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Der Würfeljunge
Cad schreckte von der Tastatur hoch.
Seine Wange brannte. Als er mit zitternden Fingerkuppen darüberstrich, fühlte er die eckigen Vertiefungen, die Abdrücke, die die Erhebungen der Tasten tief in seine Haut gebissen haben. Als hätte er tagelang so gelegen, schlafend, weggetreten.
Blinzelnd richtete er sich auf, starrte auf den dunklen Monitor vor sich. Fuhr mit der Zunge an der Innenseite seiner prickelnden Wange entlang.
Da spiegelte sich sein Gesicht schwach in der Schwärze des Screens. Erneut glitt die Hand an seine Wange.
Er kniff die Augen zusammen.
Sieh hin. Lies.
Sein Kopf ruckte erschrocken nach hinten, er blickte in das Dunkel in seinem Rücken. Keine Person, keine Stimme.
Nichts.
Irritiert wandte er sich wieder nach vorne. Betrachtete sein undeutliches Spiegelbild.
Buchstaben. Silben.
Worte.
T … C … I
T … H … N
T …
Er hielt inne.
THCIN
Der Abdruck prangte rot auf seiner Wange. Stirnrunzelnd blickte er auf die Tastatur. Jemand hatte die Tasten so versetzt, dass in der mittleren Reihe die Lettern n, i, c, h und t nebeneinanderlagen.
Verwirrt wischte er sich über die Augen. Hatte sich jemand an seinem Computer zu schaffen gemacht?
Thcin …
Nicht.
„Nicht was?“, hauchte er und kam sich dabei unsagbar dämlich vor.
Die Schatten seines Zimmers waberten leicht. Ihm war, als wehte ein Kältehauch über seinen Nacken.
Er schauderte, schüttelte den Kopf.
Er wollte bereits den Computer hochfahren, da fiel ihm das schlaffe, schwarze Kabel auf. Jemand hatte den Stecker gezogen.
Mit angehaltenem Atem stellte er die Stromzufuhr wieder her, hielt dann die Einschalttaste gedrückt, bis der Screen kurz blassblau aufleuchtete. Er verkniff die Augen vor dem hellen Licht.
Leiser Schmerz an seiner Wange, als würde es ihn warnen wollen: Nicht.
Als er die Lider öffnete, hatte sich das blaue Licht verzogen, stattdessen fand er den Monitor erneut schwarz vor – mit einer einzigen Veränderung: In der linken oberen Ecke prangte ein einzelnes Wort, dahinter der blinkende Cursor.
NICHT
Spielte ihm jemand einen Streich? Minutenlang starrte er auf den Screen. Kein weiteres Wort erschien.
Ohne zu überlegen, glitten seine Finger über die Tasten.
Wer ist da? tippte er.
Die Wörter verblassten. Sein Herz pochte lauter. Sein Atem in der Stille.
Dann, mit einem Aufleuchten:
NICHT
Schwarz.
Was? Cads Mund wurde trocken, obwohl er nicht wusste, wovon genau. Einer Person? ... Maschine? Einem ... Etwas?
GEHEN
Er runzelte die Stirn. Das Pochen seines Herzens ging in ein Hämmern über.
NICHT GEHEN
Nicht gehen? Wohin?
Mit einem eisigen Gefühl im Bauch starrte er auf den Monitor. Wartete.
Minuten vergingen, zwei, drei, vier, zehn. Eine Ewigkeit später starrte er immer noch darauf.
Da tauchte etwas auf. Vier Buchstaben.
NAME
Am liebsten hätte er den Computer wieder ausgeschalten. NAME – War das eine Frage? Eine Aufforderung? Er starrte das Wort an. Ein Gedanke keimte in ihm. War sein eigener Name gemeint?
Cad, ging es ihm durch den Kopf. Cad, das war sein Name.
Er stiess leise Luft aus, das Herz klopfte noch immer seine Kehle hinauf. Was lief hier für ein Spiel? Das ergab doch alles keinen Sinn.
Name. Name. Name. Da linste er auf das Lateinlexikon auf seinem Pult. Klappte es unwillkürlich auf. Schlug den eigenen Namen nach. C …
Seine Finger zuckten über die dünnen Seiten, bevor er wusste, was er tat. Cad cad cad
Und da, die Seite kam, die Bedeutung folgte: cad ...
lat. cadere.
fallen.
Das half ihm auch nicht weiter. Noch verwirrter als zuvor, schloss er das Buch.
Im selben Moment erzitterte sein Pult. Die Holzbretter unter ihm vibrierten.
Entgeistert sprang er auf. Starrte auf seinen Schreibtisch.
Wellen glitten über den dunklen Screen.
Seine Augen weiteten sich. „Was zur H-“
Cad hob die zitternden Finger. Näherte sie dem Bildschirm.
Und sah mit an, wie sie hindurchglitten.
Ein gewaltiger Sog saugte ihn in den Monitor, hinein durch das Dunkle wie durch einen flüssigen Spiegel. Er schrie auf. Krallte sich fest, an der Tischkante, der Tastatur, doch ein Erzittern durchfuhr ihn, die Welt, die Schwärze, seine Finger rutschten ab, gaben alles frei.
Und dann fiel er.
Finsternis rauschte an ihm vorbei, seine Haare peitschten wild, die Zeit gischte und krümmte sich, bäumte sich auf, bis Risse sie durchzuckten und er durch einen Spalt hindurchglitt.
Cad heulte aus voller Kehle. Sein Schrei verzerrte sich, lang, länger, ein feiner Faden im Gewebe des Dunkelns.
Er taumelte durch Schwärze und Abgrund, Raum und Zeit.
Die Welt raste unaufhaltsam.
Er fiel und fiel, und knallte schließlich so hart auf glattes Gestein, dass er dachte, das Knacken seiner Knochen zu hören.
Stille.
Einzig ein entferntes Flüstern schlich in sein Ohr. Ein zartes Geräusch, als blätterte eine Seite sanft im Wind.
Cadere, flüsterte eine ferne Zunge.
Fallen.
Das Innere wirkte, wie man sich einen hohlen Würfel vorstellte: Quadratisch, kahl, scharfe Kanten. Keine Tür, kein Fenster, kein Loch.
Trübes blaues Licht sickerte aus der einen Wand, warf lange Schatten auf das Gestein gegenüber.
Der Junge lag in der Mitte.
Mit bebenden Lippen hob er den Kopf an. Sah direkt auf einen Monitor, der eine der vier Wände einnahm. Das Licht stach in seine Augen. Seine steifen Gelenke schmerzten, als er sich aufrappelte, und mit unsicheren Schritten zu dem Gesteinsblock vor dem Screen wankte, auf welchem ein rechteckiges Gehäuse lag. Eine Tastatur.
Ein weiterer, steinerner Block davor auf dem Boden.
Da prasselte etwas auf ihn hinein, Fetzen von Bildern, stückweise, heiß und stechend. Doch er konnte sie nicht greifen, konnte sie nicht verstehen. Das Einzige, was er im Geiste sah, war ein Computerscreen, dunkel, schwappend, wie ein flüssiger Spiegel. Er war hineingetreten.
Der Junge drehte sich um die eigene Achse.
Gestein und Dunkelheit. Schatten, überall Schatten, und kein Licht außer demjenigen des grossen Monitors.
Er war hineingetreten, damals, in jenem Zimmer, in jene flüssige Dunkelheit, und das war sein Fehler gewesen.
Der Würfelraum schluckte seine Schreie.
Der Junge kniete vor dem Steinblock.
Mit klammen Fingern klaubte er an der Plastikverschalung herum. N riss er heraus. I. C. H. Zuletzt das T.
Dann entfernte er G, J, K und L. Zitternd drückte er die Ersten an deren Ort, rechts in die Mittelreihe.
Nicht.
Betete, dass irgendjemand auf der anderen Seite saß. Dass irgendjemand sie sehen würde, die veränderte Tastatur. Den Computer in diesem nun weit entfernten, ungreifbaren Zimmer anblicken würde. Und nicht denselben Fehler begehen würde wie er.
Der Junge starrte die Tasten an.
Nicht, besagten sie nun. Geh nicht.
Er betete.
Sieh hin.
Lies.
Eine Tür erhob sich aus den Schatten, öffnete sich flüsterleise.
Der Junge wirbelte herum.
Ein nachtschwarzer Schatten glitt in den Raum, schien das Wort auf der Tastatur zu lesen: NICHT
Das Dunkelwesen schwebte zu ihm, griff ihn ohne Weiteres mit eisiger Nicht-Hand am Nacken und setzte die Nicht-Lippen an sein Ohr. „Nicht was?“, hauchte es, der Nicht-Atem kalt und schal.
Der Junge, erstarrt vor Angst, gab keinen Ton von sich.
Die Kreatur stach mit einem Nicht-Fingernagel in seine Wange. Ein leiser Schmerz.
Auf einmal leuchtete der Monitor hell auf, als hätte sich jemand am Ende der Leitung gemeldet.
Der Junge wollte um Hilfe schreien, versuchte, sich aus dem Griff der Kreatur zu winden, doch so schnell, wie die Schatten erschienen waren, zogen sie sich durch die Nicht-Tür wieder hinaus, als hätte das Licht sie vertrieben. Das Gestein schloss sich, bis das Loch zu einer Wand verschmolzen war.
Das hämmernde Herz des Jungen war alles, was außer dem blauen Lichtschimmer im Dunkeln verblieb.
Der Junge saß auf dem Steinquader. Starrte auf den blau pulsierenden Monitor.
NICHT, tippte er. Das Wort erschien blinkend in der Ecke, verblasste dann.
Nein, nein, nein, dachte er. Es funktioniert nicht.
NICHT, schrieb er erneut.
Wartete. Sah zu, wie die Schwärze das Wort verschlang. Bitte, funktioniere.
Plötzlich setzte sein Herzschlag aus.
Wer ist da?
Der Junge stierte die Worte an.
Jemand hatte geantwortet. Jemand war da.
Wer war da? Wer war ...
Ein Name. Die Person wollte einen Namen.
Angst breitete sich in seinem Bauch aus, zäh und ölig.
Sein Name? Sein Verstand raste. „Ich weiss es nicht“, flüsterte er. „Ich weiss es nicht mehr.“ Tränen füllten seine Augen. „Ich weiss meinen Namen nicht mehr.“
Aufgewühlt und beinahe tränenblind tippte er weiter.
ICH WEISS IHN NICHT MEHR
Doch die Worte blieben stehen.
HILFE, tippte der Junge weiter.
GEH WEG VON DEM MONITOR
Immer noch prangten die Buchstaben auf dem Screen.
Der Junge löschte sie wieder. Eine Träne rollte ihm über die Wange. Schniefend wischte er sie weg.
Dann versuchte er erneut:
NICHT
Das Wort verschwand bereits, und die Antwort tauchte abrupt auf, bevor er zu Ende schreiben konnte.
Was?
Der Junge biss die Zähne zusammen. Versteh doch.
GEHEN
Die Worte verschwanden. NICHT GEHEN
Niemand antwortete.
Hilf mir, durchzuckte es den Jungen, allmählich verrückt vor Angst. Komm und hilf mir.
Keine Antwort.
„Hilfe“, wiederholte er schluchzend. Er hackte auf die Tastatur:
KOMM UND HILF MIR
Die Worte verschwanden nicht. Sie schienen ihn zu verhöhnen, so, wie sie in der Ecke prangten. Blinkend.
Er löschte sie. Tippte sie erneut. Kürzte den Satz. Die Worte blieben stehen.
Seine Angst wuchs, als er begriff, dass dieser Jemand am anderen Ende nicht kommen würde. Nicht kommen konnte.
Schluchzend hämmerte er auf die Tastatur, bis der Boden zitterte. Der Monitor knackte, zischte, auf einmal waberten Schatten durch den Screen in den Raum hinein. Wind durchpeitschte die Haare des Jungen, liess ihn stolpert, als würde er ihn zu Fall bringen wollen.
Und dann, der Geistesblitz.
Fallen, schoss die Erinnerung dem Jungen durch den Geist. Mein Name bedeutet fallen.
Schatten zischten neben seinem Ohr, die Sicht verzerrte sich, verschwamm in einem Strudel.
Es ist eine Warnung.
Der Junge biss die Zähne zusammen, stemmte sich gegen den Sturm, seine rudernden Hände wurden von den Tasten weggerissen, doch mit einem Ruck erhaschten seine Finger ein letztes Mal die Tasten:
NAME
Der Raum bebte stärker, Schatten strömten durch den Monitor, alles kreischte, zischte, bäumte sich auf, der Junge presste sich die Hände auf die Ohren, strauchelte zu dem Wandmonitor, tastete in der wirbelnden, sich dehnenden Schwärze umher.
Dann fand er es, und mit letzter Kraft riss er das Kabel hinaus.
Totenstille.
Sein keuchender Atem in der Dunkelheit.
Es war ruhig. Es war dunkel. Er war allein.
„Nicht“, flüsterte der Junge. Wer auch immer du bist, sandte er das Gebet in die Schwärze des Raumes hinein, geh nicht.
Die Schatten kehrten zurück, lullten ihn ein.
Dann sackte er auf den Steinquader, auch seinen Kopf fühlte er hinabgleiten, seine Wange, die mit einem letzten Klicken auf die Tastatur sank.
N
I
C
H
T