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Der Vorhang
In diesem sterilen Hotelzimmer am Bahnhof gab es tatsächlich ein Telefonbuch. Und eine Bibel. Ein Telefonbuch neben dem Fernseher und eine Bibel in der Nachttischschublade. Bibeln sah er in Hotelzimmern oft. Er hatte nie eine aufgeschlagen, aber an den Anblick war er gewöhnt. Aber ein Telefonbuch? Wer benutzte heute noch Telefonbücher? Hatte es, als Leute noch Telefonbücher benutzten, diese in Hotelzimmern gegeben? Er wusste es nicht.
Er erhob sich langsam von den sauer nach Reinigungsmitteln riechenden Laken. Er fuhr sich mit der Hand über den nackten, vorstehenden Bauch, er fuhr über das weiße Hemd, das er über die Stuhllehne gebreitet hatte. Wie man sie auch rollte und faltete, im Koffer zerknitterten Hemden doch. Der Einband des Telefonbuches war ebenfalls zerknittert. Er war mattgelb und Falten zogen sich grau wie ein Flussdelta hindurch. Alles fließt zur Quelle, sagte er in seinem Kopf und merkte dann, dass das Unsinn war.
Er nahm das Buch in die Hand und fand es schwer. Er trat damit ans Fenster, zog den beigen Vorhang etwas zur Seite und spähte hinaus. Niesel sprühte schräg gegen die Scheibe. Menschen eilten durchs Zwielicht, in den Bahnhof hinein, aus dem Bahnhof heraus. So viele Menschen. Aus einer Laune schlug er das Telefonbuch auf. So viele Namen.
Ein Gedanke formte sich in seinem Geist. Wenn ihr Name nun in diesem Buch stand? Seltsam, so lange hatte er an sie nicht gedacht und dieses vergilbte Buch weckte nun die Erinnerung. Er schlug das Telefonbuch auf und sein Finger glitt die Seite hinab. Da stand ihr Name. Einfach so, alphabetisch korrekt, an der richtigen Stelle, unter all den anderen – einer von tausenden. Nachname, Vorname. Die Adresse war noch die gleiche, dieselbe, nach all diesen Jahren. Bilder erschienen vor seinen Augen. Ein schmaler Vorgarten, ein gedrungenes Haus mit schiefen Schindeln und fahlen Fensterläden. Der riesige Walnussbaum im Garten dahinter breitete seine Krone über das Dach. Hinter der Adresse, einfach so, eine Telefonnummer.
Das Telefonbuch war alt. War die Nummer noch aktuell? Gab es den Anschluss noch – und das kleine Haus unterm Walnussbaum, ganz am Ende der kopfsteinpflasternen Straße? Oder war die Straße längst begradigt und asphaltiert, das Haus abgerissen und das Grundstück planiert? Wohnte sie immer noch dort? Lebte sie noch? Er zog sein Telefon aus der Tasche und wählte.
Es klingelte. Es klingelte eine halbe Ewigkeit. Er schüttelte den Kopf. Dann knackte es in der Leitung.
„Ja, hallo?“
Das Telefon in seiner Hand, an seinem Ohr wurde glühend heiß.
„Wer ist denn da?“
Die Stimme war fremd. Sie klang flach und dumpf, wie von unendlich weit her.
„Hallo?“
Es rauschte in der Leitung.
„Hallo“, antwortete er endlich.
„Mit wem spreche ich denn?“ Das Rauschen in der Leitung nahm zu. Es leckte über die leise Stimme wie die Wellen eines unruhigen Meeres über den Strand.
„Rede ich mit Eveline Strauss?“, fragte er.
Eine Pause. „Ja. Aber wer ist denn da?“ Es war ihre Stimme. Nur älter, schwankend. Die Stimme einer alten Frau. Sein Kopf war wie leergefegt.
„Wie geht es dir?“ Die Frage kam wie von selbst. Er hörte seine eigene Stimme weich werden.
Schweigen am anderen Ende. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer hellen Hand mit langen, eleganten Fingern, die nervös mit einem Telefonkabel spielte. Das hatte sie früher immer getan, diese niemals ruhende Hand, wenn ihre Besitzerin telefonierte, in diesem engen Wohnzimmer in diesem alten Haus unter dem Walnussbaum. Ein Schatten fiel über sein inneres Bild und die Hand verwandelte sich: Blaue Adern traten hervor und die Haut färbte sich dunkel mit Altersflecken.
„Warum wollen Sie das wissen?“ Ihre Stimme verhärtete sich. Argwohn schlich sich hinein.
Aber jetzt konnte er den Fragen nicht mehr Einhalt gebieten: „Hängt die Schaukel noch am Walnussbaum? Steht der Walnussbaum noch?“
Das Rauschen füllte die folgende Stille. Im Hintergrund waren Geräusche zu hören, Schritte. Waren es ihre Schritte? Wurde im Hintergrund aufgeräumt? Es klingelte und klirrte dumpf. War das Besteck, Geschirr?
„Der Waaalnussbaum“, sagte sie langsam. Er stellte sich vor, wie ihr Körper sich drehte und der Blick sich zum Fenster hinaus wandte. Aber die Antwort gab sie ihm nicht.
Er hörte überdeutlich ihr Atmen. Er hörte seinen eigenen Atem.
Dann eine andere Stimme im Hintergrund, die er nicht verstand. Eine Frauenstimme? Hatte er die Worte Frau Strauss gehört? Ein lauteres Rauschen, als eine Hand gegen die Sprechmuschel gelegt wurde. Sie antwortete etwas. Dann Bewegung und wieder Schritte.
„Sie müssen mir jetzt aber sagen, wer da ist!“ Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton. Hatte sie ihn bereits erkannt?
Die andere Stimmt im Hintergrund sagte wieder etwas.
„Peter“, schoss es aus ihm heraus. Sein Körper gefror vom Haaransatz bis zu den Zehen zu Eis. „Hier ist Peter.“
Es gab ein Geräusch als atmete sie scharf ein. Vielleicht war es auch nur ein Knacken in der Leitung.
„Peeeter“, sagte sie wieder auf diese seltsam gedehnte Art. So hatte sie früher nicht geredet. „Ich kenne keinen Peter.“
Die mattweißen Wände des Hotelzimmers rückten ganz dicht an ihn heran. Ihm trat Schweiß auf die Stirn. Verwirrung, gepaart mit einer alten, vergessen geglaubten Wut stieg schwarz in ihm. „Peter Strauss“, sagte er.
„Paule?“, fragte sie. Ihre Stimme hellte sich auf. „Paule, bist du das? Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“
Sein Kopf sank nach vorn. Er legte die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Paul, nach ihrem Großvater benannt, war ihr großer Bruder. Er kannte ihn nur von einem alten Foto, Paule auf seinem Rennrad vor einem blau leuchtenden Bergsee. Als sie dreizehn und Paul sechzehn gewesen war, war er auf demselben Fahrrad von einem Lastwagen erfasst worden.
„Peter.“ Er sprach jetzt sehr laut. „Hier ist Pe-ter.“
Laute als öffnete sie einmal, zwei Mal den Mund. Ihr Atem schien schneller zu gehen.
Wieder sagte die fremde Frauenstimme im Hintergrund etwas. Wieder wurde die Hand vor die Sprechmuschel gelegt. Bewegung. Rauschen. Worte wurden am anderen Ende getauscht.
Die Hand wurde von der Muschel genommen. Plötzlich klang ihre Stimme ganz klar. Das Rauschen war fast völlig verschwunden. „Sie müssen sich verwählt haben. Bitten rufen Sie hier nicht mehr an.“ Eine Pause, ein Knacken. Dann schob sie nach: „Es tut mir leid.“ Die Verbindung wurde beendet.
Seine Hand sank herab. Das Telefon flog aufs Bett. Er fuhr sich mit der Hand über die hohe, feuchte Stirn. Er fuhr sich über den vorstehenden Bauch.
Er legte die Fingerkuppen an die Scheibe. Der Nieselregen hatte aufgehört und die Sonne blitzte zwischen grauen Wolken hindurch auf das Glasdach des Bahnhofs. Menschen falteten Regenschirme zusammen und lachten. Er zog den beigen Vorhang lückenlos zu.
„Mir auch“, sagte er dann. In seinem Zimmer war es vollkommen still.