- Beitritt
- 28.12.2009
- Beiträge
- 2.528
Der Weg zu meinem Gemüsehändler
Jeden Morgen schneide ich drei Tomaten auf, lege sie auf einen Teller, salze sie, spieße sie mit der Gabel auf und esse sie ene nach der anderen. Ich kaufe sie immer auf dem Markt bei meinem Gemüsehändler. Ich kaufe nur diese eine Sorte, die Sorte, die mir mein Gemüsehändler verkauft, ich kaufe keine anderen Tomaten. Heute sind es die letzten drei, sie sind schon etwas weich geworden. Ich salze nach.
Draußen scheint die Sonne. Ich denke, es ist ein guter Tag für einen Gang in die Stadt. Auf dem Balkon gegenüber steht eine Frau und raucht, ich kann sie von meinem Küchenfenster aus sehen. Sie trägt heute ein helles, mit Mustern bedrucktes Kleid und lehnt mit der Hüfte an der Brüstung. Sie raucht lange und dünne Zigaretten einer Marke, von der ich dachte, sie werde schon lange nicht mehr hergestellt. Ich habe früher Senoussi geraucht. Senoussi hat sonst keiner geraucht, den ich kannte; das war nicht der einzige Grund, aber doch wenigstens einer. Mir hat die Schachtel gefallen und dass es Zigaretten ohne Filter waren. An den Geschmack des Tabaks kann ich mich kaum noch erinnern. Ich habe vor über zwanzig Jahren mit den Zigaretten aufgehört. Die Frau hat die Arme verschränkt, und so, wie sie dasteht - den Blick an die Wand gerichtet, die Zigarette zwischen zwei Fingern - erinnert sich mich an eine wartende Mutter. Es ist auch ein strenges Gesicht, alles daran ist angespannt; ich erkenne die schmalen Augen, die aufeinander gepressten Lippen, das harte Kinn ganz genau. Ihr Gesicht ist nicht immer so streng; ich kenne diese Frau, ich sehe sie oft auf dem Balkon stehen und rauchen. Sie sieht mich und winkt. Sie winkt kurz mit den beiden Fingern, in denen sie die Zigarette hält. Ich hebe die Hand. Sie lächelt. Ich kenne ihren Namen nicht. Ich wohne hier seit über dreizehn Jahren und kenne den Namen meiner Nachbarin nicht, denke ich, und dass ich keine Tomaten mehr habe.
Mein Geld liegt in einer alten Schüssel aus schwerem, grünem Glas. Es ist eine Schüssel, von der ich glaube, sie hat einmal meiner Großmutter gehört. Heute sieht man kaum noch solche Schüsseln. Sie sind aus der Mode gekommen, wie man sagt. Ich habe nie darüber nachgedacht, diese Schüssel wegzuschmeißen. Sie war immer ein Teil meiner Einrichtung. So lange ich denken kann. Vielleicht stand sie auch schon in meinem Kinderzimmer. Das Grün erinnert mich an das Grün einer Flasche; die Schüssel ist flaschengrün. Sie steht auf einer Kommode in der Diele, die meistens dunkel bleibt. Das Flaschengrün bleibt ein Geheimnis für sich. In der Schüssel liegt nicht nur mein Bargeld, sondern auch meine Wohnungsschlüssel. Manchmal auch alte Batterien, Sicherheitsnadeln, Heftklammern, Notizen. Ich nehme zwanzig Euro aus dem Portemonnaie. Das Portemonnaie ist aus schwarzem Leder und war ein Geschenk von einem guten Freund. Der Schein ist noch neu und fühlt sich seltsam glatt an. Das alte Geld, die D-Mark, die hat sich anders angefühlt, ich kann das schwer beschreiben. Als hätte sie einen eigenen Wert, als wären die Scheine kleine Kunstwerke, die man behutsam und nah am Körper trägt, in Sicherheit. Ich nehme das Geld und nehme die Schlüssel und ziehe die Wohnungstür hinter mir zu. Ich schließe nicht mehr ab, obwohl ich das früher immer so gemacht habe; ich weiß nicht, warum ich damit aufgehört habe. Vielleicht fühle ich mich sicher genug. Ich verlasse nur selten die Wohnung, ich kaufe Tomaten, Käse und Fleisch. Ich arbeite, natürlich. Ich brauche für diese Arbeit meine Wohnung nicht verlassen, doch für das, was ich erzählen möchte, spielt es keine Rolle, welcher Art Arbeit ich nachgehe. Ich erzähle vom schlimmsten Tag meines Lebens. Das werde ich jedenfalls. Ich brauche noch etwas, ich muss etwas weiter ausholen.
Ich höre kein Radio, sehe kein Fern. Alles, was ich wissen muss, erfahre ich auch so. Ich bin gerne alleine. Ich bin nicht einsam, ich komme gut alleine zurecht. Ich mag Dinge. Dinge bleiben immer gleich. Eine flaschengrüne Schüssel bleibt auch morgen noch eine flaschengrüne Schüssel. Manche Dinge verschwinden. Wie die Senoussi-Zigaretten. Andere bleiben. Ich vermisse sie nicht, wenn sie erst einmal verschwunden sind. Dinge sind nicht wie Menschen. Menschen vermisse ich, ich würde sie vermissen. An Dinge erinnere ich mich, aber ich erinnere mich an ihren Zweck, an ihre Oberfläche. An Menschen erinnere ich mich anders. Dinge empfinden auch keinen Schmerz.
Ich habe das noch niemandem erzählt. Ich bin mir sicher, keiner möchte das hören. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, dass ich es erzählen will. Aber vielleicht muss ich es erzählen. Ich habe darüber nachgedacht, es meinem Gemüsehändler zu erzählen. Manchmal denke ich, das ist der einzige Mensch, der mir zuhören wird. Ich weiß nicht, warum ich das denke.
Ich nehme den Schlüssel aus der flaschengrünen Schüssel und schließe die Wohnungstür hinter mir. Das Treppenhaus ist erst vor Kurzem neu gestrichen worden. Es riecht immer noch nach Farbe. Ein Geruch, den ich mag. Künstlich und ein wenig wie verbranntes Plastik.
Ich kenne meine Nachbarn, ich kenne ihre Namen und ihre Gesichter, aber ich will nichts weiter von ihnen wissen. Wir grüßen uns. Das reicht. Das muss reichen. Manchmal höre ich Musik oder lautes Lachen hinter den Türen, das sind sie, es ist ihre Musik, ihr Lachen. Doch es ist wie damals im Keller: diese Türen öffnen sich nie, sie bleiben verschlossen. Die Musik, das Lachen: Geheimnisse, die Geheimnisse bleiben.
Die Gegend hat sich verändert. Neubauten. Verkehrsberuhigte Straßen. Ich bin hier aufgewachsen, in einem Haus am Ende der Straße. Es ist das älteste Viertel der Stadt. Es heißt Driesch, doch niemand kennt diesen Namen mehr. Niemand weiß, wo dieses Viertel beginnt und wo es aufhört. Niemand kennt die Grenzen. Es ist egal geworden. Die Menschen in diesem Viertel leben einfach vor sich hin, ohne zu wissen, wo sie leben. Sie leben an einem Ort, aber sind dennoch ortlos. Sie wissen nicht, welche Bedeutung dieser Ort hat. Ich weiß es. Ich bin hier aufgewachsen. Ich bin in einem Haus am Ende der Straße aufgewachsen. Es ist ein altes Haus, im Jahr 1895 erbaut. Es hat drei Geschosse und ein steiles Dach. Einen dunklen und feuchten Keller, in dem es rumpelte und dröhnte. Ich hatte immer Angst vor diesem Keller.Es war nicht nur die Dunkelheit oder die Geräusche; wenn ich für meinen Vater Bier oder Werkzeug holen musste, glaubte ich, hinter jeder der grauen Sicherheitstüren lauere eine andere, eine neue Gefahr. Ich konnte diese Gefahr riechen, sie schmecken. Sie war da, das weiß ich. Ich habe diese Türen nur niemals geöffnet, und so blieb sie vor mir verborgen. Was sagt das über mich? Dass ich diese Straße nie verlassen habe?
Ich kann von meinem Küchenfenster das Haus sehen, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist das Haus, in dem die Frau mit dem bedruckten Kleid auf dem Balkon steht und raucht und mir dabei zuwinkt. Sie weiß nicht, dass ich in diesem Haus aufgewachsen bin. Sie weiß noch nicht einmal meinen Namen. Von meinem Küchenfenster kann ich nicht nur auf das Haus blicken, in dem ich aufgewachsen bin: Ich kann die Krankenhausetage sehen, auf der früher die Geburtenstation lag. Dort wurde ich geboren. Heute gibt es keine Geburtenstation mehr, in diesem Krankenhaus kommt niemand mehr in die Welt. Das hat einen schönen Klang: In die Welt kommen. Auch wo man geboren wird, verliert also jede Bedeutung.
Ich versuche, das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, so gut ich kann zu beschreiben. Ich beschreibe es aus meiner Erinnerung heraus. Es sieht heute nicht mehr so aus wie früher, wie damals, und manchmal wirkt es fast so, als befände sich das wahre, das echte Haus darunter, als habe man es nur vor mir versteckt. Aber das kann nicht sein. Die Beschreibung: Die Decken der Zimmer sind hoch und mit Stuck verziert. Es ist echter Stuck, keine billige Dekoration. Bis heute bewundere ich die Kunstfertigkeit der Handwerker. Eine langsame Arbeit, präzise geplant. Das verleiht den Räumen Eleganz. Sie wirken so warm und einladend, dass man sie nie wieder verlassen möchte. Man wünscht sich, in einem dieser Zimmer zu sterben. Es gibt eine enge und gewundene Treppe, die hinauf bis unter das Dach führt. Etwas Schweres, Unhandliches in die oberen Geschosse zu tragen ist eine komplizierte Angelegenheit. Wir haben im dritten Obergeschoss gewohnt. Es gab Blumen auf den Zwischenetagen, meine Mutter hat sie dort hingestellt. Sie war sehr sorgfältig in diesen Dingen. Die Pflanzen in einem Topf, immer waren es Töpfe in dunkler Farbe, sie sagte, das setze sich gut gegen das Grün ab. Sie mochte Pflanzen. Sie saß stundenlang auf der Treppe, starrte aus dem Fenster in den Hof, starrte auf die Pflanzen. Sie sehe ihnen beim Wachsen zu. Ich habe ihr geglaubt. Wann hört damit eigentlich auf, mit dem Glauben? Ich glaube nicht mehr. Ich glaube keinem. Alles könnte schließlich Lüge sein; jeder könnte sich als Lügner entpuppen. Ich kann das so sagen, denn ich weiß, wovon ich rede: Denn auch ich bin ein Lügner, vielleicht der größte von allen. Waren das wirklich seine letzten Tomaten? War die Schale tatsächlich flaschengrün? Wie war das nochmals mit der Frau auf dem Balkon gegenüber? Gibt es dieses ominöse Haus überhaupt oder entspringt es nur seiner Vorstellung? Erzählt er das alles nur so, breitet sich aus, erfindet Dinge, alles Fiktion?
Nein, das Haus existiert, es existiert tatsächlich. Wenn ich an dem Haus vorbeigehe, so wie jetzt, jetzt gerade eben gehe ich an dem Haus vorbei (dem Haus in dem ich aufwuchs), dann ist es, als würde es mich berühren. Das klingt seltsam und mysteriös, vielleicht auch ein wenig dümmlich, ich weiß, und ich weiß auch, dass Häuser einen nicht wirklich berühren können, in einem konkreten, physischen Sinn, denn es sind Gebäude aus Materialien, Stein und Stahl und Kabeln, und diese sind ja doch vollkommen seelenlos, oder nicht? Vielleicht gebiert sich das Gefühl nur aus einer abgeschmackten Nostalgie, man (ich) erliegt dem Gefühligem, verkitscht das Gewesene, und mit dem Erkennen, dass jener Ort und jene Zeit und somit eine ganz bestimmte Form von Welt unwiederbringbar verloren sind, versteigt man sich in Sehnsüchte: die Portugiesen haben sogar ein eigenes Wort dafür.
Da ist es schon. Das Tor, sandgelb und mit zwei Flügeln, dahinter schließt sich eine rasch verjüngende Gasse zwischen der Außenwand und einer alten Mauer an; die Mauer diente einst als Begrenzung zu einem anderen Grundstück (heute: Parkplatz), sie ist unverputzt geblieben, wurde offen gelassen, man kann bis auf den Backstein sehen; fast wie ein Skelett wirkt es. Aus manchen Steinen sind Stücke herausgebrochen, große, kleine, es ist eben der Lauf der Dinge. Ich bleibe stehen und werfe einen langen Blick durch das Gitter, in den Schatten der Gasse. Der eigentliche Eingang in das Gebäude, die Haustür, liegt gleich dort, ganz am Ende, neben einem kleinen Wintergarten aus blindem Glas, den nur der Mieter im Untergeschoss benutzen durfte. Früher gab es dort noch einen Baum, der schief aus dem dahinter liegenden Garten über die Mauer wuchs, ein Baum mit dickem, knorrigen Stamm, und er trug jeden Sommer bläulich schimmernde, erbsengroße Früchte, die sich in den Nächten zu Dutzenden von den Stielen ablösten und auf die Pflastersteine fielen, wo sie meistens aufplatzten und dann einen Übelkeit erregenden Gestank verbreiteten.
Man gewöhnt sich daran, wie man sich an so vieles gewöhnt. Interessant fand ich immer die architektonische Besonderheit, dass der Hauseingang der Straße abgewandt war, das Haus schien sich vor den Blicken der Welt verstecken zu wollen. Man konnte sich also auf die Treppe vor der großen Haustür (aus schwerem Holz gefertigt, mit geschnitzten Ornamenten versehen, Fenstereinsätze aus belgischem Bleiglas) setzen, es gab dort sogar eine Art Podest, auf dem ein Fußabtreter lag, und war in diesem Sinne bereits draußen, an der frischen Luft, wie meine Mutter immer sagte, wurde jedoch von der Straße aus nicht gesehen. Meine Mutter brauchte viel Ruhe, sie sagte jedenfalls oft: Ich brauche meine Ruhe, und dann schickte sie mich nach draußen. Wohin genau, das kümmerte sie nicht sonderlich, sie wollte mich einfach nur aus der Wohnung, aus dem Haus haben. Mein Vater arbeitete damals meistens auf Montage, Kühlanlagen und Gaswäscher aufbauen, oft im angrenzenden Ausland, Belgien, Holland, Frankreich, und war oft wochenlang weg; früher dachte ich, dass meine Mutter sich ohne ihn einsam fühlte, heute denke ich, sie genoss die Zeit, wenn sie ganz allein das Sagen über den Haushalt hatte, jetzt bin ich die Königin!, sagte sie manchmal, ihr kleiner Triumph über die Umstände.
Auf dieser Treppe, auf diesem überdachten Podest, da war es immer kühl, man saß ja im Schatten auf dem nackten Stein, aber das machte mir nichts aus. Stundenlang saß ich dort, denn dort, auf diesem Podest, da war ich der König! Im Grunde war das Faszinierende, das Anziehende daran die Tatsache, dass ich die Menschen im Haus und auf der Straße hören könnte, ohne dabei selbst bemerkt zu werden; ich hörte jedes ihrer Wörter sowie jedes Geräusch, das sie verursachten: das feine Pfft-Pfft von Jeansstoff, der an den Oberschenkeln aneinanderreibt, das gnadenlos harte Klicken von Pfennigabsätzen, tock tack tock tack, da kommt es näher, wird lauter, kommt noch näher, ganz nah, wird wieder leiser, verschwindet schließlich ganz, hallt in den Gassen kurz nach … Dann das kurze Rascheln, wenn jemand die Einkaufstüten für einen Moment auf dem Bürgersteig absetzte, um den Griff von der einen auf die andere Hand zu wechseln. Ihr Getuschel, Gerede, das Gewirr von Stimmen, das sich zu einem neuen Geräusch zusammensetzte, fast ein Rauschen, und daraus drang ein Lachen hier, ein Husten dort … vielleicht dachten die Menschen auch, wenn sie unterwegs sind, wenn sie so nebeneinander hergehen, dann beachtet sie niemand, dann hört niemand auf ihre Worte, was sie sagen, wie sie es sagen, die Straße eine Beichtkammer … doch das stimmt nicht, man hört ja jedes Wort, jede kleine Gemeinheit, jede Zote, jede Neckerei, jeden Rotz und jedes Spucken.
Andere waren sicherlich der Meinung, mir sei langweilig gewesen, das ist Langeweile, dabei war es ganz und gar nicht so. In diesen kühlen Stunden, draußen auf dem Podest, auf der Treppe sitzend, denn weiter habe ich mich nie vom Haus entfernt (nicht, dass ich mich nicht getraut hätte), da war ich der König; wenn auch nur der eines kleinen Reichs. Und ein König muss seine Augen und Ohren immer offen haben, muss alles sehen, alles hören, stets Bescheid wissen, um jeder Intrige, jeder Ränke zuvorzukommen. Der Herr, der über uns wohnte, ein seit Jahren alleinstehender Witwer, kam meistens gegen sechs Uhr abends besoffen heim, er bemerkte mich kaum, grüßte oft nicht einmal, ich war wie ein Geist für ihn, eigentlich nicht anwesend, aber ich hielt etwas gegen ihn in der Hand: ich wusste um die Eckdaten seines Lebens, kannte seine Gewohnheiten - billig Kölsch in der Tageskneipe um die Ecke - und erkannte ihn schon zwei Häuser die Straße runter, wie er langsam über den Bürgersteig schlurfte, sein Atem dabei tief rasselnd. Manchmal konnte er nicht an sich halten und pisste einfach an die Krankenhauswand, wo man morgens noch den dunklen Urinfleck sehen konnte. Die Mutter, die mit ihren drei Kindern in einer engen und feuchten Parterrewohnung gegenüber lebte, leben musste, und die ihre Zigaretten regelmäßig beim Kiosk um die Ecke kaufte und auf dem Rückweg mit sich selbst sprach; sie ging dann vor unserem, vor meinem Tor! auf und ab und rauchte währenddessen meistens zwei, drei Zigaretten hintereinander, dabei leise murmelnd, dann wurde sie lauter, stöhnte, seufzte, brütete vor sich hin … Oder der Schausteller, der in einem der Hinterhöfe sein Lager hatte, und der mit seinem Hund, einem alten, fast blinden Dackel, jeden Abend seine Runde drehte; das hustende, wehleidig klingende Bellen hörte man schon von weitem, der Hund schnaufte und schmatzte wie ein professioneller Trinker, man glaubte jeden Moment legt er sich lang, ergibt sich den Jahren, dem Alter, endlich. Doch nie geschah es. Immer hielt er durch, und wenn er kurz vor dem Tor angelangt war, da konnte ich auch sein Herrchen hören, einen großen, schweren, trägen Mann mittleren Alters der Pfeife rauchte, ganz leise im Hintergrund das feuchte Gurgeln, verursacht durch Kondensat im Holm. Man erkennt den Rhythmus einer Person, erfährt so vom Menschen; wohin er geht, was er tut, was er nicht lassen kann. Welche sind unsere Spuren? Vielleicht tatsächlich nur die Routinen des Unablässigen; die Dinge, von denen wir nicht lassen können.
Der Himmel verdunkelt sich, bald wird es regnen, ich kenne mich aus, ich kann den Regen schmecken, die Luft wird satt und schwer und mineralisch auf meiner Zunge, so kündigt es sich an. Das macht mir nichts aus, ich mag den Regen, das Gefühl auf meiner Haut. Ich gehe weiter, schon bin ich auf der Hauptstraße, eine lange Gerade aus Kopfsteinpflaster gesäumt von hell erleuchten Geschäften, und das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, liegt bereits einige Schritte hinter mir, doch ich fühle die Präsenz immer noch, ich fühle sie wie einen Finger, besser: eine Fingerspitze, die mich ganz sanft im Nacken berührt, an der weichsten Stelle, wo der Hals gerade so in den Schädel wächst, zwischen Knochen und Haut, ich hatte schon immer einen Witwenbuckel.
Wenn es dann genug war, wenn ich genug hatte, wenn es draußen auf der Straße ruhig und still wurde, ging ich wieder rein. Ich stand auf, öffnete die große, schwere Haustür, drückte sie mit ganzer Wucht auf, wartete anschließend auf die rückwärtige Bewegung und glitt erst im allerletzten Moment durch den Spalt. Ein kleines Spiel, das Abwarten, das Bereit sein, ich kostete den Erfolg jedes Mal aus, sah der Tür beim finalen Einrasten im Schloss zu. Ein letztes, mechanisches Klacken, dann stand ich alleine im dunklen Treppenhaus. Ein Treppenbaus ist eine Welt für sich. Es waren zweiunddreißig Stufen hinauf bis zu unserer Wohnung. Ich nahm jede mit Bedacht, Schritt für Schritt. Im Untergeschoss wohnte ein junger Mann, der sehr groß war, nie habe ich einen größeren Menschen, einen größeren Mann als ihn getroffen. Dieser große Mann arbeitete in einer Maschinenfabrik, die draußen vor der Stadt lag und schraubte in seiner Freizeit auf der Patio im Hof noch an alten Motorrädern; in seiner Etage roch es ständig dumpf nach Öl und Teilereiniger. Manchmal sah ich ihm beim Schrauben zu, denn mein Zimmerfenster ging zum Hof hinaus. Er saß dabei immer auf einem umgedrehten Blecheimer, der unter seinem massigen Körper winzig aussah; jedoch wirkte alles in seiner Gegenwart winzig, selbst die Tourenmotorräder, die er im Sitzen reparierte. Außerdem begann er sehr schnell zu schwitzen, schon nach ein paar Handgriffen bekamen seine Shirts einen dunklen Rand, es triefte richtig aus seinem Haaransatz. Ich habe mich oft gefragt, ob er sich mit diesen verschwitzten und feuchten Klamotten auch ins Bett legt, denn ich stellte ihn mir vom Naturell her ungefähr wie meinen Vater vor, der, wenn er von Montage nach Hause kam, sich regelmäßig im verschmutzten Blaumann auf die Couch legte, um erstmal eine halbe Stunde zu dösen, ein kleiner Schlummer, bevor ihn der Alltag wieder in Beschlag nahm. Mein Vater schnarchte dabei leise, ihn konnte ich hören, doch von dem großen Mann hörte ich nie etwas, selbst wenn ich mein Ohr fest gegen seine Tür presste; da war nichts, kein einziger Laut, nur der kalte Luftzug, der durch die Türschwelle ins Treppenhaus zog. Das war schon ein seltsames Exemplar, dieser Mann, nicht nur wegen seiner schieren Größe; eine seiner Angewohnheiten war es, nach jedem Besuch, den er in seiner Wohnung empfangen hatte, die Klinke der Tür von innen und außen mit einem Desinfektionsmittel abzuwischen. Der Geruch verdeckten den des Öls und der feuchten Kleidung, legte sich einem noch nach Stunden scharf und ätzend auf die Schleimhäute. Vor allem aber erinnerte er mich an den Geruch in grell ausgeleuchten Krankenhauszimmern, vor denen ich mich fürchtete; ich hatte ein solches Zimmer zwar bisher nur ein einziges Mal besucht, besuchen müssen, das war, als sie meinem Vater wegen eines Arbeitsunfalls drei Zehen amputiert hatten, dennoch saß diese Furcht tief. Ich sah ja die Särge, die sie jeden Tag aus einem Nebeneingang des Krankenhauses, der ausgerechnet genau gegenüber unseres Küchenfenster lag, möglichst unauffällig in lange, schwarze Limousinen luden und dann einfach abtransportierten wie gewöhnliches Frachtgut. Die Fahrer standen, während sie auf die für sie namen- und gesichtslosen Toten warteten, gelangweilt auf dem Bürgersteig herum, rauchten oder popelten in der Nase. Das Krankenhaus bedeutete für mich also nichts Gutes; man starb im Krankenhaus. Meine Mutter musste mich also hinschleifen. Und dann, als wir in einem dieser grässlichen Zimmern schließlich meinen Vater gefunden hatten und endlich an seinem am Bett saßen, konnte ich die ganze Zeit nur auf seinen verbundenen Fuss starren, der Mull gesättigt und durchtränkt vom Jod, sein Schienbein bis zum Knie rasiert, die Haut dort ganz glatt und hell. Ich überlegte, was sie mit den drei Zehen wohl gemacht hatten? Schwammen sie in einem Glas mit Formaldehyd, wie man es manchmal im Fernsehen sah, oder waren sie sogar verbrannt worden? Wenn ja, wie? In welcher Art von Ofen, einem besonderen?, bei welchen Temperaturen verbrennt Fleisch und Knochen, und wie sieht die Asche aus, grau, weiß? Ich traute mich natürlich nicht zu fragen.
Doch mein Vater wurde ein paar Tage später lebend und wohlauf aus dem Krankenhaus entlassen und blieb noch eine Woche Zuhause, wo er die ganze Zeit auf der Couch im Wohnzimmer lag, den verbundenen Fuss auf einem Schemel ausruhend und in alten Sportmagazinen las. Er trank kannenweise schwarzen Kaffee und rauchte eine Zigarette nach der anderen, Overstolz war seine Marke. Abends verlangte er nach kühlem Bier (drei Flaschen, wegen der nötigen Bettschwere, wie er meinte), dass ich ihm sogleich aus dem Keller holen musste; mein Vater schwor auf kellerkaltes Bier und bewahrte es daher niemals im Kühlschrank auf, die künstliche Kälte würde nur die Aromen zerstören. Der Keller war der einzige Ort im Haus, wo das prickelnde Gefühl des Heimlichen zum Erschaudern vor dem Unheimlichen wurde. Schon an der Treppe begann es: steil und die Stufen kurz, der ochsenblutfarbene Lack längst abgeplatzt, der Handlauf locker. Ich hielt mich nah an der Wand, doch von dort rieselte feuchter Putz auf die Stufen und machte sie rutschig, man musste jeden Schritt bedacht und vorsichtig setzen, durfte nicht aus dem Gleichgewicht geraten.
Einmal unten angekommen, brauchte ich erstmal ein paar Augenblicke, um mich zu orientieren. Die Luft in den niedrigen Räumen war trocken und schlecht zu atmen, der Staub brannte einem in den Augen, zudem war die Beleuchtung miserabel und sehr kurz getaktet, schon nach dreißig Sekunden ging sie wieder aus, dann stand man in völliger Dunkelheit da, und ich konnte mir nie merken, wo die anderen Schalter sich befanden. Ich gewöhnte mir also an, gleich neben dem Hauptschalter zu warten, bis das Licht das erste Mal ausging, um ihn dann erneut zu betätigen, denn so wusste ich ungefähr, wie lange mir bleibt. Unser Keller, ein schmaler, mit Holzlatten abgetrennter Verschlag befand sich direkt unter der Treppe, ich brauchte mich nur umzudrehen und die Tür, die nie abgeschlossen war (da gibt es ja nichts von Wert, sagte mein Vater) aufzuziehen, der Kasten würde gleich dort stehen, auf dem Steinboden, gleich neben der Tür. Schnell, schnell, sechs Flaschen in den Korbträger aus Rattan und dann wieder ab die Treppe rauf, solange es noch hell ist! Manchmal jedoch ließ das Licht auch absichtlich ausgehen, schloss meine Augen, atmete ins Dunkel und stellte mich der Furcht, imaginierte noch zusätzliche Gefahren, den Mottenmann oder eine riesige, hungrige Ratte, nur um die Nerven ein wenig mehr zu kitzeln; natürlich ist nie etwas dergleichen passiert, in diesem Keller gab es keine Ungeheuer oder mutiertes Raubzeug. Ich wartete solange, bis mir der Keller ein Signal gab, so nannte ich das, der Keller gibt dir ein Signal, ein Zeichen, meistens ein lautes Rumpeln der Heizung oder ein auffälliges Summen in der Stromleitung. Und dann stürzte ich los in die Dunkelheit, den Träger fest in beiden Händen, die Flaschen schaukelten wild in den Fächern und schlugen gegeneinander, es war mir egal, ich wollte nur raus, nur nach oben. Auf der Treppe, so schmal und rutschig und gefährlich sie auch gewesen sein mag (oder ist es mir nur so vorgekommen?), ist dann trotz meiner ungestümen Flucht nie etwas passiert, ich bin nie gefallen, gestürzt oder sonstwas. Auch meine ich mich zu erinnern, dass ich die Kellertüre nach einem solchen Abenteuer nicht wieder vollständig geschlossen habe, wie es sich gehört hätte, sondern ich habe sie nur angelehnt, immer einen kleinen Spalt offen gelassen, ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Es ist eigenartig: meine Mutter hat mich, wenn ich mich richtig erinnere, kein einziges Mal in den Keller geschickt, obwohl es dazu Gründe gegeben hätte, denn auch sie hatte dort ein paar Sachen deponiert, die sie für ihre Nähmaschine oder die Küche benötigt hätte, wahrscheinlich so etwas wie Garnrollen oder ein Waffeleisen. Sie wusste jedoch nichts davon, sie wusste nicht, dass ich mich auf eine, auf meine spezielle Art vor dem Keller fürchtete, ich habe ihr nie davon erzählt, sie schien es einfach instinktiv zu ahnen.
Der Klang meiner Schritte auf dem Asphalt. Es regnet, es hat begonnen zu regnen. Es gibt einen bestimmten Begriff für den Geruch, der nach dem Regen in der Luft hängt. Man weiß: Wild wird bei diesem Geruch paarungswilliger; es ist ein Instinkt. Das Gehen während des Regens. Die Ruhe, wie die kleine Stadt mit den kleinen Menschen darin wieder zu sich kommt, wie ich wieder zu mir komme. Auch ich bin ein kleiner Mensch. Ich mag das Geschehen während des Regens. Wie die Menschen gekrümmt in Hauseingängen und unter Balustraden stehen, als ob der Regen sie verletzen könnte. Das Beste sind immer die ersten Tropfen, wenn du sie auf dem Asphalt zwar schon siehst, winzig dunkle Punkte, sie aber noch nicht auf deiner Haut spürst … und wenn sie dich dann erwischen und du es einfach geschehen lässt … dein Haar wird feucht, die Tropfen laufen dir an Wangen und Hals hinunter. Es ist nur Regen.
Das Kopfsteinpflaster glänzt. Die Marktstände: der Fischhändler zuerst, ein dürrer Mann im bretonischen Hemd, sein blondes Haar strähnig, ich grüße ihn mit einem Kopfnicken, ich habe bei ihm ein paarmal Lachs gekauft, es ist schon Jahre her. Damals hatte ich ein spezielles Gewürz für Fisch, es kam in einer kleinen, blauen Tüte, aber als dann es leer war, habe ich es in keinem Geschäft mehr gefunden, mit den anderen Gewürze hat es nicht funktioniert, sie schmecken mir einfach nicht, also habe ich keinen Lachs mehr gekauft. Da sind auf einmal Stände, die ich noch gar nicht kenne, eine Frau die selbstgemachte Seifen verkauft, ein Wagen mit geräucherten Forellen, sie sind mir gleich, ich gehe an ihnen vorbei, ich komme nur wegen der Tomaten zum Markt, mein Gemüsehändler steht ganz unten, es ist der letzte Stand.
Mein Gemüsehändler ist eine schwere Person, ein gedrungener Mann ungefähr in meinem Alter, vielleicht aber auch ein paar Jahre älter, das ist schwer zu schätzen. Ich glaube, er ist Türke, ich weiß es nicht genau, ich habe ihn auch nie gefragt, warum sollte ich das tun? Es geht mir vor allem um seine Tomaten, es sind die einzigen, die ich esse. Er sieht mich schon kommen, doch es ist viel Betrieb, da sind noch einige Kunden vor mir dran, er arbeitet auch nicht alleine, er hat zwei oder drei Frauen beschäftigt, sie wiegen Kartoffeln ab oder packen Orangen aus blaufolierten Kisten, ich warte. Er hebt seine Hand, es ist eine große, schwere, fleischige Hand, fast schon eine Pranke und winkt mich heran. Wir reden nur selten miteinander, und wenn, wechseln wir ein paar Worte über das Wetter oder irgendeine andere banale Begebenheit, es bleibt immer unverfänglich. Trotzdem glaube ich, er würde mich verstehen, er würde mir zuhören. Vielleicht glaube ich das, weil er mich noch nie etwas gefragt hat, weil er so gar nichts von mir wissen will, er weiß von mir nur, dass ich bei ihm Tomaten kaufe, ich habe nie etwas anderes von ihm verlangt außer den Tomaten, es ist eine stille Übereinkunft. Ich sehe ihm dabei zu, wie er mit seiner Pranke in die Auslage greift und eine Rispe Tomaten herausnimmt, wie er sie hochhält, mir anpreist, es sind hellrote, pralle Tomaten, gute Tomaten. Ich nicke, und er legt sie auf die verchromte Waage und verpackt sie danach in eine seiner braunen Tüten; das sind gute Tüten, aus festem, steifen Packpapier, ich bewahre die Tomaten immer in der Tüte auf, bis ich die letzte verbraucht habe.
Mein Gemüsehändler weiß genau, wie viele Tomaten ich haben will, es sind nie zu viele oder zu wenige, es ist immer die genau richtige Menge, und ich frage mich, wie er das eigentlich macht? Wahrscheinlich ist es die jahrelange Erfahrung, die Hand hat eben ihr eigenes Gedächtnis, fünfhundert Gramm, ein Kilo, drei, vier … Ich reiche ihm den Zwanziger, den ich die ganze Zeit über zusammengefaltet in meiner Faust mit mir herumgetragen habe und nehme die Tüte entgegen. Er sammelt das Wechselgeld aus einem abgegriffenen Lederbeutel, und als ich sage, er solle doch aufrunden, da lächelt er und nickt wieder. Dann gibt es diesen kurzen, flüchtigen Moment, der wie ein Korridor ist, der sich vor einem eröffnet, und in dem man vielleicht einen Eingang in die Welt des anderen findet, in die Welt und die Gedanken, die ansonsten abgeschlossen, verschlossen bleiben, warum sollte das nicht möglich sein? Ich stehe da mit der Tüte in der Hand und merke, wie sich der Korridor langsam zu schließen beginnt, er wird nur solange überdauern, bis der Schein übergeben ist, fast ist es wie damals im Keller, die Uhr läuft immer gegen einen, und ich will meinem Gemüsehändler vom schlimmsten Tag meines Lebens erzählen, ich habe es mir fest vorgenommen, doch dann halte ich den Schein in der Hand und der Moment ist vorbei. Ich kann nur noch die Hand mit dem Schein darin zur Faust ballen, dann geht das Licht mit einem kurzen Klacken aus und ich stehe wieder in der Dunkelheit, warte auf den Mottenmann, die hungrige Ratte.
Ich war immer für das Dableiben, das Wurzeln schlagen. Ich nehme also die Tüte aus braunem Packpapier, in der sich die frischen Tomaten, meine frischen Tomaten befinden und gehe. Ich kenne hier jeden Stein, das sagt man so daher, aber wahrscheinlich entspricht es tatsächlich der Wahrheit; ich kenne hier jeden Stein und jede Tomate. Diesmal gehe ich nicht über die Hauptstraße, manchmal braucht man eben etwas Abwechslung, will mal etwas anderes sehen, deswegen gehe am Mühlengraben entlang, auf einem schmalen Schotterpfad direkt am Wasser, der Mühlengraben ist ein schmaler Bach, der ganz ruhig in seinem Bett dahin fließt. Im Sommer, besonders an den Morgenden, wenn die Sonne gerade aufgegangen ist und noch nicht ganz ihr hellstes Licht erreicht hat, dann kommt es einem hier sicherlich wie in einem Dorf am Mittelmeer vor, vielleicht in Italien oder Griechenland; man glaubt fast, man kann das Meer riechen. Doch das ist nicht der Grund, warum ich diesen Weg gewählt habe, der Grund dafür ist ein anderer: von hier aus, von diesem Pfad am Wasser aus kann ich die Rückseite des Hauses sehen, des Hauses, in dem ich aufgewachsen bin. Vor allem kann ich das Fenster sehen, es ist das einzige Fenster, das zum Hof hinausgeht, es ist das Fenster meines ehemaligen Zimmers, meines Kinderzimmers, wenn man es genau nimmt, denn das war ich, ein Kind.
Ich mochte mein Zimmer. Ich mochte es mich darin aufzuhalten, es nicht verlassen zu müssen. Es war kein großes Zimmer, nicht sehr geräumig, aber es reichte mir, ich brauche nicht viel Platz, das habe ich noch nie. Wieviel Platz braucht ein Mensch denn schon? Ich glaube, ich bin mir sicher, dass ich die flaschengrüne Schüssel schon damals besessen habe, sie stand schon damals auf dem Tisch in meinem Zimmer, und jetzt, heute, da steht sie auf einer Kommode in meinem dunklen Flur. Ich weiß noch, wie ich aus dem Fenster auf Hof und Garten geschaut habe, ich habe hinausschauen können, denn es war und ist das einzige Fenster auf der Rückseite, und es war ein schöner Ausblick; die große Linde, der alte Verhau am Ende der Mauer, der Pavillon der Nachbarn, der fleckig grüne Rasen, das Laub. Dahinter schien die Welt nicht mehr zu existieren, vielleicht gab es dort schon noch eine Welt, jedoch eine andere Welt, nicht die, die ich kannte, in der ich mich auskannte. Wenn ich das Haus jetzt so sehe, wenn ich es aufmerksam betrachte, es langsam und sorgfältig erfasse, die glatte Struktur der verputzten Wand, die glänzenden Dachpfannen, natürlich hat es sich verändert, die Eigentümer haben sicher einiges investiert, es modernisiert, trotzdem denke ich altehrwürdig, es ist immer noch ein altehrwürdiges Haus, in Würde gealtert. Ich bleibe stehen, so wie ich früher im Keller stehen geblieben bin und schließe die Augen, es hat mittlerweile aufgehört zu regnen, der Wind bringt den Geruch von Asphalt und Morast und Schilf mit sich.
Ich gehe noch ein paar Schritte, da vorne ist eine Bank, auf die werde ich mich setzen und ausruhen, nur ein paar Minuten. Das Holz ist noch feucht vom Regen, aber das macht mir nicht aus, ich setzte mich trotzdem, lege die Papiertüte mit den Tomaten in meinen Schoß. Saudade ist das Wort, dass die Portugiesen für jenen Gemütszustand verwenden, ich hatte es vergessen, und jetzt, wo ich auf dieser Bank sitze und auf den Mühlengraben schaue, das Wasser fließt so langsam fließt, als würde es sich gar nicht bewegen, da fällt es mir mit einem Mal wieder ein: saudade. Nicht nur eine Sehnsucht nach dem Unwiederbringlichen, nach der vergangenen, verlorenen Zeit, denke ich, sondern vielleicht auch nach einer Zeit, die es so nie gab, nie gegeben hat. Erinnerungen können einen schließlich täuschen, man belügt sich selbst, man will überleben. An was erinnert sich mein Gemüsehändler? Hat auch er eine flaschengrüne Schlüssel, an der er über die Jahrzehnte festgehalten, die ihn begleitet hat? Ein Königreich, einen Keller? Ich habe ihm nicht vom schlimmsten Tag meines Lebens erzählt, ihm davon berichtet, was mir geschehen ist, aber das werde ich noch tun, irgendwann gibt er mit ein Zeichen, so wie mir der Keller immer ein Zeichen gegeben hat: er wird seine kräftige Pranke auf eine bestimmte Art heben, ein anderes Lächeln über die Lippen bringen, es wird mir auffallen, da bin ich sicher.
Ich öffne die Tüte, fasse die Tomaten an, ihre Schale ist genau richtig, nicht zu fest, nicht zu weich, mein Gemüsehändler kennt sich aus, der Weg lohnt sich jedesmal. Ich nehme eine Tomate heraus, wiege sie in der Hand; ich esse nur diese Tomaten, keine anderen.