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Der Sinn des Lebens
Der Laden war ein faszinierendes Labyrinth voller fremdartiger Objekte. Gleich zu seiner Linken sah Daradius ein metallisches Kreuz, welches als „Parathiumazid“ ausgewiesen war. Er erinnerte sich, in einer Berichterstattung davon gehört zu haben, dass diese Substanz eine Art vierpoliger Magnet sein sollte. Man konnte es für den Bau eines Perpetuum Mobile nutzen. In einiger Entfernung erkannte er einen Gegenstand, von dem er zu wissen glaubte, dass es in einem Badezimmer ein reinigendes Gewitter erzeugen könne. Sein Schwager hatte irgendwann einmal begeistert davon erzählt, der Name war Daradius allerdings entfallen. Die restlichen Dinge im Geschäft waren ihm allesamt unbekannt, jedes einzelne machte aber den Eindruck, es könne den Begriff „exotisch“ neu definieren.
Seine Neugier zog ihn an eines der Regale, auf dem ein leuchtendes Lebewesen mit unzähligen Ohren seine eigenen pulsierenden Genitalien beschnupperte. Er starrte fasziniert auf das Geschöpf, als er im Nacken einen leichten Luftzug wahrnahm. Erschrocken fuhr er herum und stand unmittelbar einem älteren Händler gegenüber, der ihn durch seinen grauen Zottelbart angrinste. Der Verkäufer musste entweder aus dem Boden oder aus der Decke geglitten sein, oder aber er hatte sich unmittelbar aus dem Äther materialisiert. In jedem Fall hatte er einen Auftritt hingelegt, der dem Geschäft, das er betrieb, allemal würdig war. „Herzlich willkommen in Harasus Exquisiter Boutique. Bitte sagen Sie mir, mit welcher exotischen, einmaligen und absolut unverwechselbaren Ware ich Sie beglücken kann.“
Erstaunt nahm Daradius wahr, dass sein Gegenüber eine Handbreit über dem Parkettboden zu schweben schien. Er zupfte verlegen an seinem Kinn, obwohl daran nicht die Spur eines Haarstoppels auszumachen war. „Ich habe Ihre Adresse von einem Freund erhalten. Mein Sohn hat in einer Woche Geburtstag und ich wollte ihm etwas Besonderes schenken.“
Der Händler nickte wissend. „Es ist wunderbar, dass Sie Ihren Filius so sehr lieben und schätzen. Ihr Freund wird Ihnen sicher auch verraten haben, dass die verschiedenen Angebote meines bescheidenen Etablissements, ihren gerechtfertigten Preis verlangen.“
Daradius erinnerte sich, wie er seinem Sohn im letzten Jahr eine Rakete als Sonderangebot aus dem Spielwarenladen mitgebracht hatte. Das Geschenk hatte sich als derart veraltet und kitschig herausgestellt, dass sein Sohn beim Öffnen unter dem Gelächter seiner Freunde förmlich zu schrumpfen begann. Das Kind war anschließend fortgerannt und hatte dann seine eigene Geburtstagsparty nur noch akustisch vom Dachboden aus wahrgenommen. Seine Frau hatte ihn damals mit ihren Blicken aufgespießt, und als sie ihm heute Morgen die Adresse diktiert hatte, klang in ihrer Stimme eine unbestimmte, unterschwellige Drohung durch.
Nachdenklich durchbohrte ihn der Händler mit seinem Blick. „Ich glaube, ich habe da etwas Wunderbares, dass Ihren Spross begeistern wird.“
„Es ist doch hoffentlich keine Spielzeugrakete oder so etwas?“
Der Händler schnaubte abfällig. „Nein, wo denken Sie hin. Es ist meine allerneueste Entwicklung auf dem Gebiet der Deterministik. Es handelt sich um ein quantenmechanisch-relativistisches Universum.“ Mit diesen Worten schwebte er eilig aus dem Raum und kehrte mit einem kleinen Kasten und einer Brille wieder. In dem Kasten befand sich eine faustgroße, schwarze Kugel.
Das Gesicht von Daradius nahm die gleichen Züge an, wie das des genitalschnüffelnden Wesens. „Es ist … nett.“
Mit einem väterlichen Seufzer schwebte der Händler näher. „Das ist ein sehr komplexes Kugelspiel, bei dem sich die Kugeln durch bestimmte Gesetzmäßigkeiten gegenseitig beeinflussen. Im Moment steht es noch still. Aber sobald man es aktiviert, wird sich diese große Kugel mit einem Knall in viele kleine Kugeln aufteilen. Diese werden wiederum durch fest eingebaute Regeln voneinander angezogen oder abgestoßen. Einige von ihnen leuchten selbständig und gemeinsam bilden sie dadurch unvorstellbar schöne Formen.“
Daradius runzelte skeptisch die Stirn. „Ich weiß nicht so recht. Haben Sie vielleicht doch irgendwelche Raketen?“
Der Händler schien ihn nicht zu beachten. „Die kleinen Kugeln werden von den großen Kugeln sehr, die großen von den kleinen nur wenig beeinflusst. Je nachdem, welche Ausgangsvoraussetzungen geschaffen werden, ergeben sich völlig unterschiedliche Entwicklungen. Ich gestalte meine Kugelspiele jeweils individuell, so dass jeder Kunde ein absolut persönliches Exemplar erhält.“ Seine Augen glänzten vor Begeisterung. „Kommen Sie! Weiter hinten habe ich ein aktives Modell aufgestellt. Ich zeige es Ihnen.“
Daradius beeilte sich, dem davonschwebenden Händler zu folgen. Nach einem kurzen Parcours durch die Verkaufsfläche schwebte dieser an einen großen, dunklen Schrank heran. „Hier, nehmen Sie die Zoombrille, um auch die Details zu erkennen.“ Er überreichte Daradius die Brille, wartete bis dieser sie aufgesetzt hatte, griff an den rechten Türknauf und zog mit einem lauten Knirschen die Tür auf. Fast zeitgleich mit der Schranktür öffnete sich auch Daradius’ Mund. In dem Schrank war eine Vielzahl kleiner, leuchtender Punkte zu sehen, die wild miteinander rangen. Sie schlossen sich zu Spiralen unterschiedlichster Größe zusammen, färbten sich in verschiedenen Nuancen zwischen gelb und rot, explodierten, implodierten, prallten funkenstobend gegeneinander, ließen andere Kugeln ohne Beleuchtung um sich kreisen und bildeten gemeinsam das Schönste, was er jemals gesehen hatte.
Der Händler sah ihn abschätzend von der Seite an. „Sie haben vielleicht weiter vorne in der Auslage einige der quantenmechanisch-relativistischen Universen gesehen, jedoch sind diese ... äh … aufgrund der großen Beliebtheit bereits reserviert. Aber Sie haben Glück. Gerade jetzt habe ich ein frisches Modell fertig gestellt. Allerdings wollte ich es eigentlich meinem eigenen Sohn schenken.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „Er liegt mir sehr am Herzen. Es ist ja so schwierig, heutzutage ein guter Vater zu sein, wissen Sie?“
Daradius glotzte noch immer mit offen stehendem Kiefer in den Schrank. Ohne den Blick abzuwenden zwang er seinen Mund dazu, die entscheidende Frage zu artikulieren. „Wieviel wollen Sie dafür?“
Kurze Zeit später verließ Daradius das Geschäft. Unter seinem Arm trug er eine Brille und einen kleinen Kasten, in dem sich eine schwarze Kugel befand. Dabei beschlich ihn das Gefühl, irgendwie über den Tisch gezogen worden zu sein.
Daradius und der Händler blickten einander fest in die Augen. „Was meinen Sie mit 'kaputt'?“, fragte der Händler. Die Atmosphäre schien um einige Grade abgekühlt zu sein.
„Das quantenmechadingsda Universum ist kaputt. Die Hälfte des Kugelspiels leuchtet nicht mehr.“ Mit einem Seufzer ließ Daradius die Schultern hängen. Er war nicht wütend, nur müde und resigniert.
Der Händler betrachtete ihn eine Weile und runzelte dann betroffen die Stirn. „War es denn von Anfang an defekt? Oder sind die Leuchtkugeln später ausgefallen?“
„Als wir es angeschaltet hatten, ist zuerst die große Kugel explodiert. Dann entfaltete sich alles, genau so wie es auch im Prospekt beschrieben war. Mein Sohn war begeistert und wir haben uns jeden Tag angesehen, wie das Universum gewachsen ist und sich entwickelt hat. Durch die Brille konnten wir alle kleinen Details heranzoomen und es gab so unglaublich viel zu sehen.“ Daradius erzählte mit ausholenden Handbewegungen, als hätte ihn das Geschenk in seine eigene Kindheit katapultiert. „Manche Kugeln hatten Ringe und andere schossen mit einem langen Leuchtschwanz an ihnen vorbei.“ Betrübt machte er eine kurze Pause. „Aber dann wurden einige der Leuchtkugeln langsam dunkler und fielen später ganz aus. Es betraf zunächst nur einen kleinen Teil, dieser wurde aber immer größer und mittlerweile leuchtet fast ein Viertel des Kugelspiels nicht mehr.“ Sein Gesicht hatte nun die Züge eines im Regen zurückgelassenen Welpens.
„Ich kann mir das nicht erklären. Bisher hat noch kein Kunde sein quantenmechanisch-relativistisches Universum beanstandet.“ Der Händler schwebte mit rücklings verschränkten Händen, langsam im Kreis herum. „Ich würde mir das gerne selbst ansehen.“ Er blieb stehen und fixierte seinen Kunden mit einem entschlossenen Blick. „Erlauben Sie mir bitte, das Kugelspiel bei Ihnen abzuholen, um es in meiner Werkstatt untersuchen zu können. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen zwischenzeitlich ein Ersatzuniversum überlassen.“
Daradius schüttelte den Kopf. „Nein, das wäre nicht das Gleiche. Mein Sohn und ich, wir haben es ja gemeinsam bei der Entwicklung beobachtet. Versuchen Sie einfach, es wieder hinzubekommen.“
Mit einem vertrauenserweckenden Nicken legte der Händler seine Hand auf Daradius’ Schulter. „Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern.“
„Nun ja, wie soll ich es am besten erklären?“ Der Händler blickte verlegen zur Seite. „Zunächst die gute Nachricht: Ich habe die Ursache für das Problem herausgefunden.“ Seine Haare, vor allem die im Bart, standen wie elektrisch aufgeladen weit voneinander ab. „Ich habe dafür intensiv in meiner Werkstatt experimentiert und geforscht.“ Zwischen den Haarspitzen meinte Daradius kleine Entladungen aufleuchten zu sehen.
„Und was ist der Grund für den Leuchtausfall? War das Quantendingsda kaputt?“
Verlegen lächelte der Händler. „Nein, das Kugelspiel hat perfekt die Vorgaben umgesetzt. Der Ausfall des Leuchtens ist eine logische Folge der Gesetzmäßigkeiten, welche in Ihrem persönlichen Universum eingestellt worden sind. Sie müssen verstehen, dass ein quantenmechanisch-relativistischer Gegenstand etwas sehr Komplexes ist und das exakte Verhalten nicht genau vorhergesagt werden kann. Es ist zwar nur eine Hand voll Ausgangswerte zu bestimmten, diese beeinflussen die Entwicklung des Universums aber ganz erheblich. Ich habe bei Ihnen eine maximale Geschwindigkeit von 299792,458 Palas, eine Gravitationskonstante von 6,6742 Faris und so weiter eingestellt. Das Fatale dabei ist, dass diese Randbedingungen aus purem Zufall zu einer unglücklichen Entwicklung führen, die ich nicht vorausgesehen hatte. Ich habe das mit einem anderen Universum exakt nachgestellt und präzise aufgezeichnet.“
Daradius kniff widerwillig die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich dachte, Sie hätten die Kugelspiele so konzipiert, dass sie leuchten. Da können Sie doch nicht einfach auf ungünstige Voraussetzungen verweisen und sich aus der Verantwortung ziehen. Vielleicht stimmt ja das komplette Konzept nicht.“
Mit einer beschwichtigenden, bei verschiedenen Reklamationen bewährten Geste versuchte der Händler ihn zu beruhigen. „Es ist nicht so, dass die Kugeln durch die gegenseitige Beeinflussung verdunkelt worden sind.“ Er wirkte etwas nervös. Kleine, verlegene Blitze funkelten in seinem Bart. „Vielmehr sind diese Kugeln durch äußere beziehungsweise innere Einflüsse sozusagen abgeschaltet worden.“
Auf Daradius’ Gesicht schien sich ein großes Fragezeichen zu formen. „Äußere Einflüsse? Innere Einflüsse? Was meinen Sie?“
Der Händler holte mit seinen Armen weit aus. „Nun ja, das Problem besteht darin, dass sich durch einen faszinierenden, absolut unwahrscheinlichen Zufall auf einer der Kugeln bestimmte Bedingungen gebildet und über längere Zeit angedauert haben, so dass darauf aus den kleinen Bausteinen eines Universums, den Atomen, stabile Moleküle entstanden sind. Diese Moleküle schlossen sich aufgrund eines weiteren Zufalls zu Organismen zusammen, welche ihrerseits durch die Leuchtstrahlung einer anderen, nahe liegenden Kugel Energie für einen kontinuierlichen Reproduktionsprozess schöpfen konnten.“
Mittlerweile zeichnete sich auf dem Gesicht von Daradius eine wachsende Kolonie von Fragezeichen ab.
„Was ich damit sagen will …“ Er räusperte sich kurz. „Durch eine Kette von Zufällen ist in ihrem Universum Leben entstanden.“
Daradius schüttelte leicht den Kopf. „Leben? Sie meinen, dass sich in meinem Universum ein Schimmel entwickelt hat?“
„Ja, so ungefähr. Zuerst einfache, kleine Organismen. Dann waren es größere Organismen und schließlich entwickelte sich sogar intelligentes Leben. Diese intelligenten Lebensformen bildeten Zivilisationen und entwickelten sogar verschiedene Religionen. In den meisten Fällen glaubten sie an einen Schöpfer, der die Ursache für ihre Existenz sei.“ Der Händler streckte sich gerade, schwebte eine Elle höher und lächelte stolz. „Damit müssen sie offenbar mich gemeint haben.“ Jetzt schien es nicht nur in seinen Haaren, sondern auch in seinen Augen zu funkeln.
„Schön, dann gibt es eben einen Schimmelbewuchs an meinem Kugelspiel. Aber warum sind dann die Lichter ausgegangen?“
„Nun, die intelligenten Lebewesen haben zunächst intensive Kriege miteinander ausgefochten, und sie hätten sich dabei fast selbst ausgerottet, was ja eigentlich noch in Ordnung gewesen wäre. Aber dann hörten sie damit auf und versöhnten sich. Diese Geschöpfe waren überzeugt, dass ich sie zu einem bestimmten Zweck erschaffen hatte und sie befanden, dass der Sinn des Lebens darin bestünde, … „ Er blickte Daradius vorsichtig in die Augen. „ … friedlich miteinander zu leben, mir hin und wieder zu huldigen und das Leben bestmöglich zu genießen.“
Es war förmlich zu sehen, wie sich in Daradius’ Gedanken eine Erkenntnis bildete. “Erzählen Sie weiter.“ Er sah den Händler scharf an.
„Sie fanden Möglichkeiten, ihre Kugel zu verlassen und streuten über das gesamte Universum aus. Ihre Lebensführung erforderte immer mehr Energie und da sie es sich überflüssigerweise auch in den Kopf gesetzt hatten, sich zu vermehren, potenzierte sich das Problem mit jedem Reproduktionszyklus. Sie gingen dazu über, alle erdenklichen Energiequellen anzuzapfen und stürzten sich irgendwann auch auf die schönen Leuchtkugeln und schöpften sie aus.“
Die Miene von Daradius hatte eine gnadenlose Härte angenommen. „Ich verstehe. Dieser Schimmel hat also nach einem Lebensinhalt gesucht und fand nichts dabei, währenddessen das Geschenk meines Sohnes zu zerstören. Mein Geschenk!“ Wie ein revierverteidigender Primat hieb er mit seiner Hand zweimal kurz auf die Brust. „Ich finde, wenn die Energie wollen, dann sollten sie selbst zusehen, wo sie ihr eigenes Universum kaufen können.“ Er dachte er kurz nach. „Was kann man denn gegen diese Viecher machen?“
Der Händler lächelte gutmütig. „Keine Sorge, ich werde mich des Problems annehmen. Während meiner Analyse habe ich hinten in der Werkstatt ein Strahlenspray konzipiert, mit dem ich Ihr Universum wieder desinfizieren kann. Wenn Sie es wollen, kann ich es herstellen, anwenden und das Kugelspiel bereits in wenigen Tagen zurückliefern.“
Ein hoffnungsfrohes Lächeln schlich sich zögerlich auf Daradius’ Antlitz. „Das hört sich sehr gut an.“
Der Händler hob den Zeigefinger. „Ich möchte aber zu bedenken geben, dass dies moralisch nicht ganz einwandfrei ist.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. Dann beugte er sich verschwörerisch herunter. „Eigentlich habe ich in diesem Geschäft keine Lizenz zur Herstellung von Desinfektionsmitteln. Es bedarf für mich einer großen Überwindung, um mit meinem Händlerkodex zu brechen.“
Daradius seufzte tief. „Okay, was soll es denn kosten?"