ihre Rücken zu. Was war er für ein Narr, war er denn so besoffen, dass er sich auf so eine Geschichte eingelassen hatte? Die Westen der Jungs trugen das Emblem einer Motorrad-Gang. Heaven‘s Own. Noch berauscht von all dem weihnachtlichen Glanz hatte er sich von ihrer gespielten Freundlichkeit blenden lassen.
„Damit hättest du rechnen müssen“, sagte er sich. Nie im Leben wäre er daheim auf solche Typen hereingefallen. Okay, Deutschland war nicht Louisiana, eine Kneipe in Aschaffenburg nicht das Hauptquartier des Ku-Klux-Clan, suchte er sich zu beruhigen.
„Was macht denn der Bimbo hier?“, hörte er einen schlacksigen Typen fragen, der ihn fixierte und sich neben ihn an die Theke fläzte. Seine Lederweste gab die Oberarme frei. Auf dem rechten Bizeps wehte die Rebel Flag, darunter stand das Motto der Südstaaten noli me tangere in die Haut tätowiert. Unter den Augenlidern hatten sich Tränen aus blauer Tinte unauslöschlich in das Gesicht des Typen eingeätzt.
„Lass ihn in Ruhe.“ Eine in Wildleder gekleidete Amazone war neben dem Wirt aufgetaucht. Ihr Wort schien Gewicht zu haben, schwer wie die silbernen Reifen, die mit türkisfarbenen Steinen versetzt waren und Hals und Arme zierten. Ihre Haut vereinte alle erdenklichen Menschenfarben zu einem kupfernen, oliv getönten Glanz. Schwarze Locken ruhten auf ihren wohlgeformten Schultern. Ihr Gesicht wurde von einer schmalen Nase beherrscht. Ihre braunen Augen schienen alles und jeden zu durchschauen, so dass Rufus ein paar Anläufe benötigte, bis er ihrem Blick standhielt, so, wie man sich erst an ein gleißendes Tageslicht gewöhnen musste, wenn man aus einem Traum erwachte, besonders wenn er sich so düster ausnahm wie der, in dem sich Rufus gerade gefangen fühlte. Wenn man sie in Frieden ließe, seien diese Kerle ganz harmlos, gab sie ihm zu verstehen. Einen schlichten Ring, aus dem er hätte schließen können, dass sie sich jemandem verbunden fühlte, suchte er an ihren Händen vergebens. Massives, kunstvoll gewundenes Silber zierte einen jeden ihrer langgliedrigen Finger.
Während er sie beim Zapfen beobachtete, wandte sich alle Aufmerksamkeit dem Ausgang zu. Lichtblitze zuckten durch das Fenster. Zwei Militärpolizisten mit weißen Helmen betraten das Lokal, gefolgt von einer Abordnung von Männern, die von einem elegant gekleideten Herrn angeführt wurde.
„Ach, der Herr Bürgermeister persönlich“, sagte die Schöne abfällig und frischte die Schaumkrone auf den Biergläsern auf.
Den Oberst an der Seite des Stadtoberhauptes kannte Rufus. Colonel Bacon, der Standortkommandeur, der von seinem Adjutant, einem drahtigen Major, gerade auf den angetrunkenen Gefreiten dort auf dem Barhocker am Fenster aufmerksam gemacht wurde. Und dessen Anwesenheit nach kurzen Wortwechseln alle Mitglieder der Abordnung verstörte. Irgendetwas musste gerade schiefgelaufen sein. Und es hatte mit ihm zu tun. Linkisch verborgenes Entsetzen wich allmählich einem aufgesetzten Strahlen. Man drängte sich um ihn, versicherte sich seines Wohlergehens und ließ sich mit ihm ablichten. Einer der Fotografen zückte seinen Notizblock und fragte nach seinem Namen. „Moody, Rufus Moody junior.“ Und schon war die Karawane weitergezogen.
Des Colonels Adjutant kehrte gehetzt zurück und schnauzte ihn an: „Mit ihrer beschämenden Präsenz haben Sie uns gerade in eine äußerst peinliche Situation gebracht.“
Das Einlassverbot in diesen Laden – OFF LIMITS – hatten sie mit ihrer Aktion abschaffen wollen. „Sogar die Presse hatten wir auf unserer Seite! Wir hätten das heute ein für allemal regeln können! Und da sitzen Sie hier beim Bier, Sie ... der Oberbürgermeister ist außer sich! Er habe seine Leute nicht im Griff, hat er dem Colonel vorgeworfen ... ich kann Ihnen nicht sagen, wie ... was für ein ... Melden Sie sich morgen früh bei Ihrem Kompaniechef, in Uniform, blitzsauber, tiptop! Schauen Sie sich nur an. Sehen Sie zu, dass Sie hier verschwinden!“
Recht hat er, der Major, gestand sich Rufus, als er die Kotze an seinen Schuhen entdeckte. Er spürte den Magen aufwallen und ekelte sich vor seiner eigenen Erscheinung.
„Der Bimbo riecht schlecht, time to go.“ Der Tätowierte pirschte sich an ihn heran.
Die Schöne hinter dem Tresen war verschwunden. Ja, es sei wohl Zeit, besser zu gehen, meinte der Wirt mit versöhnlich zur Seite gelegtem Kopf.
Ein wenig schwarzer Stolz durfte jetzt schon sein, musste sein, dachte Rufus. Er nehme noch ein Bier mitsamt einem Shpezzartrauber. Sein Wunsch stieß auf wenig Verständnis. Der sehnige Rocker erklärte ihm kumpelhaft, dass all die Deutschen hier wenigstens an Weihnachten einmal ganz unter sich sein wollten. Ob er das verstehen könne?
Ob der Kerl echte Deutsche meine, entgegnete ihm Rufus mit gespieltem Interesse, also solche mit echten deutschen Müttern?
Genau so sei das gemeint, sagte der Rocker.
Rufus glitt vom Barhocker und stellte sich vor dem Tränengesicht auf.
„Jetzt sage ich dir mal was, du kleiner Hurensohn – meine Mutter, die Gabi aus Värschbach, die ist zehnmal deutscher als deine Mama und dein deine Mama fickender Papa zusammen! Was ist das für einer, dein Papa? So wie du aussiehst, du ‚Weißbrot’ ... ein Polacke? Ein Itacker?“ Der Rocker schien zwar nicht alles verstanden zu haben, doch genug, um die Fäuste zu ballen und seinen Brustkorb aufzublasen.
Schon war Rufus von den schwarz gekleideten Männern umringt. Der Wirt schob sich in den Kreis. „Go! ... Out!“
„Ein bisschen Stolz muss sein! Verstehst du das, Mann?“ Auch diesen Satz schien keiner wirklich zu verstehen.
Rufus wollte bezahlen, der Wirt winkte ab: „Go!“
Nein, zahlen werde er! Er nestelte seinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche seiner Uniform.
Die Rocker ließen ihn gewähren.
Leer. Nichts – hatte er doch Jackson bei Winslow ausgelöst. Sein langsam aufziehendes, breites Grinsen verwirrte die Bande.
„Wie gut,“ lachte er, „dass unsereins nicht erröten kann.“
„Geh‘ jetzt einfach, okay?“ Mit ruhiger Stimme bahnte ihm die Schöne den Weg durch die aufgebrachte Menge. Am Ausgang sorgte sie dafür, dass ihm niemand folgte.
Noch wütender als zuvor trieb der Wind den Schnee durch die Gassen. Wohin? Gefühlsmäßig wählte Rufus den Weg zu den Kasernen hinauf, ging ihn aber nur bis zu dem Park, der den Stadtkern vom Kasernenviertel trennte. Er tappte einen verschneiten Weg an einem vereisten Teich entlang. In ihm machte sich die Einsicht breit, dass es doch keine so kluge Entscheidung gewesen war, seine Halbbrüder, die Deutschen näher kennenzulernen. Anscheinend war er der Einzige, der meinte, ohne das Beleben seiner deutschen Wurzeln unvollkommen zu sein.
Aus einem Holzverschlag inmitten des Parks blökte ein Schaf. Rufus näherte sich der Hütte von der Rückseite und ging um sie herum. Eine Seitentür war lediglich mit einem Gatter verstellt, durch das er sich leicht hindurch zwängen konnte. Von innen ließ sich die Türe schließen und der Wind aussperren. Durch ein Oberlicht schien der Mond in den Stall. Drei Schafe drängten sich in einer mit Stroh ausgelegten Ecke.
Die Schatten zweier lebensgroßer Statuen hätten ihm einen Schrecken einjagen müssen, doch war ihm das Bild derart vertraut, dass ihm sofort die Worte des Erzengels in den Sinn kamen. Fürchtet euch nicht! Zwischen den Figuren stand die Krippe, aus der ihn ein geschnitztes Jesuskind halbnackend anlächelte. Rufus gesellte sich zur Heiligen Familie indem er sich auf einen Strohballen zwischen sie setzte. Die Schafe schenkten scharf riechende Wärme, begafften ihn wie eines der ihrigen – ein schwarzes halt – und erlaubten ihm, die Hände in ihr Fell graben.
„Hallo Leute, ich bin‘s, der dritte König“, sagte er zu dem Kind und zog den Peacemaker aus der Brusttasche seines Hemdes. „Ich bringe den Weihrauch.“
In seiner Hosentasche fand er die Schachtel mit dem Engelsbildchen, entzündete daraus ein Streichholz, das er an den Kopf des Joints führte.
Rufus atmete den bitteren Rauch ein. Der würzige Geruch mischte sich mit dem animalischen Dunst des Stalls. Mit jedem Zug fühlte er sich ruhiger und tiefer in sein Inneres blicken, er dachte an die Gabi aus Versbach, die er bald finden würde, an die alte Dame, bei der er sich hätte entschuldigen sollen, wie man das unter seinesgleichen tat, er sah die Jungs in der Kaserne streiten, sah, wie ihm Onkel Sly über ein wogendes Meer aus Bambusspitzen zulächelte.
Der Engel erhob sich mit geöffneten Schwingen vom Deckel der Schachtel, und derweil Rufus Moody Jr. die Augen schloss, nahm der Cherub Gestalt und Stimme von Curtis Mayfield an:

Little child – Runnin' wild
Watch a while – You see he never smiles

Er ließ den Stummel des Joints in die Krippe fallen, wo die schwindende Glut neue Nahrung fand.

In the back of his mind he's sayin'
Didn't have to be here
You didn't have to love for me
While I was just a nothin' child
Why couldn't they just let me be
Let me be, let me be, let me be


- Ende -


(Der Songtext Little Child Runnin‘ Wild stammt aus dem Album Superfly von Curtis Mayfield, 1972)

 
Zuletzt bearbeitet:

Eine Novelle von knapp 30 Seiten. Also keine Kurzgeschichte, kein Roman. Was nun? Trotzdem viel Spaß dabei... Gruß HenriFunk

 
Zuletzt bearbeitet:

Eine Novelle von knapp 50 Seiten. Also keine Kurzgeschichte, kein Roman. Was nun?

Hallo Henri,

ich habe den Text von den Romanen zu den Kurzgeschichten verschoben.
Laut "WK-Regeln" wäre sonst ein Exposé notwendig, außerdem gibt es weitaus längere KGs hier.

Gute Grüße, GoMusic

P.S.:
Du sagst: "Ich glaube es ist Zeit, mich offener und konstruktiver Kritik zu stellen, um weiterzukommen."
Ich denke es wäre auch Zeit, dass du dich im Forum mit Kommentaren zu anderen Geschichten einbringst ;)
Geben und Nehmen.

P.P.S: Wenn ich die Normseite gem. VG Wort verwende, komme ich auf etwa 30 Seiten :shy:

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom