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Der Schlund

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20.06.2019
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Der Schlund

Wie auf Schienen lenkte ich das Auto die Serpentinen hinunter und nur gelegentlich warf ich einen Blick auf meine Kollegin. Sie saß auf dem Beifahrersitz und studierte aufrichtig konzentriert die Broschüre der Fortbildung, die wir besuchen wollten – Palliativmedizin in der Neurologie.
„Sonntag acht Uhr? Die sind doch bescheuert!“, kommentierte sie den Zeitplan.
„Da brauchen wir auf jeden Fall vorher n Kaffee.“
„Aber hallo! Einen großen Kaffee.“ Sie lachte. Ich lachte. Es war ein bisschen albern und ich hielt meinen Blick eine Zeit lang auf die Straße gerichtet. Wir waren fast drei Stunden gefahren und würden unser Ziel laut Navi in ein paar Minuten erreichen. Die Nachmittagssonne beschien die herbstlich gefärbten Eifelwälder auf den Hängen, von denen wir in ein lang gezogenes Tal hinabtauchten.
„Huch, was ist denn jetzt los?“ Im ersten Moment dachte ich, sie hätte irgendwas auf der Straße gesehen, und bremste abrupt. Dann wurde mir klar, was sie meinte.
„Die Musik?“
„Ja! Gefühlt zwei Stunden lang dieses depressive Gesäusel …“
„Hey!“
„Jaja, ich weiß“, sie machte Gänsefüßchen in der Luft, „das ist Leonard Cohen, der beste Singer Songwriter aller Zeiten. Aber ganz ehrlich, das war doch die ganze Zeit dasselbe und jetzt plötzlich so ne, was ist das überhaupt, Big Band Nummer?“
„Ach komm, du hast halt echt keine Ahnung! Das ist Memories vom Death of a ladies‘ man Album und von Phil Spector produziert, deswegen klingt das so. Ist übrigens bei Fans eher unbeliebt und ich glaub, Cohen selbst war auch nicht so begeistert.“
„Och Gottchen.“
„Da gibts auch die Anekdote, dass Spector im Studio ne Pistole auf Cohen gerichtet hat, und meinte I love you Leonard und der nur I hope you do, oder so ähnlich.“
„Nett.“
„Wie auch immer, ich mag den Song und dachte, dass dir das vielleicht auch gefällt. Und abgesehen davon - du kannst zuhause immer hören, was du willst, aber bei uns gibts entweder Kinderlieder Maxi Mix oder Benjamin Blümchen. Da würde ich im Auto gern hören, was ich mag, wenn’s genehm ist.“ Sie schmunzelte und bis wir mit einer letzten Kurve die Abfahrt beendeten, schwiegen wir. Ich lehnte mich leicht nach vorn übers Lenkrad und blickte die bewaldete Höhe hinauf, von der wir gekommen waren. Auf ihrem Rücken standen lange Reihen knorriger Apfelbäume, die gegen den blauen Himmel ragten. Ich musste an ein Maul voll hässlicher Zähne denken, das über uns zuschnappte.
„Eigentlich ganz hübsch hier“, bemerkte meine Beifahrerin. „Aber ziemlich abgeschieden … ich hoffe, das Hotel, was du uns da angelacht hast, ist was Vernünftiges.“
„Besser als jeden Tag drei Stunden hin und zurück. Außerdem hab nicht ich bis zur letzten Minute mit der Anmeldung gewartet.“
„Pff, kannst das nächste Mal gern allein fahren! Und ist doch nicht meine Schuld, wenn die ihre beknackte Fortbildung irgendwo machen, wo es nicht genug Zimmer oder Hotels in der Nähe gibt!“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf einen theatralischen Blick aus dem Seitenfenster. Wir lachten wieder.
Die Straße verlief schnurgerade durch das Tal, eingeengt zwischen dicht mit Laubwald bestandenen Berghängen. Nach einiger Zeit erschienen rechts von uns ein schmaler, dann bereiter werdender Wiesenstreifen und ein Bach, der mal näher, dann wieder in einiger Entfernung dahinsprudelte. Wir fuhren an einer Handvoll verschrobener Häuschen vorbei, die von Nutzgärten und hölzernen Bienenstöcken umgeben waren.
Nach einer Rechtskurve erreichten wir das Dorf. Zunächst fiel mein Blick auf einen Spielplatz linkerhand der Straße. Hinter einer niedrigen Hecke erhoben sich Rutsche, Stehkarussell und Schaukel wie Relikte einer versunkenen Zivilisation. Schräg gegenüber stand, halb im Schatten, das verwitterte Ortsschild. Es folgte ein Haus, dessen Sinn und Zweck mir schleierhaft war – es hatte dicke Mauern, die von einer bizarren Menge winziger Fenster durchlöchert waren. Ich hatte das Gefühl, ein vorzeitliches Wesen würde mich aus boshaften Äuglein beobachten und war froh, als das Navi losplärrte und ich diese Empfindung abschütteln konnte.
Jetzt links abbiegen. Das Ziel befindet sich auf der rechten Straßenseite. Ich folgte der Anweisung und verließ die Hauptstraße, die im weiteren Verlauf über eine Steinbrücke führte. Nicht weit dahinter markierte ein Schild den Ortsausgang. Dazwischen lagen die Gebäude eines Bauernhofes, inklusive Stallungen und einem Silo, das wie ein warnender Zeigefinger in den weit entfernten Himmel wies.
„Richtig schön was los hier“, murmelte ich.
„Wieso? Ist doch ganz bezaubernd! Ein reizendes Eifeldörfchen, verrosteter Spielplatz, Betonphallus – ich hab fast gar nicht das Gefühl, in einem Horrorfilm gelandet zu sein.“ Wir stießen beide Luft durch die Nase aus und versicherten uns mit Seitenblicken zum jeweils anderen, dass es Lachen gewesen war.
„Das ist übrigens ein Silo.“
„Achso, danke Papa! Wie dumm von mir … ich weiß, was ein Silo ist!“
„Ja? Was macht man denn mit einem Silo?“
„Wird das jetzt hier ein Bauernhofquiz, oder was? Also da kommt Getreide rein, falls du es genau wissen willst.“
„Oder?“
„Wie, oder?“
„Oder Schüttgut.“
„Schüttgut? Soso.“
„Ja. Hab ich letztens ne Doku zu gesehen.“
„Oh, der feine Herr, ne Doku!“ Ich musste grinsen. Inzwischen hatten wir das Hotel erreicht. Ich parkte, zog die Handbremse und seufzte. Meine Begleiterin sprang aus dem Wagen und streckte sich. Sie war relativ groß, was man von dem Auto nicht behaupten konnte – meine Frau fährt die Familienkutsche. Ich stieg auch aus. Da mir nichts Lustiges einfiel, was ich hätte sagen können, beobachtete ich sie wortlos bei ihren Dehnübungen. Meine Frau hatte sie mal als attraktiv bezeichnet, was mich damals, zugegeben, etwas überrascht hatte. Ich ging zum Kofferraum und nahm unser Gepäck heraus. Als ich mich auf den Weg in Richtung Eingang machte, rannte sie zu mir.
„Dankeschön“, sagte sie und nahm mir ihren Koffer aus der Hand.
„Ist doch kein Ding.“
„Nee, das schaffe ich schon noch selbst. Außerdem, guck mal hier … ich weiß nicht, ob du das kennst, aber es gibt hier so einen Griff, den kann man rausziehen und dann den Koffer hinter sich her rollen.“
„Unglaublich! Aber das sind ungefähr drei Meter bis zur Tür und da ist ne Treppe, falls du es nicht gesehen haben solltest.“

Im schwindenden Licht des Spätnachmittags liefen wir auf den Eingang zu. Hier unten im Tal wurden die Schatten bereits länger, lediglich die umliegenden Hügelkuppen leuchteten golden in der Sonne. Ein Drittel der Parkreihe vor dem Hotel war belegt. Mit unserem waren es sechs Autos, alle mit auswärtigen Kennzeichen.
Zwischen Parkplatz und Hotel plätscherte in einem knapp ein Meter tiefen Graben ein Bächlein, über welches der Eingangsbereich führte. Diese Brücke war offenbar ein moderner Anbau, dessen helle und offene Bauart in Kontrast zu den restlichen Gebäudeteilen stand. Überhaupt machte das Hotel den Eindruck, als sei es nach und nach aus nicht miteinander harmonierenden Elementen zusammengesetzt worden. Seinen Zweck wird es wohl erfüllen, dachte ich, als ich je zwei Stufen auf einmal nahm und oben die Tür aufhielt. Wir betraten den schmalen Vorraum, der uns, vorbei an einem Erntedank Arrangement aus Stroh, Herbstlaub und Kürbissen, zu einer weiteren Doppeltür brachte. Ich ließ meiner Begleitung erneut den Vortritt.
„Willkommen in den Siebzigern“, sagte sie mit Blick auf die dunkelbraune Sitzgruppe und das Holzregal voll zerlesener Bücher – Bildband Vulkaneifel, Die schönsten Wanderwege, Tausend Kreuzworträtsel. Es folgte ein langer Gang. Auf der linken Seite befand sich hinter geschlossener Doppelglastür der Speisesaal, der trotz großzügiger Panoramafenster im Halbdunkel lag. Auf der gegenüberliegenden Seite kamen wir an einer Holztür mit der Aufschrift Gaststube vorbei, dahinter an einer Schwingtür unter dem Schild Küche. Wir erreichten die Rezeptionstheke, die nicht besetzt war. Es brannte kein Licht und ich sah mich unsicher im graubraunen Zwielicht um.
„Hier.“ Meine Mitreisende deutete auf eine Tischglocke und kicherte. Obwohl ich in diesem Moment hörte, wie eine der Türen hinter uns geöffnet wurde, drückte ich auf den kleinen Metallknopf und ein ungeduldiges Pling ertönte.
„Ja?“
Wir drehten uns um, und ein Mann, vermutlich Ende vierzig, schlurfte leicht gebeugt auf uns zu. Er trug eine Latzhose, darunter ein Wollhemd und einen Filzhut, den er abnahm und in den verdreckten Fingern knetete, während er uns bloß fragend ansah.
„Ähm, hallo! Wir hatten ein Zimmer reserviert …“
„Zwei“, sagte meine Kollegin. Ich spürte, wie ich errötete.
„Achja, zwei Zimmer, drei Nächte.“
„Gäste. Das macht meine Schwester.“
„Ihre Schwester? Wie schön! Ist Ihre Schwester denn zugegen?“ Er sah sie an und als ihr klar wurde, dass sie keine Antwort bekommen würde, fuhr sie fort: „Na, junger Mann - wir hatten ja, wie gesagt, zwei Zimmer reserviert. Zum Übernachten. Was müssen wir den machen, um diese Zimmer zu bekommen? Warten wir drei jetzt hier auf Ihre Schwester oder wie läuft das weiter ab?“
„Die ist grad nicht da. Moment, ich schau mal.“ Er humpelte hinter die Empfangstheke und blickte in ein dickes Buch, das aufgeschlagen dort lag. Nach einer halben Minute knipste er das Lämpchen neben der Tischglocke an und schaute weiter angestrengt ins Buch.
„Für heute reserviert?“
„Herrje, guter Mann …“
„Jonas Krüger“ unterbrach ich sie und deutete über den Tresen hinweg auf die Stelle im Buch, wo ich meinen Namen aufgeschrieben sah.
„Zimmer fünf“ las er vor. Er wollte sich umdrehen und wahrscheinlich den Schlüssel aus dem Kasten nehmen.
„Und Doktor Marina Schilling.“ Er sah sie an und dann wieder ins Buch.
„Hier, Zimmer vier.“ Nun drehte er sich um, nahm die Schlüssel von den Häkchen und überreichte sie uns. Anschließend schaltete er die Lampe wieder aus, sodass wir mehr oder weniger im Dunkeln standen. Dann klappte er das Buch zu, kam um die Theke herum und schlurfte wortlos davon.
„Junger Mann, wann gibt es denn Abendessen?“, rief ich ihm hinterher.
„Sechs.“ Und damit verschwand er durch die Gaststubentür. Wir sahen uns halb belustigt, halb skeptisch an.
„Ich nehme an, Treppenhaus ist den Gang runter“, sagte Marina und ging vor. Ich folgte ihr tiefer in die Dunkelheit. Hinter einer Glastür fanden wir tatsächlich Treppen und ich war froh, als mein Blick auf das rote Leuchten eines Lichtschalters fiel.
„Tadaa!“
„Oh Licht, wie praktisch!“
„Ich nehme an, du trägst deinen Koffer selbst hoch? Ich kann sonst gerne …“
„Nein, weg! Husch husch!“
„Schon gut. Ich wollt’s nur angeboten haben. Nicht, dass es nachher heißt, ich bring dich hier in unheimliche Hinterwäldler Hotels, ohne …“
„Ja genau! Er verschleppte mich in dieses Folter Hotel, aber Manieren - die hatte er!“ Lachend erreichten wir die erste Etage, wo sich unsere Zimmer befanden. Marinas war direkt das erste auf der linken Seite.
„Dann um sechs unten“, fragte Marina, während sie sich mit dem Schlüssel an ihrer Tür zu schaffen machte. Eigentlich war es eher eine Aussage.
„Alles klar. Ich kann dich auch abholen kommen und klopfen?“
„Nene, unten ist schon okay … was ist denn mit dieser Scheiß Tür jetzt?“ Sie rüttelte an der Klinke.
„Klemmt? Zeig mal.“ Die Tür sprang auf und Marina stolperte ins Zimmer.
„Alles gut“, rief sie mir lachend zu.
„Fantastisch. Dann bis gleich.“ Ich zog meinen Koffer über den dunkelgrünen Teppich zu meinem Zimmer, das ein paar Meter weiter auf der gegenüberliegenden Seite lag. An der Wand hing das Fell eines Wildschweins. Ich konnte nicht widerstehen und strich über die harten Borsten.

Meine Tür ließ sich zwar problemlos öffnen, dafür war das Licht kaputt. Um sicherzugehen, betätigte ich den Schalter noch ein paarmal, aber es blieb dunkel.
„Wun-der-bar.“ Vorsichtig bahnte ich mir einen Weg durch den Raum auf die Fenster zu. Ich vermutete, dass sie auf Kipp standen – die schweren, bodenlangen Vorhänge waren allesamt zugezogen, aber es war überraschend kühl und durch den grünen Stoff drang das Plätschern eines Baches. Mit einem Ruck zog ich sie auf und blickte auf ein breites Fenster und eine Balkontür, die tatsächlich offenstand. Es erschien mir etwas merkwürdig, dass sie nicht gekippt war; nichtsdestotrotz nutzte ich diesen Umstand aus, trat auf den Balkon hinaus, legte meine Hände auf das feuchte Holzgeländer und atmete tief ein und aus. Ich fragte mich, welchen Ausblick Marina gerade genoss. Der Bach schlängelte sich in den Tiefen einer üppigen Wiese, die in einem Dreieck zwischen Hotel und zwei aufeinander zulaufenden Berghängen lag. Diese beiden Schenkel waren von dichtem Nadelwald bestanden, aus dem sich eine beinahe greifbare Dunkelheit manifestierte. Etwas an diesen Bäumen ließ mich die Stirn runzeln und als ich versuchte, den Grund dafür zu finden, führte ich meine Verwirrung darauf zurück, dass ich eine so schnelle Dämmerung aus dem Flachland nicht gewohnt bin. Ich ging zurück ins Zimmer, schloss die Balkontür und schaltete die Nachttischbeleuchtung ein. Um die Zeit totzuschlagen, duschte ich und rasierte mich ausführlich. Als ich aus dem Bad kam, um mich anzuziehen, blieb ich so plötzlich stehen, als sei ich gegen eine unsichtbare Wand gelaufen – der Fernseher war eingeschaltet. Ein Kribbeln flimmerte durch meinen Körper und für einen kurzen Moment hatte ich die irre Hoffnung, Marina sei herübergekommen. Aber das Zimmer war genauso leer, wie es sein sollte. Ich nahm mir frische Unterwäsche aus dem Koffer und überprüfte anschließend Balkon- und Eingangstür, die beide geschlossen waren. Auch sonst fiel mir nichts auf, außer der Naturdoku, die lautlos auf dem Bildschirm flackerte. Irgendetwas über fleischfressende Pflanzen. Immer wieder schnappte die Falle zu – Originalgeschwindigkeit, Zeitlupe, Superzeitlupe, dann wieder schnell. Ich nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete durch die Programme. Auf allen anderen Kanälen gab es nur schwarz-weißes Rauschen. Wahrscheinlich eine Wecker Funktion, dachte ich und kleidete mich fertig an.

Unten schlenderte ich zuerst einige Minuten vor dem Speisesaal herum, dann ließ ich mich in einen der altmodischen Ledersessel fallen und griff nach einem vergilbten Reiseführer. Als Marina schließlich zum Essen kam, las ich bereits richtig in dem Buch und bemerkte sie erst, als sie mich ansprach.
„Maare?“ Sie stand direkt neben mir und blickte runter auf das Buch in meinen Händen.
„Ja. Ist so ‘n Eifelding. Invertierte Vulkane quasi, wenn ich das richtig verstehe.“
„Sieht für mich wie ein stinknormaler See aus.“ Sie deutete auf eines der Bilder.
„Keine Ahnung, hat auf jeden Fall was mit Vulkanen zu tun. Außerdem gibts die auch ohne Wasser.“ Ich versuchte mich an einer Sendung mit der Maus Imitation: „Und das nennt man dann ein Trockenmaar.“
„Gut. Ich verstehe. Essen?“
„Fantastische Idee.“ Ich legte das Buch ins Regal und folgte Marina in den Speisesaal. Wir setzten uns an einen Tisch im vorderen Bereich, nahe des beinahe bodentiefen Panoramafensters, in dem wir allerdings nur noch unser eigenes Spiegelbild betrachten konnten. Es waren vielleicht vier oder fünf Tische besetzt. In unserer Nähe saß lediglich ein älterer Herr, der mir vage bekannt vorkam und den ich deshalb mit der Fortbildung in Verbindung brachte, für die wir eigentlich hergekommen waren.
„Und, ist dein Fernseher auch einfach angegangen?“
„Haha, was? Nein.“
„Ja, ich kam nach dem Duschen ausm Bad und mein Fernseher war an.“
„Wie fürchterlich!“
„Und es gab nur einen einzigen Sender.“
„Oh Gott, hör auf! Das ist ja grauenhaft!“
„Jetzt mal ohne Scheiß, stell dir vor, du kommst nackt aus dem Bad und der Fernseher hat sich, hoffentlich, selbst eingeschaltet und da läuft ne Doku über fleischfressende Pflanzen.“
„Dioneae muscipula?“
„Hä?“
„Die Pflanze.“
„Keine Ahnung, was weiß ich. Das ist doch nicht der Punkt … ach egal. Weißt du schon, was du nimmst?“
„Wahrscheinlich die Forelle. Ich hab gesehen, dass der Lindemann auch n Vortrag macht am Samstag.“
„Echt? Der ist auch immer dabei, wenn er auf ne Bühne darf.“ Bis das Essen serviert wurde, redeten wir nur noch von der Arbeit. Meine Blicke wanderten immer wieder zum Fenster und jedes Mal fand ich nichts als schwarze Eifelnacht und die Spiegelung unseres Tisches. Die halb heruntergebrannte Kerze. Die Weinflasche, die ich uns aufgeschwatzt hatte. Unser Geplauder. Es wäre gelogen, wenn ich nicht hervorheben würde, dass ich auch Marina sah. Ihr kastanienbraunes Haar. Ihren Mund, wenn sie lachte und ihre Augen, wenn sie schwieg.
„Du musst uns mal wieder besuchen“, sagte ich in mein Weinglas. „Raclette oder so.“
„Gerne. Müssen wir mal schauen.“
„Nina freut sich immer, wenn du kommst“, log ich.
„Na, die Kinder doch hoffentlich auch?“
„Aber hallo! Du weißt doch, wie begeistert Felix von dir ist und die Zwillinge sowieso.“
„Und Lenni erst!“
„Hmm, lass mich ehrlich sein … schwierig. Der merkt halt, dass du Hunde hasst.“ Wir lachten eine Weile.
„Wie gehts Nina? Die ist noch in Elternzeit oder wie war das?“
„Auch schwierig.“ Diesmal lachte nur ich. „Nein, Spaß! Elternzeit ist Ende, aber sie würd gern noch zuhause bleiben. Das ist auch nicht das Problem. Du weißt ja, mir ist das total egal, ob sie Hausfrau ist oder arbeiten geht, so lang sie glücklich und zufrieden ist. Aber mit Kindern und allem, ist das manchmal so ne Sache. Ach, keine Ahnung. Erinnerst du dich …? Früher hat es mich immer genervt, dass Ärzte spätestens nach fünf Minuten über die Arbeit reden und dann über nichts anderes mehr. Auch weil es Nina genervt hat oder sie sich dann gelangweilt hat. Und in letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass mir das eigentlich Spaß macht – über die Arbeit quatschen oder einfach irgendwas Alltägliches. Kopf aus und entspannen. Wie auch immer.“ Die Kellnerin kam an unseren Tisch, um die leeren Teller abzuräumen und ich war froh, dass ich nach der Dessertkarte fragen konnte. Als sie wieder weg war, schwiegen wir eine Weile.
„Ich hatte ja befürchtet, der verlangsamte Typ würde hier bedienen“, sagte Marina schließlich.
„Der Herr mit der Hemiparese?“
„Ja genau. Forelle Müllerin mit Folienkartoffel? Das macht meine Schwester.“
„Der arbeitet bestimmt an der Bar. Willst du da gleich noch hin?“
„Nee, lass mal.“
„Kannst ihm erzählen, dass du Neurologin bist und dich für seine Parese interessierst.“
„Oh Gott, nein! Ich würd noch n Kaffee trinken, mit nem Eis vielleicht und dann können wir ja auch so langsam nach oben.“ Marina klappte die Dessertkarte zu und sah mich an.

Später, danach, lag ich noch wach, starrte an die Decke oder vielmehr ins Leere, denn das Licht war längst aus, und dachte an nichts. Dann kam der Traum und gebar sein Ungeheuer.
Wir, Marina und ich, laufen durch endlose Hotelflure und suchen ein bestimmtes Zimmer. Es ist dunkel. Wir klopfen an eine Menge Türen. Es sind Menschen dahinter, aber uns wird nicht geöffnet. Auch in den Schatten der Gänge stehen Gestalten und flüstern. Ich weiß, dass es unser Hotel ist, denn ich höre das Rauschen des Baches. Das Rauschen schwillt an, wird zum Wind in den Bäumen, zwischen denen ich mein Auto abtauchen sehe. Ich fliege über dem Tal, unten das Hotel, Bäche und Bäume und dann erkenne ich endlich, dass es kein Tal ist, sondern ein lebendiger Schlund. Ich versuche, höher zu fliegen, aber das gigantische Maul schnappt zu.
Mit einem unmenschlichen Schrei schreckte ich aus den zerwühlten Laken hoch. Ich saß mitten im Nichts des stockdunklen Zimmers, während das Grauen kalt mein Rückgrat hinabrieselte. Mein Keuchen erfüllte den Raum, was mir allerdings deutlich lieber war als die fremde Stimme, die ich aus meinem Traum mitgenommen hatte und die wie ein physisches Etwas aus meiner Kehle emporgeklettert war. Marina murmelte leise aus den Tiefen des Bettes. Ich öffnete und schloss meine Augen mehrmals hintereinander, aber es machte keinen Unterschied. Die Finsternis lag undurchdringlich über uns.
„Ich glaub, wir müssen hier weg“, sagte ich und es klang komplett lächerlich.
„Du hast schlecht geträumt.“
„Wir müssen von hier verschwinden“, startete ich einen neuen Versuch.
„Schlaf weiter.“ Ich legte mich wieder hin und spürte ihren Atem an meinem Hals. Wie sollte ich es ihr erklären? Meine Gedanken rasten, aber ich war nicht in er Lage, etwas zu sagen, geschweige denn zu tun. Es würde wie die dümmste Ausrede der Welt klingen. Glaubte ich wirklich, wir befänden uns im Rachen eines riesigen Monsters? Dann begann das Erdbeben und mir war klar, dass es kein wirkliches Erdbeben war. Ich konnte nichts sehen, ich konnte Marina nicht sehen, aber Hände hielten mich zurück, als ich versuchte, endgültig aufzustehen.
„Was ist denn los mit dir Jonas?“ Für einen Moment dachte ich, sie würde nichts bemerken, dann war sie auf einmal hellwach. „Jonas, was ist hier los?“
„Ich wollte weglaufen, wir müssen weg! Wir hätten nicht herkommen dürfen …“ Ein Dröhnen setzte ein und ohne auf Marina zu achten, rannte ich los. Besser gesagt, ich sprang aus dem Bett, landete auf dem Boden und bewegte mich ungelenk auf allen vieren fort, wie ein Kind, das einen Hund spielt. Alles schwankte, wie auf einem Schiff. Ich knallte gegen eine Wand, richtete mich zur Hälfte auf, lief weiter, stolperte über den Stuhl, erhob mich erneut, hielt die Arme ausgestreckt nach vorne, fand die Tür und stürmte auf den Gang hinaus. Auch hier war es dunkel, aber längst nicht so undurchdringlich wie in dem Zimmer hinter mir. Ich fand den Weg nach draußen, doch die Welt war fort. Ich weiß nicht, was ich sah und ich war froh, dass sich der Albtraum unter diesen unnatürlichen Schatten verbarg. Ich hatte es von Anfang an gewusst, irgendeine Intuition gehabt, begraben unter albernem Begehren. Resigniert blieb ich stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah weit, weit über mir Sterne. Ohne weiter darüber nachzudenken, lief ich los und machte ich mich auf den Weg nach oben, wollte nur noch dem Abgrund entkommen, mich nicht verschlingen lassen.

Ich weiß nicht, ob ich drei Stunden oder drei Tage in der Finsternis umherirrte, aber letztendlich erwachte ich, allein, oben zwischen den Apfelbäumen und die Morgensonne brannte kalt auf meinen nackten Körper. Obwohl ich, ohne mich umzudrehen, davonlaufen wollte, schritt ich zurück an den Rand und blickte hinab.
Das Tal ist nicht mehr da. Vor mir liegt die ernüchternde Ödnis eines Trockenmaares. Ich kann nicht erklären, was hier passiert ist, und vor allem kann ich es nicht erklären, ohne die Verbindung zu dem, was ich getan habe. Ich glaube nicht an Reue und Moral und Schuld und Strafe. Ich glaube auch nicht an einen phantastischen Monsterschlund. Ich glaube vielleicht an mein vages Wissen über die Entstehung eines Maares. Aber es ist egal, was ich glaube. Vor mir sehe ich einen leeren Krater, in dem ein bisschen Gras wächst. Ich schätze, niemand würde die Reise hierher unternehmen, wenn er wüsste, was ihn erwartet. Ich habe mich an alles erinnert und werde es hier zurücklassen. Ich werde nicht in diese trostlose Tiefe hinabsteigen und mich auf die Suche machen, sondern zu Nina gehen.
Als ich mich umdrehen will, sehe ich am gegenüberliegenden Rand eine kleine Gestalt. Gut, dass sie es auch geschafft hat, denke ich und hebe die Hand zu einem kurzen Gruß. Dann kehre ich allem den Rücken und gehe los.

 

Hallo @sodrecas,

ich möchte Dir nur kurz meinen Leseeindruck dalassen. Das Setting ist toll, die Figuren finde ich gut gezeichnet, der Spannungsbogen funktioniert, du fächerst das Ganze schön auf auch mit der fleischfressenden Pflanze, für mich eine gelungene Geschichte, wäre da nicht das Ende. Dieses Trockenmaargedöns hat mich völlig rausgekickt. Wo kommt das her? Einen Berg interessiert also, dass der Prota fremdgeht und deswegen verschlingt er gleich das komplette Tal samt Einheimischen und Dorf? Meh, nee du, das glaub ich nicht, da muss was anderes her, das Ende ist mit zu heißer Nadel gestrickt, angepfropft mit Deus ex Machina-Kleister.

Mein Vorschlag dazu wäre folgernder: Setze dem Herrn Neurologen die Natur, bzw. das Dorf gegenüber als Antagonist, du hast alles dafür schon im Text. Er schläft von mir aus mit seiner Kollegin und es geschehen wieder Dinge, die nur er sieht und sich nicht erklären kann. So als Abwärtsspirale, das klar wird: der Ort ist der Gegenspieler, der macht was mit ihm und nur mit ihm (oder mit allen anderen).
Und er kommt nicht weg, weil jedes Mal, wenn er fliehen will, wird er durch die Natur, oder die Menschen, die diese für ihre Zwecke einspannt, daran gehindert. Und in seiner Wahrnehmung verändern sich die Menschen, seine Kollegin wird zu einem Teil des Etablissements, ebenso die angereisten Vortragenden. Königsklasse wäre, wenn das nicht klar würde, ob nur er spinnt, oder das Tal alle Menschen verändert bis auf ihn.
Die Story würde ich verschlingen.

Peace, linktofink

 

Hey @linktofink,

vielen Dank für Deinen Leseeindruck, da habe ich mich sehr drüber gefreut! Die Sache mit dem Ende habe ich befürchtet, dass das den Leser raushaut, und denke schon seit einiger Zeit darüber nach. Denn, was auch immer ich mir dabei alles gedacht habe - es scheint nicht zu funktionieren.
Insofern nehme ich mit, dass ich bei Setting, Figuren, Spannungsbogen Fortschritte gemacht habe und dass ich weiterhin versuchen sollte, mich von dem inneren Zwang zu lösen, ich könnte/müsste mehrschichtige Interpretationsebenen/Anspielungen einbauen oder sogar einen kompletten Text darauf aufbauen (was meine momentanen Fähigkeiten einfach nicht hergeben).

Also bitte nicht böse sein, wenn ich (obwohl Dein Vorschlag fantastisch ist:thumbsup:) das Ende nicht umgeschrieben bekomme, da für mich die gesamte Kontruktion des Textes dran hängt und ich den Input dann lieber für die nächsten Geschichten anwenden würde.

Beste Grüße
s.

 

@sodecras

Also bitte nicht böse sein, wenn ich (obwohl Dein Vorschlag fantastisch ist:thumbsup:) das Ende nicht umgeschrieben bekomme, da für mich die gesamte Kontruktion des Textes dran hängt und ich den Input dann lieber für die nächsten Geschichten anwenden würde.
alles klar, dann kann ich die Idee ja für meine nächste Story nehmen. :D
Peace

 

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