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Der Fluss des Lebens

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26.07.2019
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Der Fluss des Lebens

Die Sonne schien durch das hoch in der Wand gelegene Fenster. Durch die Öffnung in der dicken Mauer drangen leise Geräusche in das große und überraschend helle Zimmer. Gelächter, herangetragen vom frischen Frühlingswind, das Knarren hölzerner Karren auf dem gepflasterten Hof, ein bellender Hund. Die Laute tropften in das Zimmer wie Sirup und das Licht ließ den Staub wie Diamanten glitzern. Es wurde nun wirklich Frühling. Trotzdem fröstelte er. Über seinem dicken Gewand trug er einen Pelz und auf den Knien eine dicke Decke. Wie ein alter Mann, dachte er fast amüsiert.

Als er seine Hände betrachtete erinnerte er sich plötzlich wieder – knorrig, mit blauen und hervortretenden Adern, verkrümmte Finger von der Arthritis, die Haut dünn, fast durchscheinend und voller Altersflecken. Ja richtig, er war alt. Lustlos schob er den Frühstücksbrei mit seinem Löffel hin und her. Grau und schleimig, genauso wie er es nicht mochte. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, trank einen Schluck des furchtbar leichten Bieres aus dem silbernen Pokal, überlegte kurz und verlangte dann Wein. Ein schüchterner Junge in einer albernen Uniform goss ihm ohne weiteres Zögern dunklen, kühlen Traubensaft in den Becher. Der letzte hatte immer gehüstelt oder sonst irgendwie zu verstehen gegeben, was er davon hielt, schon am Morgen Wein zu trinken. Ha! Er war nicht fast 80 Jahre alt geworden, um jetzt vernünftig zu werden.

Zu tun gab es hier sowieso nichts. Nicht wirklich. Nichts, wofür man einen klaren Kopf brauchen würde. Er trank einen großen Schluck Wein und wartete, dass der Alkohol seinen Magen wärmen würde. Vielleicht sollte er von diesem warmen, gewürzten Wein trinken, der jetzt so in Mode war. Darüber dachte er einige Minuten nach und blickte dann hoch zum Fenster. Eine kleine Schar von Vögeln hatte sich auf dem Sims niedergelassen und stritt wütend um irgendeine Brotkrume oder ein Insekt. Die winzigen Tiere waren ganz aufgeregt, plusterten sich auf und zwitscherten zornig. Unweigerlich musste er lachen über die Ernsthaftigkeit, mit der die Tierchen einen albernen Krieg ausfochten.

Und wie so oft in letzter Zeit war es, als ob man eine Tür zu seiner Erinnerung aufgestoßen hätte, Erinnerungen an längst vergangene, ferne Zeiten. Das geschah in letzter Zeit immer öfter, ein Wort, ein Gegenstand, irgendetwas und die Erinnerungen umspülten ihn, rissen ihn mit sich und trugen ihn in die Vergangenheit.
Plötzlich war er nicht mehr in dem großen Raum mit dem Pfostenbett, dem großen Kamin, dem geräumigen Tisch und den Truhen, sondern stand im schneidenden Wind, die Schultern gegen die Kälte hochgezogen. Er glaubte zu spüren, wie seine dünnen Hausschuhe aus Leder sich mit kaltem Wasser vollsogen und der Schlamm an ihnen kleben blieb. Er war inmitten eines unglaublichen Gedränges, überall waren Menschen, die Dinge hin und her trugen, mit wichtigen Minen huschten Schreiber in ihrer typischen schwarzen Kleidung, beladen mit Schriftrollen mal hierhin, mal dorthin. Pferde wurden über den Matsch geführt und alle Bauern und Händler der Umgebung waren da, priesen schreiend oder wild gestikulierend auf ihre Waren hin, Gemüse, Stoffe, Fleisch, Messer, Hüte, alles was man sich nur vorstellen kann. Eine ganze Stadt aus großen und kleinen Zelten, manche so groß wie ein stattliches Haus aus edlen Stoffen, andere nicht mehr als graue, löchrige Planen.

Im Hintergrund ragten über der Zeltstadt die Türme des großen Tempels der Hauptstadt in die Höhe und daneben die Residenz des Kaisers. Der Himmel war grau und im Westen braute sich ein Sturm zusammen. Er konnte die Spannung in der Luft regelrecht schmecken. Ja, das war ein schrecklicher Sturm gewesen, damals in dieser verhängnisvollen Nacht 936.

Unschlüssig stand er herum, dann ging er umher. Seltsam, er war sich sicher, dass er sich nicht an so etwas erinnern konnte. Nicht, dass es irgendwo in seinem Gedächtnis verschwunden wäre, nein, er war sicher, dass er während des Reichstages niemals dort entlanggelaufen war, wo er nun entlangging. Das war neu. Sonst war es immer so, als beobachte er die Welt durch die Augen seines jüngeren Ichs. Jetzt war er ein Besucher in einer erinnerten Welt. Er konnte herumlaufen, sich frei bewegen. Leute bemerkten ihn nicht, oder sie nahmen keine Notiz von ihm. Es war nicht etwa so, dass sie durch ihn hindurchgingen. Nein, es war als schienen sie ihm auszuweichen, im Platz zu machen. Hin und wieder, da sah ihn auch jemand direkt an, zumindest schien es so. Vielleicht starrten sie auch ins Nichts. Es war ihm überraschend egal.

Er griff nach einem Apfel. Er konnte das Obst tatsächlich in die Hand nehmen, er war kalt und feucht. Die Händlerin schien dagegen nicht zu bemerken, dass sie gerade bestohlen wurde. Natürlich dachte er gar nicht daran, zu bezahlen. Das machten auch sonst immer andere für ihn. Er biss in den Apfel. Das war seltsam. Es fühlte sich an, als ob er in einen Apfel beißen würde, aber es schmeckte nach nichts. Als er ausspuckte, sah er, dass sich das, was vom Apfel übriggeblieben war in etwas Graues, Schleimiges verwandelt hatte. Er war irritiert, warf den Rest der Frucht zu Boden und ging weiter durch den kühlen Nachmittag.

Stimmen drangen aus einem besonders großen Zelt, etwa im Zentrum der Zeltstadt. Es war eher eine Halle aus Stoff, mit Fahnenmasten an seinem Eingang und Wachen davor. Er konnte sich gut an das Zelt erinnern. Er schritt rasch, die Schultern gegen den aufziehenden Regen hochgezogen, auf das Zelt zu … und wurde fast von einem Pferd über den Haufen geritten. Er blieb erschrocken stehen und das große, braune Tier starrte ihn mit panischem Blick an, die Nüstern zittern und es scharrte nervös mit den Hufen. Der Reiter schien ihn aber gar nicht zu bemerken. Er tätschelte dem Tier den Hals und sprang dann ab, die Zügel einem schon herbeigeeilten Burschen übergebend. Er blickte auf – und sah sich. Er war tatsächlich ein gutaussehender Mann - gewesen. Das konnte er jetzt ganz ohne Stolz oder Selbstlob sagen. Man hatte kaum die Gelegenheit sich selbst zu betrachten. Er hatte sich selbst gesehen, im Wasser, in der Spiegelung eines silbernen Tellers, aber so vor sich zu stehen war etwas ganz anderes.

Er war groß – und so jung, gerade 25 Jahre alt, ein unerfahrener, aber muskulöser Tölpel, mit einem beeindruckenden Bizeps, der, wie seine Brustmuskeln, fast den ledernen Wamst zerriss. Lange, schlanke und starke Beine, kräftige Hände, ein dichter, kurzer und pechschwarzer Vollbart, schwarzes, langes, volles Haar, strahlend blaue Augen. Selbst durchnässt vom Regen und bespritzt mit Schlamm nach dem langen Ritt war er eine beeindruckende Gestalt und er verstand plötzlich, warum ihn immer alle den „Schönen Grafen“ genannt hatten.

Fast verärgert blickte er an sich herunter, sah den langen weiße Vollbart, die klauenartigen Hände und fast verlegen strich er über seinen kahlen Kopf.
„Geh da nicht rein!“ brüllte er plötzlich, einer seltsamen Eingebung folgend.
Zögerte der Junge, also er? Blickte er kurz in seine Richtung? Der junge Mann schüttelte den Kopf und trat dann in das Zelt ein. Idiot! Wutschnaubend stürzte er sich hinterher, die Wachen nahmen keine Notiz von ihm.

Im Innern waren sie alle schon versammelt. Oh, wie er sie hasste! Da saß Herzog Giselbert, dieses verlogene Stück Dreck, wie immer lächelnd, freundlich und mit mehr Kuhscheiße im Kopf, als man auf jedem Misthaufen finden konnte. Herzog Eggerbrecht, ein fettes Schwein, ständig am Fressen und Saufen – und Schwitzen. Er konnte den säuerlichen Gestank bis hierher riechen, schlecht überdeckt von Kräutern, Herzog Gieswein, eine Kreatur ohne Rückgrat! Und natürlich Herzog Rodelgart, immer zurückhaltend, immer höflich, ganz der Edelmann der alten Schule – und nebenbei der größte Intrigant des ganzen Reiches.

Noch mehr Herzöge, Grafen, Ritter, Vizegrafen, Freiherrn, das ganze adlige Pack. Die Herzöge bildete eine eigene Gruppe in dem Zelt, es war als trenne sie eine unsichtbare Grenze von den Grafen, den Rittern und anderen Leuten im Zelt. Nur der Erzhohepriester und zwei Erzbischöfe, Enrich von Buera und Gusbert von Katzstein, hatten sich unter die Herzöge gemischt. Er sah, wie sich Rodelgart erhob und sein jüngeres Ich freundlich begrüßen, zu freundlich. Er legte ihm einen Arm um die Schultern und führte ihn zu den anderen Herzögen. Der junge Er verneigte sich artig und er wollte ihn wieder anschreien.

„Lauf weg! Lauf weg! Die wollen dir nichts Gutes! Hau ab!“
Er sparte sich den Atem. Sie führten den jungen Grafen zu einem Tisch, schenkten ihm Wein ein und redeten auf ihn ein. Nicht zu offensichtlich, immer mal wieder ein Wort hier, ein Wort da. Oh ja, er konnte sich genau an das Gift erinnern, dass sie in seine Ohren geträufelt hatten. Er konnte sich an jedes Wort erinnern. Er war damals so jung gewesen, so dumm und naiv – und idealistisch. Wann hatte er das verloren? Schon in dieser Nacht? Oder erst einige später? Gar erst vor kurzem? Er wusste es nicht.

Jetzt sah er ganz klar, dass sein Leben hier und heute endet – nein geendet hatte. Plötzlich war es dunkle um ihm, die Gestalten verblassten zu Schatten in einer Welt aus Rauch, er hörte Stimmen, sah sich bewegende Schemen, aber er konnte nicht erkennen. Dann plötzlich wurde alles wieder klar. Er lehnte sich erschöpft mit dem Kopf gegen eine kühle Säule. Er war nicht mehr im Zelt, es war nicht mehr der gleiche Tag.

Eine müde Sonne fiel durch die Fenster in den großen Saal, der voller Menschen war. Es war ein langer, hoher Raum, der, wenn er leer war, riesig wirkte, jetzt aber fast zu klein war, um alle die Menschen aufzunehmen. Ganz am Ende der Halle, in einer Art Apsis, hatte man ein hölzernes Podium aufgebaut, darüber ein Baldachin im kaiserlichen Rot, einer Farbe wie frisches Hirschblut. Zwei große Throne standen unter dem Baldachin. Auf dem kleineren saß eine ältere schlanke Dame, elegant gekleidet, zurückhaltend, immer ein wenig traurig war ihr Blick, ihre ganze Gestalt strahlte Melancholie aus. Damals hatte er das nicht verstanden, hatte es niemand verstanden. Sie war die Kaiserin, die wohl am meisten beneidete Frau im ganzen Reich. Jetzt wunderte es ihn eher, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht schon längst auf einem Fenster des Palastes gestürzt hatte.

Neben ihr, auf dem großen Thron, saß der vom Gewicht seines Amtes niedergedrückte Kaiser Henrich. Das war ganz wörtlich zu verstehen. Die Krone, die er auf seinem Kopf trug, wog eine Tonne. Und sie war ihm ein wenig zu groß, so dass er den Kopf ganz gerade halten musste, damit das schreckliche Ding nicht polternd auf dem Boden in tausend Splitter zerbrach. Es sah aus, als sinke sein ganzer Hals unter dem Gewicht der Krone in seinen Rumpf. Auf den schwachen Schultern des alten Kaisers – sah er auch so alt aus? Er war sogar noch älter, stellte er mit Entsetzen fest – lag der schwere goldgesäumte Umhang und in seinen Händen, klauenartig wie seine eigenen, die beiden schweren und unpraktisch langen Zepter.

Der Raum war erfüllt vom Raunen und Flüstern der Anwesenden. Es waren gut und gerne dreihundert Personen anwesend, die meisten Grafen, die Herzöge, die Gemahlinnen, dazu der Hofstaat, die Minister, Bischöfe und da in der Ecke, von ihm aus gesehen links von dem Thronaufbau, standen die ausländischen Gesandten. Er hatte damals schon gedacht, dass die eigentlich bei dieser Zeremonie nichts zu suchen hatten. Er fragte sich heute, ob einige dieser arroganten Ausländer vielleicht sogar die Wahl beeinflusst hatten. Hatte man erwartet, dass ein schwacher Kaiser ein leichterer Verhandlungspartner war? Er hatte die aerathischen Gesandten kennen gelernt und bemühte sich jetzt, sich an den Namen des Mannes zu erinnern, der da neben dem Thron stand. Schon damals waren ihm diese Leute suspekt gewesen.

Mani, ja, so hatte er geheißen. Ein älterer Herr, groß, dürr, mit einem Gesicht wie ein Raubvogel. Stets in weiß gekleidet, kahl rasiert, stark geschminkt und umgeben von einer Wolke aus weiß gekleideten Dienern, Schreibern und Kosmetikern. Immer eine Spur zu förmlich, rechthaberisch, arrogant. Mani hatte einen Tonfall, der nicht zu einem Gesandten passen wollte. Er sprach, als meißle er seine Worte in Stein, keine Vorschläge, sondern Handlungsanweisungen. Da gab es dann aber auch noch die buntgekleideten Gesandten der Händlerstaaten im Osten und die den Hesstiern gar nicht so unähnlichen Luchta aus dem Nordwesten.

Er sah, wie Bewegung in die Menge kam und sich der Kaiser umständlich, die ihm angebotene Hilfe ignorierend, aus dem Thron hievte. Köpfe wurde gesenkt, Rücken gebeugt und der Hoftag wurde offiziell eröffnet. Die Stimme des Kaisers klang brüchig und rau, die dünne Stimme eines erschöpften alten Mannes. Rodelgart trat vor, wie immer der perfekte Höfling, bescheiden und unterwürfig. Er erklärte umständlich und geschwollen, dass die Kieser ihn zum Sprecher erwählt hätten und dass es auf diesem Reichstag nur ein Thema geben sollte:
„Und so sind wir in gemeinsamer Entscheidung zu dem Schluss gekommen, dass es für das Reich und den Thron das Beste wäre, wenn wir heuer einen Thronfolger bestimmen sollten, der eurer gnädigsten kaiserlichen Majestät der einst, in ferner Zukunft nachfolgen solle!“

Der Kaiser grinste ein ganz humorloses Grinsen. „Noch sind Wir nicht kalt, meine Herren Herzöge! Ist es Tradition, einen Nachfolger zu wählen, während der alte Mann noch auf dem Thron sitzt?“
Der Erzhohepriester trat vor und verneigte sich. „Majestät, wie Ihr wisst gibt es kein festgelegtes Prozedere und viele Herrscher bestimmten schon vor ihrem Tod ihren Nachfolger. Es geht um Kontinuität, darum, eurem Nachfolger die Möglichkeit zu geben, von eurer Weisheit zu lernen, ihn die Geschäfte der Regierung eingeführt zu werden … und … „

Der Kaiser winkte ab. „Schon gut, schon gut. Wir sind nicht mehr jung, man wird nur nicht gerne daran erinnert, dass man verwelkt und verdörrt wie eine Pflanze im Winter! Bringen wir das Theater hinter uns!“

Jetzt musste er fast lachen. Henrich wusste, dass er keine Wahl hatte, er hatte versucht seinen Sohn Rogerich zum Thronfolger zu ernennen, war aber gleich zweimal bei Wahlen durchgefallen. Seitdem war nicht nur der Prinz verbittert, sondern auch der Vater. Henrich war vielversprechend gestartet als Kaiser, damals 928, obwohl er nicht mehr jung gewesen war. Ein tüchtiger Graf, der seine Ländereien zu blühendem Wohlstand geführt hatte, dessen Töchter in die edelsten Häuser eingeheiratet hatten und der 917 endlich den ersehnten Erben Rogerich bekommen hatte. Ein freundlicher, allseits beliebter Edelmann, ein begeisterter Jäger, fromm, ehrlich und ehrenhaft. Im Thronkrieg gegen Riudolf II. hatte er sich um die Bevölkerung gesorgt und die Gegner ehrenhaft behandelt. Getragen von einer Welle der Sympathie hatte man ihn zum Kaiser gewählt und er hatte Riudolf II. vom Thron gefegt.

Aber wer siegen kann, der kann nicht immer herrschen. Ihm fehlte der Biss der alten Kaiser, ihr Machtstreben. Er war gefangen in einem Wertesystem des Adels und der Loyalität. Es stellte sich heraus, dass er zu leichtgläubig war, es allen recht machen wollte, schon bei der kleinsten Opposition gegen ihn einknickte und der Aufgabe des Kaisers nicht gewachsen war. Er hatte nicht die finanziellen Mittel, die er braucht und so stand er bald bei den Herzögen in der Kreide.

Jetzt zeigte der scheinbar so überforderte Mann eine überraschende Klarsicht. Er wusste, dass er bei der Thronfolge nichts mehr zu entscheiden hatte und ahnte sicherlich, dass man einen Nachfolger wählte, weil man mit seinem baldigen Tod rechnete. Sicherlich sollte der Neue dann auch schon Aufgaben übernehmen. Und Henrich wusste ganz sicher, dass man wieder einen Kandidaten wählen würde, der es den Herzögen leicht machen würde, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.

Er sah jetzt Rogerich, der am Fuße des Podestes stand. Ein junger, aufbrausender Mann. Trotz seiner Jugend von gerade 20 Jahren war er ein Hühne, noch größer als er selbst, ein breiter Rücken und Berge von Muskeln. Es hieß, er trainiere jeden Tag und esse Unmengen von Eiern, Linsen, Bohnen und Geflügel. Er trug, ganz unüblich für einen Prinzen, das Haar ganz kurz geschoren, so dass sein Kopf nur mit einem grau-blauen Schatten bedeckt war, dazu einen schwarzen, Schnurrbart. Rogerich war eine beeindruckende Figur, aber auch das Zentrum von Getuschel und Gerede bei Hofe. Er war ungewöhnlich, das war interessant, aber auch das Ziel von Spott. Dass er seine Zeit nur mit anderen jungen Männern verbrachte, die wie er regelrechte Muskelpakete waren und den Prinzen in Haar und Bartmode imitierten, nährte Gerüchte, dass Rogerich mit diesen Freunden mehr als nur trainierte und jagen ging.

Er sah den Hass in den Augen des jungen Mannes, der sich um seine eigene Thronfolge betrogen fühlte, sah wie sein Kiefer mahlte, die Muskeln traten an seinem fast kahlen Schädel hervor wie bei einem Bullen. Er hatte die Fäuste geballt und es wirkte, als wolle er gleich nach vorne stürmen, während Rodelgart wieder sprach und gestikulierte. Irgendwann deutete er auf ihn. Also nicht ihn sondern Ihn, sein jüngeres ich. Wieder hatte er das Bedürfnis zu schreien, nach vorne zu stürmen und sich selbst vom Unvermeidlichen abzuhalten. Er stand aber da wie angewurzelt. Er konnte hören, was die Leute neben ihm sprachen, das Wispern und Flüstern, das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand. Es hatte sich seit der Nacht im Zelt bereits herumgesprochen, dass die Kieser den schönen Grafen auserkoren hatten. Viele Frauen sprachen über den schönen Mann, sein langes Haar, seine hochaufragende Gestalt. Einige der Männer raunten, man habe eben wieder einen schwachen Kandidaten benötigt, es waren vor allem die jungen Adligen, die Söhne, die offenbar wirklich auf ihn bauten. Er war einer von ihnen, endlich ein junger Kaiser. Er würde sich durchsetzen, was auch immer das heißen sollte.

Er wollte ihnen höhnisch zurufen:
„Und wie soll er … also ich … das euerer Meinung nach machen? In meiner Grafschaft leben weniger Menschen als in der Hauptstadt, meine Hausmacht ist schwach, ich habe fast kein Geld, meine Truppen sind winzig und ich habe überhaupt keine Ahnung davon, was ein verdammter Kaiser eigentlich den ganzen Tag macht!“

Aber es war – natürlich – schon zu spät. Er sah, wie die Hände der Kieser gehoben wurden, oh ja, ganz fantastisch, ein einstimmiges Ergebnis. Er fragte sich bis heute, wie Rodelgard es geschafft hatte, tatsächlich alle Kieser zu überzeugen. Und jetzt, da sah er es und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Der Herzog drehte sich, fast unmerklich, zu Mani um, der hinter ihm stand und der Gesandte nickte ihm zu. Natürlich. Aerath hatte nicht nur Truppen im Überfluss – das Imperium hatte mehr Männer ständig unter Waffen, als Hesstien Einwohner – sondern vor allem Gold. Alles dort war Gold. Ein Sprichwort aus Hesstien sagte: „Es gibt in Aerath mehr Gold als Staub“ – und als ganz junger Mann, mit 16 Jahren, hatte er seinen Vater einmal auf einer diplomatischen Mission in das Imperium begleitet

… während er daran dachte, verschwamm die Halle und es wurde warm, ja heiß. Als hätte allein der Gedanke an die Reise ihn in der Zeit zurückgeworfen. Das war heute aber eine interessante Zeitreise. Statt der Decke der Halle mit den Bannern der großen Häuser spannte sich nun ein blauer Himmel über ihm. Das Blau war so ganz anders als zu Hause, es hatte etwas seltsam Metallisches, fast als wäre der Himmel aus Eisen gehämmert. Keine einzige Wolke stand am Himmel, dafür war die Sonne hier so gleißend, so hell und so unfassbar heiß, dass ihm der Schweiß ausbrach. Er streifte das Fell ab und ließ es achtlos auf den gefegten Boden fallen. Wie schon bei dem Traum (Traum?) auf dem Reichstagsfeld, konnte er sich auch jetzt nicht erinnern, bei seinem Besuch in der Stadt tatsächlich hier gewesen war. Er war irgendwo in dieser riesigen Stadt. Mehr als eine Million Menschen bevölkerten diesen Ort, der größer war, als so manche Grafschaft seiner Heimat. Er musste jetzt genauso staunen, wie damals, vor fast 70 Jahren. Es gab so gut wie keinen Müll auf den breiten, gepflasterten Straßen und die Häuser waren alle in ein strahlendes, gleißendes und makelloses Weiß getaucht. Überall waren Menschen, ein regelrechtes Geschiebe und Gedränge.

Er schien auf einer Art Marktstraße gelandet zu sein. Überall waren Stände aufgestellt und dort, einige Meter die Straße hinunter, hatte man Stofftücher zum Schutz vor der Sonne zwischen den Häusern gespannt, die nie mehr als drei Etagen hatten. Frauen, Männer und Kinder drängten sich zwischen den Gebäuden, begutachteten die auslegten Waren, drückten prüfend das Obst, rochen am Fisch oder betrachteten Tonperlen und Stoff. Viele Händler verbrannten Weihrauch in kleinen Schalen an ihren Ständen und der schwere Geruch vermischte sich mit dem atemberaubenden Duft von Jasmin, von Parfümölen und frittierten Speisen.

Er wanderte durch die Menschen und betrachtete mit ziemlicher Freude vor allem die Frauen. Scham kannte man hier offensichtlich nicht. Die Frauen trugen entweder Kleider aus bunten Stoffen oder mit Perlennetzen belegt, die leise und erotisch klapperten, aber den Busen freiließen oder unter breiten Trägern zumindest hervorblitzen ließen, oder sie waren wohlhabender, dann trugen sie feinste weiße Gewänder, die so fein gewebt waren, dass sie fast völlig durchsichtig waren. Da ging gerade eine Gruppe dieser aufreizenden Blumen, kichernd, mit schwarzen Locken und roten Lippen, die in der Sonne glänzten. Ihre dunklen Brustwarzen drückten sich gegen den dünnen Stoff, Arm- und Fußreife klirrten bei den Gesten, Lachen, klar wie ein Frühlingsmorgen, und der Duft! Die jungen Frauen dufteten wie Gebäck, wie frische Blumen, wie ein Spaziergang durch einen Sommergarten… Hinter ihnen Dienerinnen und Diener. Hier hatten die Frauen auch männliche Diener, die Kosmetikkästen mit sich schleppten und Sonnenschirme, kleine Schemel und Wedel. Die jungen Frauen schwebten an ihm vorbei und er wünschte sich sehr sehnlich, wieder jung zu sein – und real.

Er seufzte und setzte dann seinen Weg fort, vorbei an Fisch, Fleisch und allerlei Waren, bis er in den nasenbetäubenden Gewürzmarkt kam. Verlaufen konnte man sich hier eigentlich nicht. Er wusste, dass die großen Straßen alle irgendwann zum zentralen Platz der Stadt führen würden – und eilig hatte er es ja nun wirklich nicht. Was, wenn er jetzt einfach abbiegen würde… einfach mal raus aus dem Zentrum, rein in die wirkliche Stadt? Das hatte er sogar als Kaiser immer gerne gemacht. Niemand wusste eigentlich, wie der Kaiser aussah, Krone ab, Mantel an und zack ging es durch die Gaststuben und Straßen der Hauptstadt! Und da war die Chance überfallen zu werden sehr viel höher als in diesem ätherischen Traum von einer Stadt. Also bog er einfach ab und lachte dann. Überfallen. Er konnte wohl in dieser Vision, in der er scheinbar unsichtbar war, kaum überfallen werden.
Die Gassen waren hier enger, aber genauso sauber. Es war angenehm kühl, Hunde lagen hechelnd im Schatten und Katzen streiften umher. Stimmt. Katzen. Hier war alles voller Katzen. Kreischende Kinder platschten in einer Art Holzwanne voller Wasser und ältere Frauen saßen auf Bänken vor den Häusern und schwatzen. Er konnte einen Blick in die Eingänge werfen. So ganz anders als zu Hause. Ein kleiner Vorraum mündete in einen Hof mit einem Garten und die Räume dahinter öffneten sich zu diesem kleinen Paradies. Im Innern waren die Häuser bunt bemalt, mit Bildern der Götter, der Familien und vor allem mit Pflanzen und Tieren. Er überwand seine antrainierte Scheu und ging einfach in eines dieser Häuser hinein. Er war überrascht, wie kühl es war. Es gab einen kleinen, dunklen Flur, rechts einen Treppenaufgang und schon nach wenigen Schritten stand er in dem kleinen Garten mit einem Wasserbecken und Blumenbeeten. In dem Becken lag ein junger, nackter Mann und auf Stühlen unter der Veranda saß ein älteres Paar und trank Wein aus Glasbechern. Das waren wohl keine armen Leute, ganz sicher nicht, aber er wusste, dass es ganz normale Leute waren. Die wohlhabenden lebten ganz woanders, nahe am Palast und deren Häuser… du meine Güte. Er hatte damals den Mund gar nicht mehr zubekommen. Aber schon dieses Haus würde selbst den reichsten Herzögen vor Neid den Geifer vor den Mund treten lassen. Er wusste, es gab hier eine Toilette und ein richtiges Badezimmer, nicht einfach einen Diener, der einem eine Schale kaltes Wasser brachte und einmal in der Woche eine kleine Holzwanne mit lauwarmem Wasser füllte.

Obwohl er für niemanden zu sehen war, kam er sich doch wie ein Störenfried vor und wollte nicht weiter in das Leben dieser Menschen eindringen. Er verließ das Haus und ging weiter in das Gewirr der kleinen Gassen. Je weiter er sich von der Hauptstraße entfernte, desto kleiner wurden die Häuser und hier und da bröckelte auch der weiße Putz von den Wänden. Wirklich Armut sah er aber nicht. Gab es hier keine Armen? Oder wohnten die nur die nur außerhalb der Stadt?
Er wollte gerade weitergehen, als es ihm vorkam, als verschwamm kurz die Straße vor seinen Augen und er schloss sie benommen. Als er sie wieder öffnete war er nicht mehr in der kleinen, engen Gasse sondern stand in einer Masse von Menschen auf einem titanischen Platz, der sicherlich halb so groß war wie die Hauptstadt seines Kaiserreichs. Hinter ihm standen Häuser, hier endete der Straßenmarkt. Zu seiner Linken ragten die riesigen Tortürme eines Tempels aus. Die beiden Türme verjüngten sich nach oben und waren über und über mit Reliefs geschmückt, die bemalt und mit Edelsteinen und Gold belegt waren. Vor dem enormen Tor standen Statuen, die einen der göttlichen Herrscher des Landes zeigten, weit ausschreitend, die Arme streng an die Seiten gelegt, die Hände zu Fäusten geballt. Der schlanke, sportliche Körper stramm und aufgerichtet. Am Kinn ein langer Bart unter einem jugendlichen Gesicht mit vollen Lippen und Mandelaugen. Über der Stirn eine hochaufragende Kobra und darüber eine der zahlreichen Kronen, die die Herrscher hier trugen. Gleich vier der sicherlich 30m hohen Statuen standen vor dem Tor, an dem ganze Bäume als Fahnenstangen standen. Neben den Statuen zwei schlanke, steinerne Nadeln, bedeckt mit der seltsamen Schrift des Landes und ganz mit Gold bedeckt.

Ihm schwindelte als er den Kopf in den Nacken legte, um ihre Spitzen zu betrachten. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wem dieser Tempel geweiht war. Der Sonne? Oder doch dem Gott der Handwerker, der hier der Stadtgott war? Rechts gab es einen identischen Tempel, ebenfalls mit Tortürmen, Flaggenmasten, Statuen und 40 Meter hohen Goldnadeln. Die Tore beider Tempel waren geöffnet und man sah den aus Silber gehämmerten Fußboden hinter den ganz mit Gold belegten Türflügeln, die allein sicherlich 15 Meter hoch waren. Von seinem Besuch wusste er, dass hinter diesen Toren ein weiter, säulenumstandener Hof lag, mit noch mehr Statuen und Steinnadeln, und noch mehr Türmen. Dahinter lagen Säulenhallen, mehr Höfe, Hallen und dann, irgendwann, das eigentliche Tempelhaus. Anders als zu Hause durfte die Stadtbevölkerung aber nur diesen Vorhof betreten, der eigentliche Tempel war tabu.

Kaum zu erkennen gegen den Mittagshimmel stiegen Wolken von Weihrauch über den Gotteshäusern auf und der Duft von tausenden von geopferten Blumen vermischte sich mit dem schweren Geruch vom Blut der Opfertiere und dem alles übertünchenden Weihrauch. Am anderen Ende des Platzes, wohin er sich auf den Weg machte, gab es auch ein riesiges Gebäude. Eine Mauer, so weiß, dass er die Augen zusammenkneifen musste, umfasste den Palastbezirk, der eher eine Stadt war, als die Wohnung des Herrschers. Die hohe Umfassungsmauer wurde immer wieder von Türmen durchbrochen und es gab ein gigantisches Tor, dessen Türflügel stets geöffnet waren. Er wusste, dass hier rechtgesprochen wurde und sich die Einwohner des Reiches direkt mit Bitten an den lebenden Gott wenden konnten. Zu diesem Zweck standen Statuen des Herrschers, seiner Mutter und seiner Frau aus purem Gold vor dem Palasttor. Hier legte man die Bitten nieder und opferte Blumen, Brot, Wein und Fleisch. Jetzt traten Männer aus dem Tor. Er reckte den Hals, um besser sehen zu können und drängte dabei recht rücksichtslos durch die Menge.

Eine Schar weißgekleideter Gestalten, Männer und Frauen wurden vom Palast ausgespuckt, natürlich begleitet von Dienern, Wedelträgern und Sonnenschirmen. Er glaubte Mani zu erkennen, den alten Intriganten, wenn auch noch viel jünger. Dazu andere Hofbeamte, die er nicht mehr zuordnen konnte. Die Männer trugen Perücken, ebenso die Frauen und alle waren sie stark geschminkt. Nur eine Abordnung der Priester war an ihren kahlen Köpfen und dem Fehlen von gleißendem Goldschmuck von den anderen zu unterscheiden.
Plötzlich sah er seinen Vater, dessen Gefolge und sich selbst. So jung. Noch ohne Bart, das Haar bis zu den Schultern mit diesem dämlichen Pony den damals alle jungen Männer bis zu ihrer Schwertleite trugen. Er sah, wie er voller Ehrfurcht die unfassbare Pracht, den unbegreiflichen Reichtum anstarrte. Das Gefolge seines Vaters, der immerhin in offizieller diplomatischer Mission des Kaisers selbst unterwegs war, bestand aus 20 Rittern und etwa doppelt so vielen Bediensteten, Schreibern und zwei Priestern. Frauen waren nicht dabei, bemerkte er jetzt. Und jetzt, von außen betrachtet, wirkten sie ziemlich Fehl am Platze, in ihren Wamsen und den Lederhosen, den Stiefeln und mit den langen Haaren und Bärten. Er schämte sich plötzlich fast.

Die Einwohner, die gekommen waren, um das Spektakel zu betrachten waren sicher nur gekommen, um Barbaren zu sehen, die Wilden aus dem Norden. Das wurde ihm jetzt ganz plötzlich klar. Sie hatten ihnen zugewunken, aber das Lachen, das war keine Freundlichkeit gewesen, man hatte sie ausgelacht. Sie waren eine Lachnummer. Sie kamen aus einem Land, das man für unterentwickelt hielt, für bäuerlich und rückständig und albern. Ein Land voller arroganter Grafen, Herzöge und machtloser Kaiser mit einem lächerlichen Ehrenkodex und ohne Toiletten. Wo Männer Bärte trugen statt Kajal und sich die Frauen in Schichten und Schichten von Stoff wickelten, Tücher um ihre Haare legten und furchtbar langweilig waren. Das schlimmste an dieser Erkenntnis war, dass er zugeben musste, dass die Menschen hier mit ihrer Einschätzung auch noch Recht hatten. Er hatte damals die Höflinge verachtet, die so verweichlicht wirkten, die jungen Männer mit ihren geschorenen Köpfen und Perücken, ihren durchscheinenden Kleidern und behängt mit Schmuck wie die Gottesmutter höchstpersönlich. Sie hatten ihn von oben herab behandelt, diesen Ausländer, der keine Fremdsprache sprach und lieber Bier als Wein trank (nun ja, immerhin das hatte sich verändert).

Er hatte den Hof arrogant, speichelleckerisch, unterwürfig gegenüber den Oberen gefunden, ja geradezu verdorben mit all den halbnackten Männern und Frauen, den Festmählern mit nackten Tänzerinnen und Tänzern, mit jungen Kerlen, die ungeniert mit anderen Männern rummachten, vor aller Augen. Jetzt wusste er, dass sie im Kaiserreich einfach rückständig waren, prüde, langweilig und wahrscheinlich tatsächlich ziemlich lächerlich. Sie waren doch tatsächlich mit einer Forderung des Kaisers gekommen, hierhin, an diesen Ort.

Er beeilte sich und schloss sich der Gruppe an, die zum Palasttor zog. Ein Herold des Kaisers übergab einem Herold des Herrschers von Aerath ein Beglaubigungsschreiben, es wurden Höflichkeiten ausgetauscht und dann wurde Vater vor den Wesir geführt. Er konnte sich erinnern, dass er damals gedacht hatte, dass müsse der König sein und seinem Vater war der Gedanke wohl auch gekommen, denn alle verneigten sich tief vor dem rundlichen, großen Mann mit dem seltsamen Gewand, das bis unter seine Achseln reichte. Ein seltsamer, steifer und rechteckiger Sonnenschirm wurde über seinen Kopf gehalten und hinter ihm standen zwei Diener mit großen Fächern aus Federn, die sie leicht hin und her bewegten. Der stattliche Mann nahm seinen Vater bei beiden Händen und nickte seinem jüngeren Ich zu. Dann begleitete er die Gruppe in den Palast hinein. Doch der Weg in dieses Labyrinth aus Höfen. Gärten und Hallen verschwamm vor seinem Auge und obwohl er dieses Mal vorbereitet war, musste er sich doch kurz an eine Säule lehnen, als er die Augen wieder öffnete.
Die Szene erinnerte ein wenig an seine Wahl zum Kaiser, auch jetzt war er in einem Saal, der voller Menschen war. Auch hier gab es eine Art Apsis mit einem Thron am Ende des Saales, aber damit endeten auch schon die Ähnlichkeiten. Der Saal war viel größer, wohl größer als der ganze Palas in der kaiserlichen Burg, mehr als 100 Meter lang. 33 Säulen trugen ein Dach, an dem Geier flogen und den Namen des Königs, der tief in das duftende Holz geschnitten war, beschützten.

Die Menschen im Saal waren alle in weiß gekleidet, Perücken und Schminke, Unmengen von Parfüm. Die Stimmung war ausgelassen, man scherzte und lachte und er sah seinen Vater und sich am anderen Ende der Halle, ganz vorne bei den Stufen, die zum Thron hinaufführten. Er bahnte sich seinen Weg durch die duftende Wolke von Menschen. Als er sich fast erreicht hatte, einen jungen Mann mit weit aufgerissenen Augen und alberner Frisur, dem der Schweiß auf der Stirn stand, ertönten von seiner rechten Seite Trompeten. Er blickte in die Richtung, vier Männer bliesen in lange, silberne Instrumente und eine große Tür wurde von zwei Dienern geöffnet. Der Saal dahinter lag im Halbdunkel und nun strömte eine regelrechte Prozession aus dem Dämmer. Männer mit Standarten, langen Stangen mit goldenen Bildnissen von Göttern in Tiergestalt, singende, rückwärtsgehende Priester, die den Boden mit Wasser besprengten und sangen, Weihrauchträger und dann, abgeschirmt durch Wedelträger und begleitet von seiner Königin und seinen ältesten Töchtern, der König. Ein großer Mann, sportlich, aber nicht mehr ganz jung. Er trug einen Schurz, an dem ein schweres goldenes Gehänge baumelte. Seine Füße klackerten in den goldenen Sandalen und auf seiner Brust lag ein Pektoral, das mehr wert war, als die Steuereinnahmen eines Jahres in Hesstien, goldene Ringe an den Fingern, schwere goldene Ohrringe und auf dem Kopf eine hohe blaue Krone, gesäumt mit Gold. Ein Herold rief etwas in der seltsamen Landessprache und die Menge sank auf den Boden, presste die Stirn auf die kühlen Fliesen. Nur die Menschen in den ersten Reihen verneigten sich tief, die Köpfe zwischen den nach vorne ausgestreckten Armen. Er sah keinen Grund sich zu verbeugen, ein Vorteil als unsichtbarerer Geist. Und immerhin war er auch Kaiser, auch wenn ihm schon das Wort absurd vorkam in dieser Umgebung.

Sein Vater und sein jüngeres selbst verbeugten sich eher etwas linkisch, denn diese tiefe Form der Unterwerfung kannte man zu Hause nicht. Sein Vater war ziemlich schlecht vorbreitet gewesen, stellte er jetzt fest. Er hatte keine Dolmetscher mitgebracht und offenbar auch keinen erfahrenen Protokollmeister. Das rächte sich natürlich jetzt. Die Prozession um den König hatte den Thron erreicht, die Prinzessinnen setzten sich auf eilends aufgeklappte Schemel zu Füßen des Herrschers, seine Gemahlin auf einen kleinen goldenen Sessel, den man ebenfalls mit sich führte. Der König selbst nahm Platz auf dem schlichten, steinernen Thron. Er traute sich jetzt, unsichtbar wie er war, sogar, die Stufen hinaufzugehen. Bilder von Feinden waren auf den Stufen eingraviert, aber seine Aufmerksamkeit galt den Töchtern des Königs, in ihren durchsichtigen Gewändern, den üppigen Perücken. Sie dufteten und sogar im Traum spürte er, dass sich in seinen Lenden etwas regte, was er seit Jahren vermisst hatte.
Ach ja, der König hatte während des ganzen Aufenthaltes nicht ein Wort mit ihnen gesprochen, dass hatte er fast vergessen. Stattdessen beugte sich ein spezieller Diener, ein Wiederholer, zum König hinunter, der ihm etwas zu raunte, dass der Wiederholer dann laut nachsprach. Ein Dolmetscher übersetzte seinem Vater und ihm, ein ziemlich langwieriges Prozedere. Nach einigen umständlichen Begrüßungsfloskeln trat sein offensichtlich verängstigter Vater vor, verneigte sich steif einige Male und winkte dann einen Diener aus seinem Gefolge heran. Man hatte natürlich Geschenke mitgebracht. Damals waren die ihm unfassbar kostbar erschienen: ein goldener Stirnreif, besetzt mit Edelsteinen für die Königin, Fibeln aus Gold mit Almandinen für die Töchter und einen kostbaren Bogen und ein mit Gold verziertes Schwert für den König. Jetzt wusste er, dass sich der Kaiser für diese Geschenke fast verschuldet hatte, im Angesicht dieses Thronsaals wirkten sie wie jämmerlicher Tand. Der König würdigte sie auch erwartungsgemäß keines Blickes, die Prinzessinnen betrachteten aber durchaus mit einiger Freude die großen runden Gewandnadeln, auch wenn sie diese schon aus praktischen Gründen sicher niemals tragen würden…

Warum war er eigentlich wieder hier? Wollte ihm die Muttergöttin jetzt die eigene Unzulänglichkeit besonders unter die Nase reiben? Wollte ihm das Schicksal zeigen, dass er lächerlich war, dass sein ganzes Reich lächerlich war? Das erschien ihm doch sehr unfair. Aber richtig. Und trotzdem. Jetzt war er trotzig, wie es nur ein alter Mann sein kann. Er hatte doch das Beste gegeben, sich immer bemüht! Hesstien war eben nicht Aerath, der Kaiser nicht der Gottkönig der Nachbarn. Mit dessen Mitteln hätte doch jeder regieren können! Pah! Der Herrscher hier war so heilig, der konnte nicht mal selbst sprechen. Er konnte ein Schwert führen, naja, jetzt vielleicht nicht mehr, aber prinzipiell. Er konnte sich kaum vorstellen, wie dieser in Gold gehüllte Gott da auf diesem Thron ein Schwert in der Hand halten würde. In Hesstien zogen die Kaiser selbst in den Krieg, wenn es nötig war! War das gut? Und zogen die Könige hier nicht auch an der Spitze ihrer Truppen… ach egal. Nein, Hesstien war ein Männerland, wo man noch ein Held sein konnte, das hier war ein Beamtenland, wo alles geordnet war, Gesetze alles regelten und Männer sich schminkten und Perücken trugen. Er blickte in die Menge, die jetzt völlig still war und mit gesenktem Kopf dastand. In Hesstien sagte man seine Meinung, auch wenn das manchmal Ärger bedeutete. Aber wie widersprach man denn bitte einem Gott? Er dachte daran, dass man ihm freigestellt hatte, ins Exil nach Aerath zu gehen und er hatte es erwogen, hatte später immer wieder geflucht, es nicht getan zu haben. Stattdessen saß er in dieser zugigen Burg im Nichts.

Aber jetzt sah er sie, eine Gruppe von Ausländern, die ganz am Rand standen, zwar nah beim Thron, doch isoliert. Abgesetzte Fürsten und Könige, fremdländische Prinzen, zum Nichtstun verdammt, belächelt und gehalten wie exotische Tiere im ausgedehnten königlichen Zoo. Nicht, dass er besonders viel zu tun hätte dieser Tage, aber man behandelte ihn mit Respekt und in seinem Heim war er noch immer der Herr. Hier wäre er ausgeliefert gewesen, verstrickt in all die komplizierten höfischen Intrigen, Spielball von Menschen wie Mani. Nein Danke. Er drehte sich wieder zu seinem Vater um, der gerade ein Schreiben überreicht bekam… Sein Vater, der Held seiner Jugend, reduziert auf die Rolle eines unterwürfigen Boten …

Und während er sich noch einmal den Saal anschaute, den er niemals in seinem Leben vergessen würde, den in Gold gekleideten Gott auf seinem Thron, da erfüllte plötzlich ein ganz anderer Duft seine Nase. Er schloss die Augen. Ja, Moos, Blätter, feuchtes Gras. Das war viel besser als Weihrauch und Jasmin. Genießerisch blähten sich seine Nüstern und er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, war er nicht mehr in der titanischen Halle, statt Säulen ragten hier Tannen auf, hoch und dunkel, der Himmel war kaum zu sehen. Er war mitten in einem Wald. Nein, nicht in irgendeinem Wald. Er kannte diese Gegend. Es war der Wald von Korzelbach, ein ausgedehnter, dunkler und dichter Wald, voller Wild, Sagen, Märchen und Hexen. Er hörte Pferde und laute Rufe und blickte sich um. Da hetzte eine Jagdgesellschaft durch den Wald, folgte einem kapitalen Hirsch. Er erkannte sofort, wer da jagte.

Sein Vater, einige Jahre gealtert, aber noch immer sehr stattlich, zusammen mit Hedelgord, seinem Waffenmeister, Rogebert, dem Herrn seiner Leibwache und einigen Burgmännern, dahinter, auf Theudowald, seinem treuen Pferd, saß er. Auch er war älter, um die 20 schätzte er. Nein, er musste noch etwas jünger sein, denn er trug die alberne Topffrisur, wie ein Pilz um seinen Kopf mit rasierten Seiten und Nacken, die die Männer nach der Schwertleite erhielten und bis zu ihrem 20. Geburtstag trugen. Er wurde von einigen jüngeren Männern begleitet, manche erkannte er sofort, so Richwald, seinen späteren Kanzler, armer Kerl, warum hatte er ihn bloß mit da reingezogen? Thudogard, später sein Schatzmeister und noch einige andere, deren Leben er ruiniert hatte – und die er mehr liebte als seine Frau. Treue Männer, treue Freunde!

Da! Der Hirsch war getroffen, seine Vorderläufe knickten ein. Die Pferde waren schon fast heran. Er fieberte regelrecht mit, auch wenn er wusste, dass der Hirsch gleich erledigt war. Er erinnerte sich an diesen Tag. Seltsam, denn sie waren so oft auf die Jagd gegangen, hatten so viele Hirsche erlegt. Aber an diesem Tag war alles anders gewesen, irgendwie perfekt. Sein Vater, sonst immer sehr streng, war bester Laune, sie hatten Wein getrunken und viel gelacht. Sie hatten den Hirsch erlegt, er hatte ihn erlegt, und man hatte die Beute triumphierend nach Hause auf die Burg gebracht. Am Abend hatte es ein Fest gegeben und alle waren sturzbetrunken in ihre Betten gefallen, er erinnerte sich noch an den tadelnden Blick seiner Mutter und Großmutter und musste sogar heute noch grinsen. Die Männer hatten den Hirsch mittlerweile erlegt, es gab viel Gelächter, großspuriges Männergerede und noch mehr Schulterklopfen.

Die Männer setzten sich kurz zusammen auf den Boden, tranken schrecklichen Wein aus Lederschläuchen, der in der Kehle brannte, und aßen etwas Brot und harten Käse. Kein Goldgeschirr, kein Parfüm, keine aufblitzenden Brustwarzen junger Frauen, naja, zugegeben, das letzte hätte wohl niemanden sonderlich gestört. Er war jetzt ganz nah an den Männern, die nach Schweiß, Schmutz und Leder rochen. Das war sein Leben, hätte sein Leben sein können, sollen. Er war ganz nah an der Gruppe von lachenden Kerlen und jetzt wusste er wieder, warum er sich so genau an diesen Tag erinnern konnte. Nach einigen Runden wurde der Weinschlauch abgesetzt und die Knappen machten ein Feuer. Man hatte schon einige Hasen erlegt und die würden jetzt gleich zubereitet werden, eine Tradition seines Vaters. Am Abend würde es dann Hirsch geben – natürlich nicht den von heute, der musste ja erst abhängen. Die Gruppe zerfaserte sich ein wenig, einige der Männer kümmerten sich um die Pferde, sammelten Holz oder sprachen in kleinen Gruppen miteinander.

Sein Vater fasste sein jüngeres ich an der Schulter und er stand auf. Die beiden gingen ein wenig in den Wald hinein. Sein Vater hatte ihm an diesem Tag gesagt, dass er heiraten müsse, sehr bald. Er hatte ihm umständlich erklärt, wie stolz er auf ihn war und dass er einmal ein guter Graf sein würde. Damals hatte er nicht gewusst, dass sein Vater krank war, niemand hatte es gewusst, außer den Ärzten und vielleicht Mutter. Kurz nach dieser Unterredung, die ihm damals seltsam vorgekommen war, sein Vater war nicht der Typ für große Worte, hatte er ihn täglich zu sich gerufen und ihn mit der Arbeit eines Grafen vertraut gemacht. Er hatte stundenlang Rollen gewälzt, Abrechnungsbücher studieren müssen und sie waren Stunden und Stunden durch die kleine Grafschaft geritten, hatten die drei anderen kleinen Burgen besucht, die in eher schlechtem Zustand waren, hatten die Dörfer und Weiler besichtigt und auch einige der kleinen, abgelegenen Höfe, die drei Klöster und natürlich auch die einzige größere Ortschaft Bulmka, etwa 10 Kilometer südlich ihrer Stammburg. Damals für ihn ein lebendiger und geschäftiger Marktfleck, heute ein Provinznest. Er hatte mit Dorfältesten gesprochen, mit Marktfrauen, Bauern, Mönchen und Tagelöhnern, Hirten und Handwerkern. Sein Vater war ein geschätzter und geachteter Mann, er galt als streng, aber gerecht. Todesurteile gab es in seiner Grafschaft so gut wie nie und auch die Verbrechensrate war nicht sehr hoch. Es gab Armenspeisungen, die man aus der Tasche des Grafen bezahlte. Und in alle diese Aufgaben, die Verwaltung der Burg und der wenigen Rittermannschaften, der Dörfer und Wälder, in die Buchhaltung und auch die Rechtsprechung war er eingewiesen worden. Geschichtsunterricht hatte er auch erhalten, zum ersten Mal in seinem Leben. Stammbäume, Wappen, Leitsprüche der wichtigsten Familien. Der Wald wurde dunkler und immer dunkler und plötzlich sah er sich selbst von hinten, einige Jahre später, genau genommen drei Jahre später.

Sein Haar war jetzt schon lang und er trug einen Bart. Das tägliche Training mit der Waffe und im Ringen hatte sein Kreuz breit werden lassen und erwirkte stark und jung und angespannt wie ein Bogen. Neben ihm stand seine Frau, die er ein Jahr zuvor geheiratet hatte, Huldgard von Erselbrach, die Tochter eines anderen Grafen, die eine reiche Mitgift in die Ehe gebracht hatte und verfeinerte Lebensformen. Sie kam zwar nicht aus einer höhergestellten, aber doch aus einer reicheren Familie im Süden des Landes, wo viel feinere Lebensformen geprägt wurden. Schnell war sie zum Vorbild für alles in Sachen Mode, Musik und Inneneinrichtung geworden. Jetzt trug sie schwarz, ihr Kopf, ihr Gesicht, waren bedeckt von einem schwarzen Schleier, der sie ein wenig wie ein Gespenst aussehen ließ. An seiner linken Seite stand seine Mutter, ebenfalls in schwarz gekleidet, tief gebeugt, mit zitternden Schultern. Sie waren in der Gruft der Burg, Kerzen erhellten den einfachen Steinkasten, in dem sein Vater lag, ausgemergelt, bleich, mehr Skelett als Mann. Eingesunkene Wangen, tiefe schwarze Schatten unter den Augen, das Haar dünn und schütter. Seine dürren Finger hielten sein Schwert über seiner Brust. Ein Priester sang einen Psalm, in dem die Große Mutter gebeten wurden, sich ihres Sohnes zu erbarmen. Wenn sein Vater keinen Platz in ihrem himmlischen Palast bekommen würde, wer denn dann?

Das hatte er sich damals gefragt und fragte es sich auch heute. Irritiert bemerkte er, dass ihm Tränen in den Augen standen. Lächerlich, ein alter weinender Mann. Er hatte nicht einmal damals geweint. Ja er hatte gebrüllt wie ein Stier, Dinge zerbrochen, war mit seinem Pferd so lange geritten, bis das Tier vor Erschöpfung fast zusammengebrochen war, aber er hatte nicht geweint. Jetzt zerriss ihm der Anblick seiner vor Trauer bebenden Mutter fast das Herz. Die besten Freunde seines Vaters standen rechts und links neben dem noch immer offenen Sarkophag, fast verdeckt von den tiefen Schatten, und warteten auf das Ende des Psalms, um den Deckel zu schließen. Knirschend schoben sie ihn an seinen Platz und nach einem letzten Aufschluchzen seiner Mutter, drehten sie sich um und gingen hinaus aus der Gruft, wieder hinauf ans Licht dieses traumhaft schönen Tages mitten im Sommer. Ja, er wäre ein guter Graf gewesen, ein guter Herr für seine Untertanen, aber er hatte dazu einfach keine Zeit gehabt, denn da war ja etwas dazwischen gekommen …

Und wieder war es, als rase er durch Raum und Zeit und wieder war es die Hauptstadt, als er die Augen öffnete, wieder ein Raum voller Menschen. Nicht irgendein Raum, es war der Haupttempel und da, vorne am Altar standen die wichtigsten Priester zusammen mit dem Erzpriester, alle in ihren prächtigsten Roben, dann, unterhalb der Stufen die hinaufführten zum Altar, all die Herzöge und Grafen, alle fein herausgeputzt, ihre Gemahlinnen, die mit allem glitzerten, was ihre Schatullen hergaben, dahinter die Abgesandten anderer Nationen. Er erkannte Marduk-kabit-aḫḫēšu, den dritten Sohn des Summum-Königs, in der seltsamen steifen Robe mit seiner Gemahlin Puabi, ihr langes schwarzes Haar aufgetürmt zu einer kunstvollen Frisur, in der bei jedem Atemzug goldene Blätter zitterten. Er konnte sich gut an das charmante Pärchen erinnern, die ein Land repräsentierten, mit dem man zwar traditionell gute Beziehungen pflegt, das aber wie Aerath über eine uralte und strahlende Kultur verfügte. Trotzdem waren die beiden so ganz anders als das Pärchen, dass neben ihnen stand, Prinzessin Iunit und Huya, Hohepriester des Mentschu. Iunit war die Schwester des Königs von Aerath, schlank, wunderschön und etwa so nahbar wie der Mond. Sie blickte über die Menge und ihr Blick war prüfend, abschätzig. Er glaubte, dass sie die Nase rümpfte und tatsächlich – immer wieder presste sie ein kleines weißes parfümiertes Tuch vor ihr Gesicht. Blöde Kuh, dachte er so offen, wie ein alter Mann, der als Geist durch seine eigenen Erinnerungen reist, es eben denkt. Aber schöne Brüste. Er musste fast grinsen. Der Prinzessin war es offensichtlich trotz Hochsommers zu kalt …

Er erkannte einige Luchtaprinzen und Grafen, er wusste nicht mehr genau wer welches Land repräsentierte, mit denen hatte er aber ziemlich viel getrunken. Die blonden, großen Männer mit ihren Frauen mit milchweißer Haut, wiegenden Hüften, riesigen Brüsten und goldenen Haaren vertrugen Unmengen. Sie lachten laut, gerne und liebten gutes Essen, schöne Mädchen und die Jagd. Sie waren den Hesstiern nicht unähnlich, nicht nur was Kleidung und Körperbau anging.
Prinzessin Willemjine von Gildberg war ebenfalls anwesend, eine große Frau mit dem Gesicht eines Pferdes, das nur aus Zähnen zu bestehen schien, die aber alle zum Lachen brachte und fluchte und trank wie ein Mann. Da wohl ein Gesandter aus dem Süden, mit dunklem Haar, dunklem Bart und dunkler Haut, oder war der aus dem Westen? Nein, kein Sooraj, der saß da drüben und sah aus, als sei er am Morgen in eine Schatulle mit Diamanten gestürzt.

Dazu Ehrengäste aus Hesstien, Bürgermeister, Priester, verdiente Bürger, Beamte, alle fein herausgeputzt und aufgeregt. Und dann drehte alle den Kopf nach hinten, zum Hauptportal. Fanfaren und er sah sich selbst zusammen mit seiner Mutter, seiner Frau, wie sie den Tempel betraten. Seine Gattin fein herausgeputzt in einem prunkvollen dunkelblauen Kleid, dass über und über bestickt war mit Perlen, Edelsteinen und silbernen Fäden, hinter ihr Hofdamen, die den blauen Hermelinmantel hielten. Ihr Haar war hochgesteckt und er sah, wie wunderschön sie war. Seine Mutter elegant und schlicht in schwarz, dass sie nach dem Tod ihres Mannes stets trug, er selbst in dem schlichten weißen Gewand, dass alle Kaiser traditionell vor der Krönung trugen. Kein Schmuck, nur die goldenen Krönungsschuhe waren schon an seinen Füßen. Vor dem Trio ging ein Herold mit einem langen weißen Amtsstab. Hinter ihnen die Inhaber der großen Ämter, der Reichsmundschenk, der Reichsobermarschall, der Reichsschatzmeister, alle in den schweren Zeremonialroben mit Ketten und seltsamen Hüten. Rogerich war darunter, der Reichsoberhauptmann, der als Amtszeichen ein großes Schwert vor sich hertrug. Er sah nicht besonders zufrieden aus.
Er erinnerte sich, d
ass er damals von der Würde der Zeremonie ganz verängstigt gewesen und erkannte die Anspannung im Gesicht seines jüngeren Ichs. Die Krönung war ein hoch komplexes Ritual, mehr ein Theaterstück, ein Tanz, als ein religiöser und politischer Akt. Er hatte die ganze Zeit befürchtet, dass er irgendetwas falsch machen würde, dass man ihn als den Trottel vom Land entlarven würde, der er eigentlich war. Seine Frau hatte stundenlang mit ihm geprobt, wieder und immer wieder, sie hatte ihn abgefragt und, wie auch immer sie das angestellt hatte, den Erzkronenmeister überredet, ihm den schweren Krönungsmantel und die unpraktische Krone schon zwei Tage vorher in seine Gemächer zu bringen. Stundenlang war er mit dem schweren Ding auf dem Kopf herumgelaufen, immer ängstlich, sie könnte herunterfallen.

Und dann war doch alles gut gegangen. Er sah, wie sein jüngeres ich auf dem alten Steinthron der Barolinger Platz nahm und die Zeremonie ihren Lauf nahm. Sie dauerte ewig und war ermüdend, also lief er ein bisschen im Tempel herum. Die Stimmung war ein wenig wie auf einer Beerdigung und so fühlte er sich jetzt auch. Das Ritual, dass aus dem „schönen Grafen“ einen Kaiser von der Gottesmutter Gnade machen würde sprach von Treue, von Macht, dem Gehorsam der Untertanen – sagte aber nichts über finanzielle Probleme, alte Machtansprüche der Herzöge, von Eidbruch, Intrigen und Krieg, den Realitäten, mit denen er sich hatte auseinandersetzen müssen.

Er kannte den Ausgang der Krönung, das war langweilig. Also ging er hinunter in die Krypta. Dort lagen sie alle. Die alten Könige der Warowinger, die das Reich von Hesstien erschaffen hatten und doch ein so unrühmliches Ende genommen hatten, von den eigenen Hausmeiern abgesetzt und hingerichtet, dann die großen Kaiser der Barolinger, in prunkvollen Sarkophagen, machtbewusst waren sie gewesen – und auch tatsächlich ziemlich mächtig. Trotzdem konnte er sie nicht leiden, denn letztendlich waren sie auch schuld an seiner miserablen Lage gewesen. Und da lag auch Riudolf II, der Ketzer-Kaiser. Der war 927 von seinem eigenen Vorgänger vom Thron gestürzt worden, verstrickt in einen unsäglichen Konflikt mit der Kirche. Henrich hatte sich persönlich ganz gut mit ihm verstanden, hatte sein Vater ihm erzählt, Deswegen hatte Henrich auch durchsetzen können, dass Riudolf hier, im Tempel, mit allen kaiserlichen Ehren bestattet worden war. Oh, da im Nebenraum lagen die Erzhohepriester, diese widerlichen Heuchler. Er ging hinein und spuckte, mit ziemlicher Genugtuung, der Grabstatue von Klobert ins Gesicht. Dieser Hurenbock, verlogenes Stück Dreck. Rogerich hatte ihn hier beerdigen lassen, das hatte er in seinem Exil erfahren und sich schon damals furchtbar aufgeregt.

Er sah ihn vor sich, vor seinem inneren Auge (was war das jetzt, eine Erinnerung in der Erinnerung? Heute war ja wirklich mal ein außergewöhnlicher Tag), in seiner albernen Robe, mit dem albernen Hut, wie er geifernd von der Kanzel sein Pamphlet „Zur wahren unt reynen Machte der Kirche und der Beschrenkigung der Macht des Kaysers“ verkündete. Er, der Kaiser, hatte sich doch nur auf alte Gesetze gestützt, als er ein Mitspracherecht bei der Ernennung von Klerikern, insbesondere der Bischöfe, eingefordert hatte. Und da Klobert sich dem offensichtlich nicht hatte beugen wollen, hatte er ihn kurzerhand abgesetzt und durch den ihm treu ergebenen Giselher ersetzt. Das war doch wohl sein Recht, er war der verdammte Kaiser!
Aber nein, Klobert war zu Rogerich geflohen, diesem aufbrausenden und rachsüchtigen Hundesohn. Und dann hatte der abgesetzte Priester doch tatsächlich die Nerven gehabt, ihn, den Kaiser, zu exkommunizieren. Er trat gegen die Statue, die bedrohlich wackelte, aber dann war er plötzlich wieder im Thronsaal des Palastes.
Da saß er auf dem Thron, es war das Schicksalsjahr 945, acht Jahre war er damals schon Kaiser, er war 32 Jahre alt, aber jetzt konnte er bei seinem jüngeren Ich schon die Spuren des Alters erkennen, die das Amt in sein Gesicht gegraben hatten. Graue Strähnen an der Schläfe des ganz plötzlich dünner werdenden Haares und auch im Bart. Er hatte Schatten unter den Augen und wirkte magerer als noch zur Zeit seiner Krönung. Aber während der Saal voller besorgter Menschen war, ein Bote hatte gerade verkündet, dass Klobert Liudolf exkommuniziert und für abgesetzt erklärt hatte, sah er sich selbst laut lachend.

„So ein Popanz. Was glaubt der eigentlich, wer er ist?“.
„Majestät, wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Für die Bevölkerung hat so etwas eine große Bedeutung, denkt nur an das Schicksal des unglücklichen Rogerich“ warf Richwald, sein treuer Kanzler ein.

Es gab einiges zustimmendes Raunen und Gemurmel unter den Anwesenden Beamten und Ministern, auch die treuen Priester waren wohl der Meinung, dass eine direkte Konfrontation mit dem Klerus keine gute Idee wäre. Ha!

„Majestät, wie ihr wisst, hat sich eine neue Heilige Allianz geformt, Amalbert von Rietzelstein hat die Herzöge von Ambach, Frundsstein und Herslag um sich geschart, dazu einige Grafen. Sie haben zu den Bannern gerufen und marschieren in diesem Augenblick zu Burg Hutzling. Wenn sich denen wieder ein Bauernheer anschließt wie damals, haben wir so gut wie keine Chance!“

„Ich sehe das anders, Euer Majestät“ warf sein Schatzmeister Thudogard ein, der zwar wegen seines Amtes dicklich geworden war und nur noch selten selbst das Schwert schwang, seiner ritterlichen Herkunft aber stets treu geblieben war. „Wir müssen zuschlagen. Amalbert ist ein Feigling und hat keinerlei strategische Erfahrung. Er ist seinem Vater erst im letzten Jahr ins Amt gefolgt und ist noch ganz grün hinter den Ohren. Egelbrecht von Ambach mag über ein wenig mehr Erfahrung verfügen, aber er ist pleite. Das ist der einzige Grund, warum er Rogerich nachläuft wie ein Hündchen. Seine Truppen sind schlecht ausgerüstet und es sind kaum sechshundert Mann, davon höchstens vierzig Ritter. Thindrad von Frundsstein ist der Neffe von Egelbrecht, der läuft also nur deswegen überhaupt mit. Pleite ist der genauso wie sein Oheim, noch dazu ein Aufschneider, den ich schon dreimal im Tjost besiegt habe. Um den müssen wir uns genauso wenig Sorgen machen. Problematisch ist nur Barol von Herslag. Der ist ein zäher Hund und Hutzling ein Biest von einer Festung. Sind die da erst mal dring, haben wir es schwer. Ich denke, es wäre daher am besten, schnell zu zuschlagen, bevor sie sich in der Burg verschanzen können!“

Er lächelte. Sein treuer alter Freund war der schärfte Geist an seinem Hof gewesen. Es war tragisch, dass er auf diese Weise hatte sterben müssen. Er kannte alle großen Häuser, ihre Einkünfte, ihre Stärken und Schwächen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, hatte er bei Hofe nicht viele Freunde. Er stand hoch in der Gunst eines Kaisers, dessen Launen er zu befördern schien, statt sie abzumildern.

Jetzt, mit dem Abstand der Jahrzehnte, wusste er, dass sie Recht gehabt hatten. Es tat weh, das zugeben zu müssen. Er hatte die angeschlagene Macht und das Ansehen des Kaisertums wiederherstellen wollen und daher geglaubt, seinen Willen notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Thudogard hatte ihn immer bestärkt und zusammen waren sie ein ungestümes und scheinbar erfolgreiches Gespann. Immer selten hatte er auf seinen Kanzler gehört, diesen Mann mit dem Hang zur Mäßigung und zum Ausgleich. Eigenschaften, wegen denen er damals einmal ausgewählt worden war. Es war nutzlos, jetzt eingreifen zu wollen. Es war alles bereits passiert. Das hier war nur Blick zurück, Geschichte als Objekt in einem Schaukasten, und nicht die Realität, seine wahre Realität. Er musste sich daran immer wieder erinnern, denn er spürte den kühlen Boden, roch die brennenden Kerzen.

Wäre die Schlacht auf dem Feld von Oltzenbück damals nicht gut ausgegangen, vielleicht hätte er dann auf seinen Kanzler gehört. Plötzlich erschöpft lehnte er sich an eine Säule. Der Feldzug war aber nicht verloren gegangen, ganz im Gegenteil. Es war sein größter Triumph gewesen, der im Nachgang aber den Geschmack von Blut und Untergang in sich getragen hatte. Die Herzöge waren so schwach gewesen, wie von seinem alten Freund prophezeit und Rogerich hatte nur zugesehen, wie seine Verbündeten vom kaiserlichen Heer zerschmettert wurden. So ein Triumph! So ein glorreicher Sieg! Vier Herzogtümer waren als Krongut an ihn gefallen, er war der mächtigste Kaiser seit der Zeit der Barolinger gewesen – und der reichste. Seit Generationen war er der erste Herrscher seines Landes, der sich nicht in Aerath hatte verschulden müssen. Wer hätte gedacht, dass auch dieser Umstand einmal zu seinem Verhängnis beitragen würde? Er schloss die Augen und hörte wie sein jüngeres Ich den Marschbefehl erteilte.

Als er die Augen wieder öffnete war er noch immer im Thronsaal, aber es war nicht mehr dasselbe Jahr. Er wusste genau welches Jahr es war – und welcher Tag. Fast exakt fünf Jahre trennten sein nun schon nicht mehr ganz so junges Ich, dass auf dem Thron saß, von den Mann, der den Befehl zum Angriff auf die Herzöge gegeben hatte. Er war müde, seine Augen gerötet. Die Burg erzitterte unter unsichtbaren Faustschlägen. Er war allein in dem großen Saal, in dem der große Deckenleuchter aus Bronze langsam hin und her schwang. Nur wenige Tage zuvor hatte es in der Halle von betrunkenem Gelächter geschallt und war Wein in Strömen geflossen.

Seine Gemahlin hatte ihm 950 endlich den lange erwarteten Erben geschenkt, Lindwart. Die am Hofe weilenden Reichsfürsten hatten ihn ohne großes Zögern bereits an seinem Geburtstag zum Erben gewählt. Wieder ein Triumph, wieder ein neuer Aufstieg des Kaisertums aus dem Elend der letzten Jahrzehnte. Dann war alles schief gegangen. Rogerich. Dieser Misthund, dieser Dreckskerl. Er hatte die Stadt angegriffen, wie aus dem Nichts. Noch heute fragte er sich, wie er das eigentlich bewerkstelligt hatte. Skrupellos hatte er die Gemeinde bei der Taufe im großen Tempel angegriffen. Er wurde von seiner Garde gerettet, ebenso der kleine Prinz, aber seine geliebte Gattin und zwei seiner Neffen waren Rogerich in die Hände gefallen. Ihm schauderte noch heute, wenn er daran dachte. Das elende Schwein hatte die beiden jungen Männer schrecklich verstümmelt in die Kaiserburg geschickt, um ihn zur Aufgabe zu zwingen. Sie lebten noch, immerhin. Sie lebten heute noch, Schatten ihrer selbst, in seiner Burg. Aufgeben war keine Option. Er hatte einen Ausfall versucht, aber nichts erreicht. Bei den Kämpfen brachen Feuer aus, überall in der Stadt, sogar im großen Tempel. Und Rogerich, der sah zu, wie die Hauptstadt brannte. Am dritten Tag der Kämpfe überbrachte ihm ein Bote noch eine Aufforderung zu kapitulieren – und den Kopf seiner Frau in einem Korb.

Noch heute rannen ihm Tränen über die faltigen Wangen und versickerten in seinem weißen Bart, wenn er nur daran dachte. Trotzdem, niemals würde er aufgeben. Niemals. Einen Tag später starb Lindwart, ermordet oder weil es weder Mutter noch Amme für ihn gegeben hatte, auch das wusste er bis heute nicht. Das Weinen schüttelte jetzt sein jüngeres Ich und ihn gleichermaßen. Und niemals war an diesem Tag. Seine Hauptstadt brannte, tausende Unschuldige verloren ihr Leben, seine geliebte Frau war tot, sein Erbe war tot, sein Traum, von einem starken Kaisertum war tot. Er war innerlich tot. Er sah sein jüngeres Ich, die Krone zwischen den Händen durch den Saal gehen. Er ging nicht hinterher. Das brauchte er weiß Göttin nicht sehen, um sich zu erinnern. Er hatte eine kleine Ansprache gehalten, an die wenigen Getreuen, die noch da waren, darunter seine Freunde aus Kindheitstagen. Es hatte Tränen gegeben und dann hatte man das Tor geöffnet. Er hatte Rogerich die Reichsinsignien aushändigen lassen und der hatte ihm versprochen, nein geschworen, dass er und seine Freunde geschont werden würden. Noch am gleichen Tag hatte man ihn, stark bewacht, in seine Heimatburg gebracht. Erst Wochen später erfuhr er, dass man seine letzten beiden treuen Minister hingerichtet hatte – als Hochverräter. Auch ihre Familien waren bestraft worden, enteignet und aus ihren Häusern geworfen. Er hatte versucht, sie ausfindig zu machen, doch ohne Erfolg.

Fünfundvierzig Jahre war das nun her. Er ging durch den Palast, in den jetzt die Leute Rogerichs strömten. Fünfundvierzig Jahre. Er hatte in seinem Exil wieder geheiratet, er hasste das Alleinsein. Aber wahre Liebe war es nie gewesen zu Irseltraud, auch wenn sie ihm schon zwei Jahre nach seinem Sturz einen weiteren Sohn geschenkt hatte, einen prächtigen Jungen. Rogerich setzt sich gerade triumphierend auf den Thron, die Krone in den Händen. Nicht einmal der Schweinhund wagte es, sie sich vor der Salbung auf sein verräterisches Haupt zu setzen.

Hinter ihm stand eine Frau. Sie war plötzlich erschienen. Nicht dramatisch, kein Rauch, kein Glitzern in der Luft, es war so, als habe sich einfach die Materie an dieser Stelle zusammengefunden, verdichtet. Er spürte ihren Blick auf seinem Gesicht und das erschreckte ihn. Sie sah nicht in seine Richtung, nicht durch ihn hindurch, sondern mitten in seine Augen. Dann lächelte sie und kam auf ihn zu. Unmerklich wich er Schritt zurück, doch etwas an dieser Frau kam ihm seltsam vertraut vor, so als ob er sie schon seit ewigen Zeiten kennen würde. Obwohl es ihm noch immer kleine Schauer über den Rücken jagte, dass sie sehen konnte, begriff er, dass von dieser Frau keine Gefahr ausging. Sie hatte ihn erreicht und, ohne ein Wort zu sagen, griff nach seiner Hand. Ihre Haut war warm und weich. Sie lächelte noch immer und er musste nun ebenfalls lächeln. Seltsam wie vertraut ihm diese Frau war. Es war ein Erkennen, das weit über Äußerlichkeiten hinausging. Es erschien ihn, als schwinge seine Seele beim Anblick dieser Frau.
„Liudolf, es wird Zeit!“

Das war alles, keine Erklärungen. Sie ging und er folgte, noch immer seine Hand in der ihren. Und der Saal um ihn herum verlor an Kontur und Farbe. Sie schritten gemeinsam durch ein Tor, dass es niemals in diesem Palas gegeben hatte und standen dann, ganz plötzlich, unter einem schwarzen, sternenlosen Himmel, auf einer Art Ebene und da, in der Ebene, gab es einen breiten Fluss, der wie flüssiges Obsidian glitzerte.

„Wo sind wir hier?“ Er fand seine Stimme wieder, die seltsam klang, so als gäbe es keinen Hall, dort wie sie nun waren. Es gab auch keinen Wind, keine Geräusche, selbst ihre Schritte auf dem schwarzen Gestein verursachten keinen Klang.
„Überall und nirgendwo, immer und nie!“
Das war keine sehr befriedigende Antwort, doch sie hatten das Ufer des Flusses erreicht und Liudolf starrte hinein. Er sah Bilder, Fetzen von Bildern, sich selbst, als Kind, weinend auf dem Schoß seiner Mutter. Liudolf sah sich jagend mit Freunden im Wald, im Bett mit seiner Gattin, in Aerath, in seinem Palast, bei der Krönung. Alles. Er sah alles. Sein ganzes Leben.
„Ist das …?“
„Ja Liudolf, es ist der Strom deines Lebens. Jeder Moment, jede Stunde, jeder Tag, alles, immer.“
„Ich kann hier meine Vergangenheit sehen? Und meine Zukunft?“
„Wer hier ist, für den gibt es keine Vergangenheit mehr – und keine Zukunft, Liudolf. Zeit ist ein Konzept für die Lebenden. Was ist denn das Gestern? Es ist das morgen von vorgestern und das Jetzt in seinem Moment. Jeder Moment ist zugleich vergangen, gegenwärtig und zukünftig. Es kommt immer nur auf die Perspektive an.“
„Ich kann hier also beliebig jeden Moment meines Lebens sehen?“

Erst nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, was die Frau eigentlich gesagt hatte.
„Moment, heißt das ich bin …“
„Ja, Liudolf, das bist du. Schau, dort gibt es noch mehr Flüsse, da am Horizont. Es gibt Millionen und Abermillionen und jeder steht für ein Leben. Ja, du kannst dir jeden Augenblick deines Lebens betrachten, immer wieder und wieder. Aber ich kenne deine Gedanken, jeder Mensch denkt sie. Du kannst nichts verändern, alles geschieht, ist geschehen und wird geschehen sein, jetzt, gleichzeitig. Niemand vermag den Strom seines Lebens aufhalten.“
„Dann war alles vorherbestimmt? Ich konnte nichts tun? Alles musste passieren, wie es geschehen ist? Ist das das Schicksal, dass die Gottesmutter für mich vorherbestimmt hatte?“

Er wusste nicht, ob ihn dieser Gedanke wütend, traurig oder gar zufrieden machen sollte. Dann war alles Kämpfen letztlich umsonst gewesen, alles Leid, all die Trauer, aber auch die Freude über scheinbar richtige Entscheidungen. Alles war vorherbestimmt gewesen. Doch die Frau nahm ihm diese Illusion.

„Vorherbestimmt? Nein Liudolf, die Mutter gibt dir das Wasser, du suchst dir dein Flussbett. Es mag sein, dass sie Steine in deinen Weg legt, um die du links oder rechts herum fließen musst, aber letzten Endes sind es deine Entscheidungen, die den Weg deines Lebens bestimmen. Denk an den Tag des Reichstages. Du musstest den Vorschlag nicht annehmen. Die Mutter gab dir die Möglichkeit, aber es lag an dir, zuzustimmen oder abzulehnen. Es war allein deine Entscheidung, Liudolf. Du wolltest Kaiser sein und du wurdest Kaiser.“
„Aber meine Frau, es war doch nicht meine Entscheidung, dass meine Frau getötet worden ist!“
„Mach dich nicht dümmer als du bist, Kaiser. Entscheidungen haben Konsequenzen. Bleib bei dem Bild, dein Leben sei ein Gewässer. Eine Entscheidung ist ein Stein, den du ins Wasser wirfst und der Kreise zieht, mal weite mal enge. Nein, natürlich war das nicht deine Entscheidung, aber es war die Konsequenz daraus. Du hast dich entschieden, auf Konfrontation mit Rogerich zu gehen. Das führte letztlich zum Tod deiner Frau.“
„Warum zeigst du mir das eigentlich alles, wozu diese Traumreisen, warum dieser Ort hier?“
„Ich kenne den Grund nicht, ich bin die Botin, nicht die Mutter. Aber so ergeht es jedem, nicht jedem vor seiner Reise hierher, aber alle enden hier. Dann können sie sich entscheiden: Sie können hier verweilen und in der Vergangenheit bleiben. Sie können wieder und wieder anschauen, was sie im Leben erreicht oder verloren haben. Viele bleiben hier. Andere streifen das Gestern ab. Sie gehen weiter, über die Ebene.“
„Was erwartet mich dort?“

Sie lächelte. Er hatte mit dieser Antwort gerechnet. Seltsam, er hatte gedacht, dass man nach dem Tod ganz ausgeglichen wäre, ganz ohne Emotionen, klarer, wacher. Aber er fühlte sich immer noch müde und er war immer noch ein bisschen wütend. Eher darüber, dass er offensichtlich im Morgenmantel am Frühstückstisch gestorben war. Außerdem war das Wissen, dass man alles in seinem Leben selbst verursacht hatte nicht unbedingt sehr hilfreich. Es war doch schön, wenn man von Schicksal oder dem unergründlichen Plan der Göttin reden konnte. Und alt war er auch!“

„Es gibt hier keine Zeit, Liudolf!“, erinnerte sie ihn lächelnd.
Er verstand es sofort und als er an sich herunterblickte musste auch er lächeln. Ja, viel besser! Da war er wieder, der schöne Graf, groß, muskulös, mit wallenden schwarzen Haaren und dem dichten kurzen Vollbart. Er reckte seine nicht mehr schmerzenden Glieder. Er hatte Lust auf ein Abenteuer. Er war immer ein Abenteurer gewesen. Die Blicke zurück waren schön – manchmal. Er hatte aber eher das Gefühl, dass diese Flüsse, in die sich die Verstorbenen versenkten, die wahre Hölle waren. Nicht das Gewölbe voller Feuer, von dem die Priester sprachen. Das eigene Leben wieder und wieder zu betrachten, die geliebten Menschen zu sehen, aber sie nicht zu erreichen, falsche Entscheidungen immer wieder zu sehen. Er schauderte. Nein, das würde nicht seine Ewigkeit sein.

„Eine gute Entscheidung, wenn du mir diese Bemerkung erlaubst, Liudolf!“

Und damit war sie ebenso unspektakulär verschwunden, wie sie erschienen war. Liudolf blickte noch einmal in den Fluss seines Lebens. Dann marschierte er los, über die schwarze Ebene, unter einem schwarzen sternenlosen Himmel. Er hatte keine Angst.


Der Diener in der dümmlichen Uniform war nur kurz aus dem Raum gegangen, das beteuerte er immer wieder. Niemand gab ihm die Schuld, wieso auch. Als man Liudolf fand, saß er zusammengesunken an dem Tisch in einer Kemenate, ein leichtes Lächeln umspielte sein Gesicht.

Der neue Kaiser veranstaltete ein großes Staatsbegräbnis im Tempel der Hauptstadt, wo der abgesetzte Monarch neben seinem Erzfeind und Widersacher Rogerich bestattet wurde. Sein Herz aber beerdigte man in einem Steinsarg in seiner Burg, direkt neben den Gräbern seiner Mutter und seines Vaters.

 

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