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Der normale Tag
Bis neun Uhr war es ein stinknormaler Montagmorgen im Rathaus. Die vereinzelten gutgelaunten Kollegen wurden von den anderen, die sich in der kleinen Küche verzweifelt an ihre Kaffeetassen klammerten, mit finsteren Blicken bedacht. Der all-wöchentliche Wettstreit, wer das Wochenende am kreativsten verbracht hatte, schien diesmal an die Sekretärin aus dem Tiefbauamt zu gehen. Mit leuchtenden Augen erzählte sie davon, wie sie an einem Kurs zum Knüpfen von Makramee Blumenampeln teilgenommen hatte.
„Was soll das denn wieder für ein neumodisches Zeug sein?“, maulte Klaus vom Ordnungsamt kopfschüttelnd und warf einen prüfenden Blick auf die Kaffeekanne. Vorsichtig sah er sich um. Wenn er seine Tasse schnell genug leerte und sich nachschenkte, würde jemand anderes, die nächste Kanne aufsetzen müssen.
„Damit kann man Blumentöpfe aufhängen.“ Die junge Auszubildende sah nicht einmal von ihrem Smartphone auf. „Sehr hübsch.“
„Was spricht dagegen Töpfe ganz normal auf den Boden oder aufs Fensterbrett zu stellen, wie es sich gehört?“
Keiner ging auf die Herausforderung ein und Klaus sah verstimmt, wie Horst vom Umweltamt einen Tick schneller gewesen war als er. Mit einem triumphierenden Lächeln schüttete er den letzten Kaffee in seinen Becher und verließ mit einem gnädigen Winken die Küche.
„Ich mag den Lackaffen nicht.“
„Ach, ne. Sag blos, es gibt irgendwen, den du magst?“
„Ich setz noch ne halbe Kanne auf.“ Klaus schob sich missmutig an den anderen vorbei.
„So viel Gel, wie der in seinen Schnauzer schmiert, dürfte der eigentlich nicht mehr im Umweltamt arbeiten.“
„Pomade heißt das Zeug.“
Erschrocken fuhren sie alle zusammen, als der Boden wackelte.
„Himmel, was ist das denn?“, fluchte Klaus. „Ein Erdbeben?“
„Quatsch!“ Die Sekretärin vom Tiefbauamt rollte mit den Augen. „Die reißen draußen den Gehweg für die neue Gasleitung auf.“
„So ein Bagger mit Presslufthammer? Wie soll man da arbeiten können? Klaus, setz besser ne ganze Kanne auf.“
Ein Knall ließ sie aufschrecken.
„Hildegard? Biste wieder eingepennt und vom Stuhl gekippt?“, rief Horst aus seinem Büro und lachte gackernd.
„Zähl deine Regenwürmer und versuch es nicht mit Witzen“, tönte es gereizt aus einem Zimmer.
„Wenigstens gehe ich nicht zum Lachen in den Keller.“
„Da wäre auch nicht genug Platz für dich und dein Ego“, schoss Hildegard zurück.
In der Küche lächelte man sich fröhlich an.
„Klarer Punktesieg“, murmelte die Auszubildende.
„Und was war das jetzt für ein Knall?“ Die Sekretärin sah sich fragend um. „Kann da mal wer nachsehen?“
„Ich mache gerade Kaffee.“ Klaus hob entschuldigend die Schultern.
„Bevor noch jemand schreit, dass man dafür doch Lehrlinge hat, gehe ich lieber gleich.“ Mit einem Seufzen erhob sich die Jüngste im Raum.
Man sah ihr lächelnd nach, aber sie war nur einen Schritt aus der Küche getreten, als sie bereits wieder stehenblieb und den Kopf schräg legte.
„Das große Bild ist von der Wand gefallen.“
Sie tauschten überraschte Blicke und drängten nach draußen. Dann sahen sie sich stumm die Bescherung an. Das Gemälde lag am Boden und hatte sich auch aus dem Bilderrahmen gelöst.
„Was ist denn hier los?“, erkundigte sich eine tiefe Stimme hinter ihnen.
„Guten Morgen, Herr Bürgermeister.“ Die Sekretärin hatte am schnellsten reagiert. „Das Bild ist heruntergefallen. Wahrscheinlich wegen der Vibrationen.“
„Ein Fall für die Versicherung“, kommentierte Klaus achselzuckend.
„Eher weniger. Es gab ne Rundmail, in der wir aufgefordert wurden, alles zu sichern.“ Werner vom Kulturamt verzog schmerzlich das Gesicht und drehte dann vorsichtig das Bild um. „Auch sehe ich jetzt auf Anhieb keine Beschädigung. Es müsste nur dringend gereinigt werden.“
„Sollte das nicht schon vor fünf Jahren gemacht werden?“ Der Bürgermeister kratzte sich am Kopf.
„Sollte es“, bestätigte Werner. „Aber damals bekamen wir es nicht aus dem Rahmen.“
„Problem gelöst“, kommentierte Klaus trocken.
„Veranlassen sie die Restaurierung des Kunstwerkes.“ Das Stadtoberhaupt wendete sich gelangweilt ab.
„Dafür haben wir kein Budget mehr.“ Werner zog den Kopf ein.
„Was kostet das denn schon?“ Der Bürgermeister rollte die Augen. „Einmal drüberwischen und gut is.“
„Wir reden hier von einem Ölgemälde auf Leinwand, das ein halbes Jahrhundert hinter Zigarre rauchenden Stadtvätern hing. In den alten Beschreibungen stand was von leuchtenden Farben. Es war nicht immer so ein düsterer Schinken“, protestierte der Kulturreferent. „Bei dieser Größe kommen wir da auf drei- bis viertausend Euro für die Reinigung und nochmal tausend für die Restaurierung des Rahmens.“
„Na dann los.“ Der Bürgermeister winkte ungeduldig.
„Das haben wir nicht mehr im Budget für dieses Jahr!“, verteidigte sich Werner. „Außer, wenn wir...“
„Ja?“
Alle sahen ihn fragend an und warteten darauf, dass er sich dem allmächtigen Stadtoberhaupt beugte.
„Das muss meine Vorgesetzte entscheiden!“, rief er verzweifelt.
Einige sogen erschrocken Luft ein und auch das Gesicht des Bürgermeisters verhärtete sich. Eine Konfrontation mit der streitsüchtigen Leiterin des Kulturreferates Gerda Meier scheute jeder.
„Schicken Sie sie in mein Büro.“
Eilig quälte er sich durch kommunale Budgetverwaltung des Ortes. An sich gäbe es noch genug Gelder, aber wahrscheinlich waren die Mittel schon intern verplant.
Und ihm war bewusst, dass die Kollegin Meier in ihm den Erzfeind sah, nachdem er vor einem halben Jahr leicht angetrunken einem Parteifreund zugesagt hatte, eine Rede vor der Falknervereinigung zu halten. Er hatte ja nicht die geringste Ahnung von der seit Jahrzehnten tobenden Fehde des Vereins mit dem Verband der Kaninchenzüchter gehabt.
Angeblich war vor der Jahrtausendwende einmal ein mit Preisen überhäufter Rammler von einem Falken geschlagen worden. Wenig später war ein abgerichteter Habicht in einer Drahtschlinge verendet. Danach war es eskaliert. Kein Monat verging seither ohne gegenseitige Beschuldigungen und Klagen. Selbst den Kindern wurde der Kontakt zu den Sprösslingen des jeweils anderen Vereins verboten.
Und nun sollte er, der auf der Jahrestagung der Falkner eine Ansprache gehalten hatte, der stellvertretenden Vorsitzenden der Kaninchenzüchter Geld aus dem Kreuz leiern. Mit einem schweren Seufzen überlegte er sich eine Strategie. Natürlich konnte er als Vorgesetzter es ihr einfach anordnen, aber sie war auch Politikerin des Koalitionspartners im Stadtrat und konnte ihm dort das Leben zur Hölle machen.
Ein wuchtiges Hämmern an seine Tür ließ ihn aufschrecken.
„Herein!“ Er hoffte, die dicke Eichentür hatte sie seine Unsicherheit nicht wahrnehmen lassen.
Langsam wurde die Tür aufgeschoben und Frau Meier stolzierte in den Raum. Die grauen Haare streng zu einem Zopf geflochten, durchbohrte sie ihn mit einem eisigen Blick durch ihre Hornbrille, die ihre ein katzenhaftes Aussehen verlieh. Ihr charmantes Lächeln erreichte die Augen nicht.
„Sie wollten mich sprechen, Herr Bürgermeister.“
„In der Tat, Frau Meier.“ Überschwänglich wies er auf einen Stuhl. „Aber setzen Sie sich doch.“
Ohne ihn eine Sekunde aus den Augen zu lassen, nahm sie Platz und schlug die Beine übereinander. „Worum geht es?“
„Ein Bild wurde heute beschädigt“, erzählte er beiläufig. „Es müsste gereinigt und restauriert werden. Würden Sie das bitte veranlassen?“
„Nichts würde ich lieber tun, aber das Budget...“ Sie hob entschuldigend die Hände.
„Ach?“ Er sah sie mit gespielter Überraschung an und wies dann auf seinen Rechner. „Das Programm meinte, sie hätten noch ausreichend Mittel um so etwas leicht stemmen zu können.“
„Theoretisch ja“, gestand sie gelangweilt. „Aber Ende des Jahres steht noch die Kleintiermesse an, bei der wir als Sponsor in Erscheinung treten wollten.“
„Was hat das mit dem Kulturbudget zu tun?“, erkundigte er sich verständnislos.
„Aber Herr Bürgermeister!“, widersprach sie vehement. „Hier im Ort werden seit über 130 Jahren Kaninchen gezüchtet und der Züchterverein ist der älteste eingetragene Verein des Ortes. Das ist praktisch schon ein Kulturerbe.“
„Ich verstehe.“ Er trommelte genervt mit seinen Fingern auf den Schreibtisch, während sie sich mit Blicken duellierten.
Natürlich war ihnen beiden bewusst, ein Auftreten als Sponsor auf einer Messe wäre ein Missbrauch der Mittel für Kultur. Und gleichzeitig war bekannt, dass die Weicheier der Finanzverwaltung deshalb keinesfalls einen Aufstand starten würden.
Nur leider hatte auch er seine Leichen im Keller und war sich nicht sicher, ob sie davon wusste. Daher konnte er in dieser Richtung ebenfalls keinen Angriff riskieren. Dann vielleicht doch mit Vernunft versuchen?
„Frau Meier, sehen sie: Wir sprechen hier von einem antiken Ölgemälde des berühmten Malers Sebastian Bierdimpfel aus dem Jahre 1832. Wie Sie sicherlich wissen, lebte er eine Weile im Ort und schuf in dieser Zeit das bekannte Bild unserer Heimatstadt, bevor er leider aus unbekannten Gründen weiterzog.“
„Angeblich weil die Brauerei abbrannte und den alten Säufer außer dem guten Bier hier nichts hielt“, murmelte sie.
„Wie auch immer“, der Bürgermeister winkte ab. „Ein derartiger Kulturschatz wie das Abbild unserer Heimat muss unbedingt erhalten werden.“
Frau Meier betrachtete ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Ich könnte auch bei der nächsten Jahresversammlung der Kaninchenzüchter eine kurze Rede halten“, bot er leise an.
„Das würden Sie tun?“ Erschrocken sah sie ihn an und langsam wurde ihr Blick weich. „Mit einer kleinen Fragerunde vielleicht?“
„Eine fünfminütige Eröffnungsrede“, wehrte er mit erhobenen Händen ab. „Genau wie bei den Falknern damals.“
Bei der Erwähnung ihrer Erzfeinde funkelte sie ihn kurz böse an, aber nach einem Moment der Überlegung nickte sie vehement. „Dieses Kunstwerk muss der Stadt um jeden Preis erhalten bleiben. Ich kümmere mich sofort persönlich darum.“
Bevor er sich bedanken konnte, war sie bereits aus dem Raum gerauscht.
Kopfschüttelnd stand er auf und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen.
Klaus sah ihn fragend an. „Und?“
„Was und?“
„Na rückt sie die Kohle raus?“
„Ich bin der Bürgermeister!“ Er sah seinen Untergebenen entrüstet an. „Wenn ich sage, wir machen das so, dann machen wir das so!“
Er war sich der bewundernden Blicke durchaus bewusst, als er sich seinen Kaffee einschenkte.
‚Manchmal kann man doch noch Frieden schließen‘, dachte er schmunzelnd. ‚Und alles, was es dafür brauchte, war ein Ort, der aus dem Rahmen fällt.‘