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Der Weg zurück

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25.06.2020
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Der Weg zurück

Es ist dunkel. Ganz weich und zart, ihre Höhle aus schwarzer Seide. Mit nervösen Fingern greift sie zu einer Lage Stoff und festigt ihr Inneres mit der nächsten Schicht. Tag für Tag spinnt sie den Rand enger, verbannt Licht und Wärme hinter seidenen Wänden. Jedes dunkle Tuch ist eine Antwort auf die Geräusche der Welt. Sie verkleinert ihren Schlupf. Leert ihn. Macht ihn sicher. Das ist gut so. Sie ist nicht allein. Sie teilt ihre Zeit mit der Einsamkeit.

*

Das Rauschen ertönt. Es klingt fern, aber sie weiß, dass es da ist. Ihr Versteck umschwappt und nach Schwäche befühlt. Sie greift nach einem Tuch und wickelt sich hinein. Seide streichelt ihre Gestalt wie flüssige Nacht, kühl und liebkosend. Das Rumoren des Lebens umschwirrt ihren dunklen Hafen, wird leise und laut und findet doch keinen Weg zu ihr. Es schwillt an, lässt den Kokon erzittern. Sie verschließt die Augen und legt ihre Hände fest darauf, weil Finsternis allein nicht reicht.

*

Die Außenwelt beruhigt sich und sie weiß, dass es vorbei ist. Für heute. Und doch echot ihr Körper die bedrohliche Resonanz des Unbekannten. Ihr Leib zittert in Eigenregie, Wellen der Angst spülen aus ihren Gliedern. Im Takt ihrer psychischen Gezeiten wippt sie vor und zurück, bis die Ebbe ihr Erlösung bringt. Langsam zieht sie die Seide von ihren Schultern und spannt sie als schützendes Dach über sich. Schlingt die Arme um die Knie. Wartet auf den nächsten Angriff.

*

Lange bleibt es still. Wachsam horcht sie durch die Schichten ihrer Höhle. Da ist etwas. Ein Geräusch, das sie nicht kennt. Oder? Es ist fremd, und weckt doch Erinnerungen. An eine Zeit ohne einsames Seidenversteck. Leises Wispern umspielt sie, rieselt wie sanfte Tropfen auf die Tücher. Sie tastet nach ihrer Schutzdecke, zögert aber. Was sind diese Laute? Ein Plätschern entwickelt sich, ganz anders als die groben Töne, die ihren Schlupf heimsuchen.
Wie im Sog des hypnotischen Klangs hebt sie den Arm. Streckt die Hand nach vorn. Entfaltet ihre Finger, bis sie auf den seidenen Schutzwall treffen. Der erste Dominostein fällt.

*

Ein Tuch nach dem anderen flattert zu Boden, wie schwarzes Federkleid. Lässt sie gerupft und weich zurück. Angreifbar. Erschrocken presst sie die Hände vors Gesicht. Wartet auf den Schlag. Wartet. Das Plätschern ist weg, vollkommene Stille wabert um sie.
Dann tröpfeln sie langsam auf sie herab. Fremde Empfindungen bahnen sich Weg über ihre zarte Haut. Erkunden das Geschöpf, das ihre Welt betreten hat. Zögernd hebt sie den Kopf, ihre Augen fest geschlossen. Sie spürt Freude von ihren Händen perlen, Lust über ihren Nacken streichen. So sanft, so voller Neugier. Blind befreit sie ihr Gesicht, lässt vosichtig die Deckung sinken.
Und erstarrt.

*

Ungehindert tritt die Welt über ihre Schwelle. Die Empfindungen sind intensiv, fordernd. Bauschen sich auf. Die geballte Kraft ihrer Flut reißt sie fast um, droht sie in die Tiefen zu ziehen und mit allem zu ertränken. Übermut schnürrt ihr die Luft ab, Hoffnung krallt sich an ihre Brust. Euphorie dringt in sie ein und bläst sich auf bis sie fürchtet zu platzen. Sie wirbelt im Strom umher. Krümmt sich zusammen und wartet, bis das Chaos sie verschlingt.
Als löse sich ein gewaltiger Stöpsel, lassen die Empfindungen nach. Ihre Starre fällt ab und mit zwei kräftigen Tritten durchbricht sie die Oberfläche, schnappt nach Luft. Schlägt die Hände vors Gesicht. Das war ein Fehler.

*

Die stürmische Welt verwandelt sich in sanftes Plätschern. Trägt sie auf schaukelnden Wellen. Hält Abstand. Feiner Sprühregen rieselt auf ihre Hände, kitzelt und lockt fröhlich. Vielleicht ist es nicht so schlimm. In Millimeterarbeit schiebt sich ihr Zeigefinger zur Seite. Sonnenlicht tanzt auf ihren Lidern. Sie öffnet ein Auge. Die Wimpern heben sich schwer, blinzeln ewige Dunkelheit ab. Eine finstere Träne kriecht über ihre Wange und verschwindet im hellen Blau der Welt. Sonnenstrahlen lecken über ihr Gesicht, waschen die klebrige Einsamkeit fort. Sie fühlt sich so leicht.

*

Sie wimmert. Lässt die Hände fallen. Reißt den Blick gierig nach oben. Lidlos starren die Augen ins Licht, während schwarze Bäche aus ihnen stürzen.
Stumm weint sie ihre Seele aus. Wut, Enttäuschung, Hass rinnen dickflüssig wie Pech über ihre Wangen. Die Sonne fängt es auf und trägt es davon. Ihre heilenden Strahlen wandern kundig über ihre Brust und dringen sanft in sie ein. Spülen ihren Kern aus und füllen ihn mit Wärme. Mit Stärke.

*

Die Tränen, die sie nun weint, perlen weiß und leicht aus den Winkeln ihrer Augen. Ziehen eine leuchtende Spur auf ihrer Haut und verfangen sich in ihrem Lächeln.

 

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