Der Kranich
Es sollte Loewens erster Bankraub werden. Immerhin, er war 61. Und er war aufgeregt. Es war kurz nach neun. „Eine Bank überfällt man morgens“, hatte ihm Stolzenburg verraten. Stolzenburg war jetzt auch Rentner, aber früher ein Profi. Er hatte sieben Sparkassenfilialen ausgenommen, ehe ihn ein übereifriger Polizist vom Fahrrad stieß, als er auf der Flucht war. Komplizierter Ellenbogenbruch.
Loewen tastete in der Jackentasche nach seiner Maske, einer Strickmütze mit Löchern für Augen und Mund. Rita hatte die Ränder der Löcher liebevoll umgenäht und farblich abgesetzt. Vor zwei Jahren schon, als Loewen das erste Mal den Plan fasste, eine Bank zu überfallen. Vor zwei Jahren. Loewen war kein mutiger Mann. Und Rita war so angenehm weich – bis sie ihn rausschmiss, weil er sich immer nur hängen ließ, wie sie sagte. Sie nahm sich dann einen Jüngeren, der sich auch hängen ließ.
So hatte Loewen für seinen Überfall einen langen Anlauf genommen. Er fasste entschlossen nach der Spritzpistole. Sie beulte die Tasche ein wenig aus. Aber sie hatte einen Griff und vorn ein Rohr. Unter einer Jacke getragen, konnte sie gut als richtige Pistole durchgehen. „Es kommt nicht auf die Pistole an“, hatte Stolzenburg gesagt, „es kommt drauf an, wie entschlossen der Mann ist, der sie in die Hand nimmt.“
Loewen war entschlossen. Er hatte in seinem Leben genug eingesteckt. Eigentlich hatte er immer nur eingesteckt. Er war freier Handelsvertreter gewesen. Erst für Arbeitskleidung, dann für Staubsauger, später für Arbeitsschuhe, am Schluss für Spritzpistolen. Dann wollten sie ihn nicht mehr. Ein freier Handelsvertreter war leicht loszuwerden. Seine Kündigung kam mit der Post. Er hatte sie auf dem Tisch im Wohnzimmer liegen gelassen, war gegangen und hatte viel Bier getrunken. Marta hatte die Kündigung gelesen und nichts gesagt. Kein Vorwurf. Keine Wut. Sie war wie er. Vielleicht lebten sie deshalb zusammen. Sie steckte ein, was das Leben austeilte und machte still weiter.
Dann hatte Marta den Schlaganfall. Er pflegte sie zwei Jahre, bis sie starb. Sie waren fast zwanzig Jahre verheiratet. Keine aufregende Ehe, aber sie war der Halt gewesen in seinem Leben. Danach war nichts mehr. Keine Arbeit, keine Frau, nur Sozialhilfe und sechs Monate Männerwohnheim. Danach zog Loewen in die enge Zweizimmerwohnung und lebte lange in einem geräumigen Trainingsanzug vor seinem Fernsehapparat. Loewen war immer schlank gewesen. Jetzt nahm er zu. Irgendwann wollte er ins „Madagaskar“. Dafür musste er seinen Trainingsanzug verlassen. Das Madagaskar war eine Kneipe am Rand des Rotlichtviertels, immer dunkel, immer grobe, schlecht gelaunte Kerle hinter der Theke, aber niemals geschlossen. Eine Höhle für einsame Herzen, aus der nur manchmal einer rausflog, weil er nicht zahlen konnte. Loewen zog sein Hemd mit den feinen Streifen an und bekam den Knopf am Kragen nicht mehr zu. Von da an nahm er ab und lernte Rita kennen.
Er lächelte sein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe des Buchladens an. Ja, Rita. Endlich wieder eine Frau nach so vielen Monaten. Jetzt war sie weg. Loewen strich sich die Haare hinters Ohr. Es waren nicht mehr so viele. Aber mit 61? Was will man verlangen. Er kämmte sie immer noch mit einem Kamm nach hinten und strich mit der flachen Hand hinterher. Erst links, dann rechts, dann hinten auf dem Kragen noch mal nachkämmen.
Jetzt reckte er sich ein bisschen. Drei Häuser noch bis zur Bank. Ein Tabakladen, ein türkischer Gemüsehändler, ein Fischgeschäft, dann würde sich Loewen nehmen, was ihm zustand.
Ein junges Pärchen überholte ihn. Die Tür der Sparkassenfiliale öffnete sich. Die beiden traten ein. „Scheiße“, dachte Loewen, „es wird da drin zu voll.“ Vielleicht morgen, vielleicht dann noch früher? Nein, diesmal nicht. Zwei Jahre hatte er Anlauf genommen. Jetzt war es genug. „Du gehst rein“, hatte Stolzenburg gesagt, „peilst die Lage. Achte auf die Kameras. Dann Maske auf und Kohle holen.“
Loewen wusste ganz genau, wo die Kameras hingen. Er hatte die Filiale ein Dutzend Mal in Augenschein genommen. Die Schiebetür ging auf. Zwei Schritte bis zum Kontoauszugsdrucker. Den Kopf immer gebeugt. Aus den Augenwinkel die Lage peilen.
Und peng. Sein Blutdruck war auf 200. Von einer Sekunde zur anderen. Drei Meter weiter, an dem Stehpult mit den Überweisungsformularen stand der Kranich. Auch er hatte den Kopf gesenkt. Aber Loewen würde den Kranich überall auf den ersten Blick erkennen. Ein magerer Kerl mit einem dünnen Kopf.
Der Kranich war eine Ratte. Tückisch und böse. Im Männerwohnheim gab es damals nicht einen, der ihm nicht lieber aus dem Weg ging. Er steckte immer zusammen mit dem dicken Fred. Ein Klotz von Mann, dem es Freude machte, andern die Nase zu Brei zu schlagen. Der Kranich dirigierte den dicken Fred wie ein Dompteur seinen Tanzbären. Loewen hatte die beiden erlebt, als sie sich in seinem Zimmer einen jungen Junkie vornahmen, der die erste Nacht im Heim war. Der Kranich drehte das Radio auf. Der dicke Fred schlug dem Jungen in den Bauch. Der Junge heulte und kotzte. Fred lachte und der Kranich auch. Fred klatschte dem Jungen die Faust ins Gesicht. Der Junge wimmerte nur noch. Dann musste er erst den Kranich und danach Fred bedienen. Loewen war zu feige, den Raum zu verlassen. Er blieb in seinem Bett und drehte den Kopf gegen die Wand. Er hörte das gurgelnde Stöhnen des Jungen. Er biss sich auf die Faust und hasste sich für seine Feigheit. Fred und der Kranich versprachen, am nächsten Abend wiederzukommen. Sie kamen dann aber nicht mehr. Es gab keinen Grund. Der Junge hatte sich noch in der Nacht am Kanal hinterm Männerwohnheim den goldenen Schuss gesetzt.
Jetzt stand der Kranich hier am Stehpult. Er war noch hagerer geworden. Dünnes Haar, gelbe Haut, Fingernägel wie Krallen. Loewen spürte, wie bitterer Hass sich in ihm ausbreitete, wie ein erster Schnaps am Morgen. Plötzlich war das Männerwohnheim wieder in seinem Kopf. Der Kranich, der ihm wie selbstverständlich die Stütze abnahm. Und der heulende junge Junkie. Freds klobige Faust und das giftige, krächzende Lachen des Kranichs. Und jetzt stand er da. Allein. Ohne den dicken Fred. Der Kranich fingerte in seiner Tasche und zog eine Strumpfmaske raus.
Loewen wollte das nicht glauben. Der Kranich, der Stolzenburg immer mit abfälligen Kommentaren begleitet hatte, wenn der alte Gauner von seinen Beutezügen erzählte. Der Kranich, der immer gesagt hatte, ein Bankraub sei viel zu gefährlich: „Wo ich euch doch bloß in die Taschen greifen muss, um mir das Geld zu nehmen.“ Und dabei lachte er dann kurz und zog die Schultern hoch.
Der Kranich streifte sich die Maske über und drehte sich zum Glaskäfig des Kassierers. Er machte den ersten Schritt und Loewen wusste, was er tun musste. Den Kranich einfach umhauen. Alles heimzahlen. Alle Wut rauslassen. Den Jungen rächen. Einmal im Leben die Dinge selbst in die Hand nehmen. Einmal austeilen. Einmal im Madagaskar eine Siegergeschichte erzählen können. Rita beweisen, dass er kein Hänger war. Und es war so einfach. Der Kranich ohne den dicken Fred war ein dünnes Hemd, so gefährlich wie eine Blindschleiche.
Der Kranich machte den zweiten Schritt. Loewen nahm die Hände aus den Taschen. Er hatte keine Angst. Es war so unzweifelhaft richtig, was er gleich tun würde.
Der Kranich trat vor dem Schalter, zog eine Pistole und krächzte den Kassierer an: „Los. Geld einpacken.“ „Eine Spielzeugpistole, bestimmt. Stolzenburg hatte immer für Spielzeugpistolen plädiert“, dachte Loewen, „weil sie gefährlicher aussehen als Gas oder Schreckschuss. Und wenn es doch schief geht, macht das einen besseren Eindruck beim Richter.“
Loewen stürmte vorwärts und riss den Kranich von den Beinen. Eigentlich war er ins Stolpern gekommen und hatte sich gar nicht mehr richtig unter Kontrolle. Er wog immer noch 20 Kilo mehr als der magere Gelbgesichtige. Sie stürzten übereinander. Der Schuss ging zwischen den beiden Männern los, als sie schon fast am Boden lagen. Im Rest der Bank war nur ein gedämpftes Krachen zu hören. Das Geschoss nahm seinen Weg durch Loewens Herz und hatte noch die Kraft durch das Plakat zu schlagen, mit dem die Sparkasse für Baukredite an junge Familien warb.