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Der Vorhang

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13.01.2012
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Der Vorhang

In diesem sterilen Hotelzimmer am Bahnhof gab es tatsächlich ein Telefonbuch. Und eine Bibel. Ein Telefonbuch neben dem Fernseher und eine Bibel in der Nachttischschublade. Bibeln sah er in Hotelzimmern oft. Er hatte nie eine aufgeschlagen, aber an den Anblick war er gewöhnt. Aber ein Telefonbuch? Wer benutzte heute noch Telefonbücher? Hatte es, als Leute noch Telefonbücher benutzten, diese in Hotelzimmern gegeben? Er wusste es nicht.
Er erhob sich langsam von den sauer nach Reinigungsmitteln riechenden Laken. Er fuhr sich mit der Hand über den nackten, vorstehenden Bauch, er fuhr über das weiße Hemd, das er über die Stuhllehne gebreitet hatte. Wie man sie auch rollte und faltete, im Koffer zerknitterten Hemden doch. Der Einband des Telefonbuches war ebenfalls zerknittert. Er war mattgelb und Falten zogen sich grau wie ein Flussdelta hindurch. Alles fließt zur Quelle, sagte er in seinem Kopf und merkte dann, dass das Unsinn war.
Er nahm das Buch in die Hand und fand es schwer. Er trat damit ans Fenster, zog den beigen Vorhang etwas zur Seite und spähte hinaus. Niesel sprühte schräg gegen die Scheibe. Menschen eilten durchs Zwielicht, in den Bahnhof hinein, aus dem Bahnhof heraus. So viele Menschen. Aus einer Laune schlug er das Telefonbuch auf. So viele Namen.
Ein Gedanke formte sich in seinem Geist. Wenn ihr Name nun in diesem Buch stand? Seltsam, so lange hatte er an sie nicht gedacht und dieses vergilbte Buch weckte nun die Erinnerung. Er schlug das Telefonbuch auf und sein Finger glitt die Seite hinab. Da stand ihr Name. Einfach so, alphabetisch korrekt, an der richtigen Stelle, unter all den anderen – einer von tausenden. Nachname, Vorname. Die Adresse war noch die gleiche, dieselbe, nach all diesen Jahren. Bilder erschienen vor seinen Augen. Ein schmaler Vorgarten, ein gedrungenes Haus mit schiefen Schindeln und fahlen Fensterläden. Der riesige Walnussbaum im Garten dahinter breitete seine Krone über das Dach. Hinter der Adresse, einfach so, eine Telefonnummer.
Das Telefonbuch war alt. War die Nummer noch aktuell? Gab es den Anschluss noch – und das kleine Haus unterm Walnussbaum, ganz am Ende der kopfsteinpflasternen Straße? Oder war die Straße längst begradigt und asphaltiert, das Haus abgerissen und das Grundstück planiert? Wohnte sie immer noch dort? Lebte sie noch? Er zog sein Telefon aus der Tasche und wählte.
Es klingelte. Es klingelte eine halbe Ewigkeit. Er schüttelte den Kopf. Dann knackte es in der Leitung.
„Ja, hallo?“
Das Telefon in seiner Hand, an seinem Ohr wurde glühend heiß.
„Wer ist denn da?“
Die Stimme war fremd. Sie klang flach und dumpf, wie von unendlich weit her.
„Hallo?“
Es rauschte in der Leitung.
„Hallo“, antwortete er endlich.
„Mit wem spreche ich denn?“ Das Rauschen in der Leitung nahm zu. Es leckte über die leise Stimme wie die Wellen eines unruhigen Meeres über den Strand.
„Rede ich mit Eveline Strauss?“, fragte er.
Eine Pause. „Ja. Aber wer ist denn da?“ Es war ihre Stimme. Nur älter, schwankend. Die Stimme einer alten Frau. Sein Kopf war wie leergefegt.
„Wie geht es dir?“ Die Frage kam wie von selbst. Er hörte seine eigene Stimme weich werden.
Schweigen am anderen Ende. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer hellen Hand mit langen, eleganten Fingern, die nervös mit einem Telefonkabel spielte. Das hatte sie früher immer getan, diese niemals ruhende Hand, wenn ihre Besitzerin telefonierte, in diesem engen Wohnzimmer in diesem alten Haus unter dem Walnussbaum. Ein Schatten fiel über sein inneres Bild und die Hand verwandelte sich: Blaue Adern traten hervor und die Haut färbte sich dunkel mit Altersflecken.
„Warum wollen Sie das wissen?“ Ihre Stimme verhärtete sich. Argwohn schlich sich hinein.
Aber jetzt konnte er den Fragen nicht mehr Einhalt gebieten: „Hängt die Schaukel noch am Walnussbaum? Steht der Walnussbaum noch?“
Das Rauschen füllte die folgende Stille. Im Hintergrund waren Geräusche zu hören, Schritte. Waren es ihre Schritte? Wurde im Hintergrund aufgeräumt? Es klingelte und klirrte dumpf. War das Besteck, Geschirr?
„Der Waaalnussbaum“, sagte sie langsam. Er stellte sich vor, wie ihr Körper sich drehte und der Blick sich zum Fenster hinaus wandte. Aber die Antwort gab sie ihm nicht.
Er hörte überdeutlich ihr Atmen. Er hörte seinen eigenen Atem.
Dann eine andere Stimme im Hintergrund, die er nicht verstand. Eine Frauenstimme? Hatte er die Worte Frau Strauss gehört? Ein lauteres Rauschen, als eine Hand gegen die Sprechmuschel gelegt wurde. Sie antwortete etwas. Dann Bewegung und wieder Schritte.
„Sie müssen mir jetzt aber sagen, wer da ist!“ Ihre Stimme hatte einen flehenden Unterton. Hatte sie ihn bereits erkannt?
Die andere Stimmt im Hintergrund sagte wieder etwas.
„Peter“, schoss es aus ihm heraus. Sein Körper gefror vom Haaransatz bis zu den Zehen zu Eis. „Hier ist Peter.“
Es gab ein Geräusch als atmete sie scharf ein. Vielleicht war es auch nur ein Knacken in der Leitung.
„Peeeter“, sagte sie wieder auf diese seltsam gedehnte Art. So hatte sie früher nicht geredet. „Ich kenne keinen Peter.“
Die mattweißen Wände des Hotelzimmers rückten ganz dicht an ihn heran. Ihm trat Schweiß auf die Stirn. Verwirrung, gepaart mit einer alten, vergessen geglaubten Wut stieg schwarz in ihm. „Peter Strauss“, sagte er.
„Paule?“, fragte sie. Ihre Stimme hellte sich auf. „Paule, bist du das? Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?“
Sein Kopf sank nach vorn. Er legte die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Paul, nach ihrem Großvater benannt, war ihr großer Bruder. Er kannte ihn nur von einem alten Foto, Paule auf seinem Rennrad vor einem blau leuchtenden Bergsee. Als sie dreizehn und Paul sechzehn gewesen war, war er auf demselben Fahrrad von einem Lastwagen erfasst worden.
„Peter.“ Er sprach jetzt sehr laut. „Hier ist Pe-ter.“
Laute als öffnete sie einmal, zwei Mal den Mund. Ihr Atem schien schneller zu gehen.
Wieder sagte die fremde Frauenstimme im Hintergrund etwas. Wieder wurde die Hand vor die Sprechmuschel gelegt. Bewegung. Rauschen. Worte wurden am anderen Ende getauscht.
Die Hand wurde von der Muschel genommen. Plötzlich klang ihre Stimme ganz klar. Das Rauschen war fast völlig verschwunden. „Sie müssen sich verwählt haben. Bitten rufen Sie hier nicht mehr an.“ Eine Pause, ein Knacken. Dann schob sie nach: „Es tut mir leid.“ Die Verbindung wurde beendet.
Seine Hand sank herab. Das Telefon flog aufs Bett. Er fuhr sich mit der Hand über die hohe, feuchte Stirn. Er fuhr sich über den vorstehenden Bauch.
Er legte die Fingerkuppen an die Scheibe. Der Nieselregen hatte aufgehört und die Sonne blitzte zwischen grauen Wolken hindurch auf das Glasdach des Bahnhofs. Menschen falteten Regenschirme zusammen und lachten. Er zog den beigen Vorhang lückenlos zu.
„Mir auch“, sagte er dann. In seinem Zimmer war es vollkommen still.

 

Hola @Meridian,

ein Text, so dachte ich, wie ein Gemälde. Wie ein Hopper.
Gut getroffen! Mehr Flash Fiction als Kurzgeschichte, aber das trübt das Lesevergnügen keineswegs.
Das beginnt gleich am Anfang:

Niesel sprühte schräg gegen die Scheibe. Menschen eilten durchs Zwielicht, in den Bahnhof hinein, aus dem Bahnhof heraus. So viele Menschen.
Klasse.

Hier allerdings ...

Aus einer Laune schlug er das Telefonbuch auf. Auch in dem Buch waren viele Menschen. Deshalb war es so schwer.
... bekomme ich Schluckauf.

Der riesige Wallnussbaum ...
Das Rauchen war fast völlig verschwunden.

Er legte die Fingerkuppen an die Scheibe. Der Nieselregen hatte aufgehört und die Sonne blitzte zwischen grauen Wolken hindurch auf das Glasdach des Bahnhofs. Menschen falteten Regenschirme zusammen und lachten. Er zog den beigen Vorhang lückenlos zu.

Prima gemacht, mMn. Dein Ende erzeugt das gleiche Gefühl wie der letzte Blick auf einen Hopper.

Gern gelesen & schöne Grüße!
José

 

Hi José,

Ich bin etwas erschrocken, dass ich bisher nicht wusste, wie man Walnuss schreibt. ;) Es freut mich aber, dass dir diese Sehr-Kurzgeschichte gut gefallen hat. Der Hopper-Vergleich freut mich, da das wirklich stark in die Richtung geht, die ich abbilden wollte. Die von dir monierte Stelle habe ich angepasst, da ich dir rechtgeben muss. Ich denke, das fließt jetzt etwas besser.

Danke dir fürs Lesen und die Kritik!


Hallo Rob,

Auch dir vielen Dank fürs Reinschauen! Schön dass die Stimmung rübergekommen ist. Ich finde es interessant, dass du die Story als Geschichte einer vergangenen Liebe liest. Das ist nicht die Interpretation, die ich im Kopf hatte - aber ich habe es ja auch bewusst vage gehalten. Deshalb finde ich es eigentlich umso schöner, dass die Geschichte für dich auch mit dieser Perpektive gut funktioniert.

Über die Sache mit dem "er" muss ich noch mal nachdenken, wenn der Text für mich etwas weiter weg ist. Teilweise ergibt sich das natürlich daraus, dass die Erzählstimme den Protagonisten nie beim Namen nennt. Danke noch mal fürs Lesen!

Schöne Grüße
Meridian

 

Hola @Meridian,

Du schreibst an @Rob F:

... dass du die Story als Geschichte einer vergangenen Liebe liest. Das ist nicht die Interpretation, die ich im Kopf hatte –

Ei, das hätte ich nicht erwartet. Denn auch ich interpretiere Deinen Text wie Rob F:
Rob F: schrieb:
... ein kurzer, aber intensiver Text über das Älterwerden, Einsamkeit, eine vergangene Liebe ... und eine Demenzerkrankung (?)
Ich hätte sogar das Fragezeichen nicht gebraucht, weil ich mir sicher war (schließlich kann ihr tödlich verunglückter Bruder nicht am Telefon sein). Und es wird doch kein Zufall sein, dass Evelin Strauss den gleichen Familiennamen trägt wie Peter?

Was ich nicht verstehe, ist der mMn unmotivierte Wechsel von Evelins Stimme:

„Der Waaalnussbaum“, sagte sie langsam.
„Peeeter“, sagte sie ... ... „Ich kenne keinen Peter.“
Es war ihre Stimme. Nur älter, schwankend. Die Stimme einer alten Frau.

Doch unversehens ändert sich das um 18o Grad:

Plötzlich klang ihre Stimme ganz klar
Das Fette leuchtet mir nicht so recht ein, was ist die Ursache für diesen abrupten Wechsel?
Und für diese Entschiedenheit, das Resolute - das ist doch eine ganz forsche Ansage:
„Sie müssen sich verwählt haben. Bitten rufen Sie hier nicht mehr an.“

„Sie müssen mir jetzt aber sagen, wer da ist!“
Eine Pause. „Ja. Aber wer ist denn da?“ Es war ihre Stimme.

Für das Kursive finde ich keine Erklärung.

Vielleicht könntest Du ein bisschen für Erhellung sorgen, sagst ja selbst:

... ich habe es ja auch bewusst vage gehalten.

Kein Problem – es hat allerdings bei Rob F und bei mir nicht funktioniert.
Bitte lass uns nicht hängen und klär uns auf; Du weißt als Einziger, wie der Text zu deuten ist.
Interessante Sache!

José
PS:
„Warum wollen Sie das Wissen?“

 

Hallo Rob, hallo José,

Dann will ich mich mal um etwas Aufklärung bemühen. ;)

Kein Problem – es hat allerdings bei Rob F und bei mir nicht funktioniert.
Bitte lass uns nicht hängen und klär uns auf; Du weißt als Einziger, wie der Text zu deuten ist.
Interessante Sache!

Wobei ich vorausschicken möchte, dass ich das wahrlich nicht als Nachteil empfinde, nicht mal sagen würde, dass das bedeutet, dass der Text in dieser Hinsicht nicht funktioniert. Ich hatte zu der Geschichte wirklich erst die Szene und Teile des Dialogs. Die genaue Konstellation, die ich im Kopf hatte, habe ich mir dann erst als Folie hinzugenommen. Es ist aber erwünscht, dass der Leser hier mutmaßen kann / muss.

Ich würde auch nicht sagen, dass meine Interpretation richtiger sein muss als eure, nur weil ich zufällig der Autor bin. Der Text ist ja jetzt so in der Welt und wenn es in der Kunst demokratisch zuginge, könntet ihr mich überstimmen. ;)

Vielleicht enttäusche ich mit der Enthüllung jetzt aber auch, weil es in einem gewissen Sinne schon um eine vergangene Liebe geht, nur nicht um eine romantische. In meinem Kopf ist der Erzähler der entfremdete Sohn von Eveline. Punkte im Text, die ich als Indizien deuten würde: der Gedankenfetzen des Erzählers "alles fließt zur Quelle", bevor er die Nummer sucht; und dass eins seiner stärksten Erinnerungsbilder eine Schaukel darstellt.

Zuletzt wollte ich es ebenfalls offen lassen, ob sich Eveline vielleicht doch (auf einer gewissen Ebene) an den Anrufer erinnert und die Erinnerung verdrängt, bzw. nicht mit ihm reden will. So ist ihre relative Resolutheit am Ende zu sehen. Aber wie gesagt: Auch das sollte nur anklingen.

Schöne Grüße
Meridian

 

Hey Meridian,

jetzt hat es doch noch etwas länger gedauert. Wie auch immer :-) Der Text liest sich flüssig. Keine groben Stil- oder Perspektivfehler. Show-dont-tell stimmt teilweise, ein paar Detailansichten gibt es auch und das Ganze ist mit einer gewissen Einfühlsamkeit erzählt.
Woran man was machen könnte, wäre erstmal dieses Show-dont-tell richtig stimmig zu bekommen. Du zeigst ja viel in Reaktionen und lässt auch Leerstellen, die vom Leser gefüllt werden können, das finde ich gut. Hier hast du aber an zwei Stellen regelrechte Rückblenden, die sich zumindest für mich nicht in die Szene fügen, die würde ich versuchen, anders zu integrieren:

Paul, nach ihrem Großvater benannt, war ihr großer Bruder. Er kannte ihn nur von einem alten Foto, Paule auf seinem Rennrad vor einem blau leuchtenden Bergsee. Als sie dreizehn und Paul sechzehn gewesen war, war er auf demselben Fahrrad von einem Lastwagen erfasst worden.
Vor seinem inneren Auge entstand das Bild einer hellen Hand mit langen, eleganten Fingern, die nervös mit einem Telefonkabel spielte. Das hatte sie früher immer getan, diese niemals ruhende Hand, wenn ihre Besitzerin telefonierte, in diesem engen Wohnzimmer in diesem alten Haus unter dem Walnussbaum.

Das zweite wären Ausdrucksweise und Sprachbilder, die du benutzt, da sehe ich Potential:

Die Frage sprudelte einfach so aus seinem Mund hervor, weil sein Kopf wie leergefegt war.

Aus dem 'Mund hervorsprudeln' wie auch der 'leergefegte Kopf' sind zwei sehr häufige genutzte und daher auch etwas abgegriffene Metaphern. Da gibt es immer einen frischeren Ausdruck.

Ein Gedanke blitzte in seinem Kopf auf wie ein Scheinwerfer in der Nacht.

Das 'Gedanke blitzt auf' gehört in dieselbe Kategorie. Der Vergleich ist stimmig, aber ich würde keine Vergleiche benutzen, die nicht auch etwas mit der Geschichte oder der Figur zu tun haben und eben mehr tun, als ein Vergleichsbild zu schaffen.

sagte er in seinem Kopf

Das kommt mir nicht schlüssig vor. Wie soll er etwas in seinem Kopf sagen?

So viele Menschen. Aus einer Laune schlug er das Telefonbuch auf. So viele Namen.

Das passt schon als Stilmittel. Hier sind die Teile etwas weit auseinandergerückt, sodass beim Lesen nicht mehr zweifelsfrei gesagt werden kann, ob das eine stilmäßige Wiederholung ist oder eine Flüchtigkeit beim Schreiben, dass also derselbe Ausdruck nochmal verwendet wurde ohne Absicht. Deswegen würde ich die drei Sätze entweder parataktisch verbinden oder den Mittelsatz kürzen.

Die Stimme war fremd.

auch das kommt mir unschlüssig vor. Die Stimme IST ja nicht fremd. Sie kommt ihm so vor.

Die Stimme war fremd. Sie klang flach und dumpf, wie von unendlich weit her.
„Hallo?“
Es rauschte in der Leitung.

Das ist mir unklar. Bis dahin dachte ich, war außer einem Rauschen noch gar keine Stimme zu hören.

Ein kleiner Ritt durch deinen Text, Meridian. Nimm dir von den Anmerkungen, was du gebrauchen kannst.

Gruß
Carlo

 

Hallo Meridian,

schöner intensiver, nachdenklicher Text. Sehr stimmungsvoll und atmosphärisch dicht geschrieben. Wie eine schwarz-weiß Fotografie aus den 60ern Jahren eines New Yorker Hotelzimmers. Anbei ein paar kleinere Anmerkungen.

LG
Asha Anderswo

Hatte es, als Leute noch Telefonbücher benutzten, diese in Hotelzimmern gegeben? Er wusste es nicht.
Der letzte Satz ist überflüssig. Sonst müsste er sich vorher nicht die Frage stellen. ;-)

Er erhob sich langsam von den sauer nach Reinigungsmitteln riechenden Laken.
Evtl. "säuerlich". Evtl. geht auch ohne sauer, nur Reinigungsmittel, das bringt schon gewisse Assoziationen.

Er fuhr sich mit der Hand über den nackten, vorstehenden Bauch, er fuhr über das weiße Hemd, das er über die Stuhllehne gebreitet hatte.
Könnte entfallen.

Wie man sie auch rollte und faltete, im Koffer zerknitterten Hemden doch.
Da du dich auf die Hemden beziehst, würde es Sinn machen, sie als erste zu erwähnen.
...die Hemden zerknitterten im Koffer doch.

Ein Gedanke blitzte in seinem Kopf auf wie ein Scheinwerfer in der Nacht.
Finde die Analogie etwas zu stark, zu betont. Es sei denn, ihm ist gerade die Relativitätstheorie eingefallen. ;-)

Er ließ die Hand sinken. Er warf das Telefon aufs Bett. Er fuhr sich mit einer Hand über die hohe, feuchte Stirn. Er fuhr sich über den vorstehenden Bauch.
Er legte die Fingerkuppen an die Scheibe.
5 Sätze, die mit "er" beginnen. Vielleicht etwas zu viel?

In seinem Zimmer war es vollkommen still.
Das "vollkommen" würde ich rausnehmen. Statt die Stille zu verstärken, schwächt es sie eher ab.

 

Ich erinnere mich noch gut an Dukkha , die Geschichte eines ... Verirrten, @Meridian.

An diesen Text dachte ich, als du mir Peter vorstelltest, wie er in diesem verlorenen Hotelzimmer am Bahnhof sitzt, in Beige und Braun, düster und schmuddelig, veraltet, als wäre die Zeit stehengeblieben. So kommt mit dieser Protagonist auch vor. Nirgendwo anders angekommen, als in diesem Moment an diesem elenden Ort. Und ich will gar nicht so genau wissen, wer er ist, wieso er hier ist, was er vorhat, woher er kommt, denn mein Hirn erfindet augenblicklich Bilder und eigene Geschichten um ihn herum. Die Langsamkeit der Erzählung baut Spannung auf und erwarte ... na, irgendetwas. Das Telefonat führt mich dann in die Vergangenheit, wobei mir der Gedanke nicht kommt, dass das der Grund seines Aufenthaltes ist, denn Eveline hätte er ja auch von überall aus anrufen können. Wenn er ihretwegen in dieser Stadt gewesen wäre, hättest du die Geschichte vor ihrem Haus spielen lassen können. (so denke ich es mir zumindest :shy:)

Seltsam, so lange hatte er an sie nicht gedacht und dieses vergilbte Buch weckte nun die Erinnerung. Er schlug das Telefonbuch auf und sein Finger glitt die Seite hinab. Da stand ihr Name. Einfach so, alphabetisch korrekt, an der richtigen Stelle, unter all den anderen – einer von tausenden. Nachname, Vorname.

okay, an der Passage liegt es wohl auch. :D

Nein. Dieser Mann weiß nicht wohin mit sich und seinem Leben. Wusste es nie. Handelt von einem Moment zum anderen, weil er es bis hierher und sonst nirgendwohin geschafft hat. (bös, nicht wahr? :D) Aber das hast du mit dem Aufbau, der so viel Patz zwischen den Zeilen lässt, bei mir ausgelöst. Was soll ich machen?

Es steht wohl noch schlechter um ihn, als ich vermutet hatte. Der hat ü-ber-haupt gar keinen Grund, in diesem Hotel zu sein. So. Peter ist ein Petros, ein Stein, schwer zu bewegen, wo er steht steht er eben. Der war schon immer in diesem Hotelzimmer. Draußen ändert sich ständig etwas: das Wetter wechselt, die Menschen bewegen sich von einem Ort zum anderen, passen sich den Verhältnissen an (naja, bildlich hier nur Regenschirm auf und wieder zu), aber Peter lässt demonstrativ das Leben draußen, vergräbt sich hinter dem Vorhang.

Könnte sein. Oder eben nicht. ;)

Vielen Dank für diesen Ausflug und lieber Gruß, Kanji

 

Hallo Carlo,

Mit meiner Antwort hat es jetzt noch mal deutlich länger gedauert - aber ich habe mich über den Kommentar gefreut, insbesondere darüber, dass du mich auf die verbliebenen, ausgenudelten Sprachbilder (hervorspurdelnde Worte, Gedankenblitze) hingewiesen hast. Ich kann mich tatsächlich erinnern, dass ich an den Stellen beim Schreiben stockte, weil mir keine gute Formulierung einfiel und dann dachte: "Ach, das schreibst du jetzt erst mal so, passt schon." Nicht gut genug. ;) Die Stellen sind entsprechend überarbeitet. Sehr aufmerksam gelesen, danke!


Hallo Asha,

Auch die meinen Dank fürs Lesen und deine Anmerkungen, von denen ich einige (insbesondere gegen Ende des Textes) übernommen habe. Schön insbesondere, dass die Stimmung, um die es mir ging, bei dir angekommen ist. :)


Hi Kanji,

Schön mal wieder von dir zu lesen - und auch dass meine andere Story dir noch präsent ist! Deine Assoziationen zu Peter habe ich gerne gelesen. An den biblischen Namensvetter mit dem Fels habe ich zwar nicht gedacht, aber sonst sehe ich das ähnlich: Peter ist ein Verirrter und sein Aufenthalt in diesem Hotelzimmer ist, wenn auch nicht grund- , so wohl doch sinnlos. Jedenfalls hat er nichts mit Eveline zu tun. In meiner Vorstellung ist Peter geschäftlich in der Stadt. Was genau er tut (Verkaufsaußendienst, Verwaltungsfachmann, Kaufmann) interessiert uns nicht - und ihn, zu diesem Zeitpunkt nur noch einige Jahre vom Ruhestand getrennt, im Grunde wohl auch nicht.

Verirrt, schlafwandelnd, ziellos und uferfern ... Ja, so in etwa darf man ihn sich vorstellen.

 

Hallo Meridian,
interessante und atmosphärische Geschichte.

hier ein paar Dinge, die mir aufgefallen sind:

Er nahm das Buch in die Hand und fand es schwer.
da „schwer finden“ dialektisch uneindeutig ist, würde ich hier eher „empfand das Buch als schwer“ schreiben

Hinter der Adresse, einfach so, eine Telefonnummer.
Das verwundert in einem Telefonbuch nicht, das „einfach so“ stört deshalb.

Die Stimme war fremd. Sie klang flach und dumpf, wie von unendlich weit her.
„Hallo?“
Es rauschte in der Leitung.
„Hallo“, antwortete er endlich.
„Mit wem spreche ich denn?“ Das Rauschen in der Leitung nahm zu. Es leckte über die leise Stimme wie die Wellen eines unruhigen Meeres über den Strand.
„Rede ich mit Eveline Strauss?“, fragte er.
Eine Pause. „Ja. Aber wer ist denn da?“ Es war ihre Stimme. Nur älter, schwankend. Die Stimme einer alten Frau. Sein Kopf war wie leergefegt.
„Wie geht es dir?“ Die Frage kam wie von selbst. Er hörte seine eigene Stimme weich werden.
Du benutzt das Wort „Stimme“ überhäufig.

Die andere Stimmt im Hintergrund sagte wieder etwas.
Und hast dich hier vertippt.

Verwirrung, gepaart mit einer alten, vergessen geglaubten Wut stieg schwarz in ihm

stieg schwarz in ihm *auf ?

Gruss,
Abi

 

Hey Meridian

Ich finde den Text atmosphärisch gelungen und ich habe ihn gerne gelesen. Zunächst ein grundsätzlicher Punkt, dann zwei, drei handwerkliche Dinge:

Es wird in der Geschichte nicht klar, in welchem Verhältnis Eveline zu Peter steht. Dass sie seine Mutter ist, darauf wäre ich nie gekommen. Auch ich habe auf eine vergangene Liebe getippt. Drei Dinge haben verhindert, dass ich an die Mutter gedacht habe. 1. Die Art und Weise, wie das aufgezogen ist. Da gibt es entsprechende Vorbilder und ich denke, viele von uns kennen diese Versuchung, eine/n Verflossene/n anzurufen, während sehr wenige Leser die Versuchung kennen, die Mutter anzurufen, von der sie nicht wissen, ob sie noch lebt. Die Lesart Vergangene Liebe ist also wesentlich naheliegender. 2. Er sagt: "Peter Strauss" und nicht: "Peter, dein Sohn." Also, das finde ich unter der Annahme, dass es sich um seine Mutter handelt, etwas seltsam. Will er, dass sie von selbst darauf kommt? Dass sie sich denkt, Strauss, Moment mal, der hat ja denselben Nachnamen wie ich! Also, das hat meine Lesart, dass es sich um eine vergangene Liebe handelt, bestätigt, weil genau in diesem Fall würde man den Nachnamen nachreichen, wenn es nicht auf Anhieb klappt mit dem Wiedererkennen. 3. Er nennt Paul Evelines grossen Bruder und nicht seinen Onkel, was naheliegender wäre. Deine Lesart ist zwar durchaus möglich, sie erscheint mir aber als weniger plausibel.

Ist es schlimm, wenn die Leute den Text nicht so lesen, wie du ihn dir gedacht hast? Auf eine Art natürlich nicht. Es passt ja alles.
Aber dennoch: Wolltest du uns diese Geschichte erzählen: Mann ruft Verflossene an? Ich finde deine Intention spannender und dramatischer. Weshalb machst du das nicht eindeutig?

Offenheit, Vagheit, Ambivalenzen. Das finde ich wichtige Eigenschaften von guten Kurzgeschichten, eigentlich von allen Texten. Aber worauf sollte sich Offenheit beziehen? Darauf, wer die Protagonisten im Text überhaupt sind? Ich weiss nicht, ob das die richtige Art von Rätsel ist, die ein Text stellen sollte - wobei es hier ja für mich gar kein Rätsel war, weil ich so eindeutig von einer vergangenen Liebe ausgegangen bin. Offenheit sollte meines Erachtens an anderen Punkten eines Textes verortet sein. Was hat zum Bruch geführt? Wie geht Peter mit der Anruf um? Ich denke, der Text würde nichts verlieren, sondern gewinnen, wenn den Lesern im Verlauf des Textes klar würde, dass es sich bei Eveline um Peters Mutter handelt.

Offenheit: Das macht dein Text einerseits gut, er lässt vieles offen.
Aber der zweitletzte Satz schliesst etwas ab, was ebenfalls hätte offenbleiben können:

„Mir auch“, sagte er dann. In seinem Zimmer war es vollkommen still.
Es tut ihm also leid. Die Reaktion wird bestimmt. Ich würde die beiden letzten Sätze wohl streichen, wenn es mein Text wäre, um gerade hier mit einem atmosphärischen Bild zu enden und nicht mit einer abschliessenden emotionalen Stellungnahme Peters, um es mal etwas übertrieben zu formulieren. Das wäre eben die Ebene, auf der Offenheit, Vagheit etc. meines Erachtens spielen sollte.

Handwerkliches:

Mir fällt auf, dass du Übergänge jeweils sehr klar deklarierst:

Ein Gedanke formte sich in seinem Geist.
Bilder erschienen vor seinen Augen.
Vor seinem inneren Auge entstand das Bild
Versuche hier oder in anderen Texten mal mit harten Schnitten zu arbeiten. Dem Leser mehr zutrauen. Manchmal geht es furchtbar schief, aber das kriegst du dann ja zurückgemeldet. Wenn es aber klappt, wird ein Text organischer, geschmeidiger.

Details:

In diesem sterilen Hotelzimmer am Bahnhof gab es tatsächlich ein Telefonbuch. Und eine Bibel. Ein Telefonbuch neben dem Fernseher und eine Bibel in der Nachttischschublade. Bibeln sah er in Hotelzimmern oft. Er hatte nie eine aufgeschlagen, aber an den Anblick war er gewöhnt. Aber ein Telefonbuch? Wer benutzte heute noch Telefonbücher? Hatte es, als Leute noch Telefonbücher benutzten, diese in Hotelzimmern gegeben?
Ich empfand den Anfang als etwas behäbig. Mindestens das Fettmarkierte könnte m.E. weg.
Er fuhr sich mit der Hand über den nackten, vorstehenden Bauch
Du bist ja nahe dran an der Figur. Da stört mich das "vorstehend" etwas, denn das ist ja gerade nicht seine grösste Sorge. Das kam mir etwas an den Leser gerichtet vor.
Die andere Stimmt im Hintergrund sagte wieder etwas.
Stimme

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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