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Der Weg zur Hölle
Nun ist es also vorbei, denke ich und gehe ins Badezimmer. Wir haben die Trauerfeier mit Anstand hinter uns gebracht. Ich sehe in den Spiegel und in verquollene Augen. Er ist weg. Mein kleines Brüderchen. Erst hatte ich es nicht glauben können. Der kleine Junge, der mir immer hinterher gelaufen ist, der sofort flennte wenn er seinen Willen nicht bekam, dem ich mit der Geschichte vom Candyman so eine Angst gemacht hatte, dass er sich nicht mehr alleine ins Bad traute. Die drei Jahre Altersunterschied zwischen uns kamen mir damals wie Jahrzehnte vor. Tja, der kleine Junge war erwachsen geworden, denke ich, während ich die Dusche anstelle und mich aus meinem schwarzen Kleid schäle. So weit man 19 als erwachsen bezeichnen kann. Zumindest war er erwachsen genug, um ständig zu saufen, seine Lehre zu schmeißen und seine Mutter in die originellsten Nervenzusammenbrüche zu stürzen. Auch mit mir hatte er den Kontakt immer mehr abgebrochen. Er hatte sich gefreut, wenn ich mich meldete und hatte auch meine Belehrungen, sein Leben in den Griff zu kriegen geduldig ertragen. Aber aus den ausgemachten Treffen wurde nie etwas, bis ich aufhörte anzurufen. Jetzt ist er tot. Bei einem Brand ums Leben gekommen, wie man’s immer im Fernsehen sieht. Und ich kann nur daran denken, wie er mir hinterher lief oder im Bad unter den Spiegeln entlangkrabbelte, um nicht hineinsehen zu müssen. Mir laufen Tränen über die Wangen, vermischen sich mit dem Duschwasser. Er fehlt mir.
Ich drehe die Dusche aus und trete in die feuchte und heiße Luft. Ich beginne mich abzutrocknen, erstarre aber in der Bewegung, als ich zum Spiegel sehe. Er ist beschlagen, bis auf eine Stelle, die eine Sieben bildet. Mein erster Gedanke ist, ich hab einen Einbrecher im Haus, der Filme imitiert. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich schnappe mir meinen Bademantel und gehe in den Flur. Langsam schleiche ich in jeden Raum. Sieht alles wie immer aus, nichts verwüstet oder gestohlen. Was jetzt? Polizei rufen?
Schönen guten Abend. Bitte kommen sie schnell, in meiner Wohnung wurde eingebrochen. Gestohlen wurde nichts aber ich habe ein Zahlenrätsel per Spiegelbotschaft erhalten. Stimmt, schön das es noch bekloppte Verbrecher gibt.
Okay, Polizei ist ne blöde Idee. Wahrscheinlich war’s sowieso nur Einbildung. Zu viel Stress. Ich höre ein Poltern in der Küche und fahre zusammen. Aggressiver Stress denke ich noch und stürme durch die Küchentür.
Die Stühle springen hoch und runter. Ich stehe mit offenen Mund da und kann nur denken, warum springen die Stühle hoch und runter? Dann erklingt ein Lachen. Aus den Schränken. Okay, das war’s. Jetzt kommen die netten Männer mit den hübschen weißen Jäckchen. Als ich zum Schrank gehe, sind meine Beine taub. Das Lachen kommt aus einem hohen Schrank, drei Schranktüren übereinander. Ich mache die oberste Tür auf und sehe…Beine? Tatsächlich, ganz oben 2 Turnschuhe, darunter 2 Beine in Bluejeans. Ich starre sicher eine halbe Ewigkeit darauf, dann mache ich den untersten Schrank auf. 2 Hände stützen sich auf dem Boden ab, darüber verlaufen 2 Arme nach oben. Ich atme tief durch und öffne die mittlere Schranktür.
„Buuuuh“. Es ist wie in diesen Horrorfilmen, wo man genau weiß, jetzt kommt die übelste Schreckszene. Aber anstatt darauf vorbereitet zu sein und gelassen zu bleiben erschreckt man sich noch mehr. Ich taumle nach hinten und stolpere über meine eigenen Füße. Glücklicherweise ist einer der Stühle so freundlich, hinter mich zu hüpfen und mich aufzufangen. Mein Bruder, mein toter Bruder macht Handstand in meinem Küchenschrank! Ich mache den Mund auf, hole dreimal Luft und schreie in Tonlagen, auf die Tina Turner neidisch wäre. Mit einem Salto kommt er auf die Füße und hält mir die Hand vor den Mund. Eine tote Hand! Ich stöhne darunter und will aufspringen, aber er drückt mich zurück auf den Stuhl.
„Jana, jetzt sei gefälligst leise!“ Ich höre auf mich zu wehren und er lässt mich sofort los.
„Marcel?“
Er grinst. „Wie er leibt und, na ja, tot ist.“
Ich stehe auf und streiche mit meiner Hand über sein Gesicht, berühre seine Brust und kann trotzdem nicht glauben, dass er vor mir steht.
„Könntest du dieses Gefummel lassen? Ist ja furchtbar.“ Aber er lächelt als er das sagt und zieht mich nach kurzem Zögern in seine Arme. Das ist ein Traum. Meine Art, die Trauer zu verarbeiten. Aber irgendwie glaube ich das nicht oder will einfach glauben, er ist wirklich wieder da. Er lässt mich los und wir stehen voreinander.
„Aber wie, warum, was machst du denn in meinem Küchenschrank?“
„Ich brauch deine Hilfe.“ Er setzt sich auf einen der Stühle, ich mich ihm gegenüber. Diese haben sich glücklicherweise wieder beruhig und stehen still.
„Also, nachdem ich gestorben bin, bin ich direkt in den Himmel gefahren.“
„Wie das denn? Du hast doch dein Leben lang nur Mist gemacht.“
Ich will mir nach dieser Bemerkung auf die Zunge beißen. Aber er ist nicht beleidigt. Er lächelt mich an und ich sehe wieder den 8-jährigen Jungen in dem über 1,85 großen Mann, der vor mir sitzt. Einen Herzschlag lang liebe ich ihn mehr als jemals zuvor.
„Als ich in dem brennenden Haus war, hab ich bevor ich gestorben bin, ein Mädchen aus dem Fenster gehoben. Danach ist mir schwarz vor Augen geworden.“
„Du hast ein Mädchen gerettet?“
„Ja. Vielleicht erinnerst du dich noch an sie. Eine 6-jährige Afrikanerin. Sie war auch in den Nachrichten.“
Ich erinnerte mich an die Kleine. Bei einem Bericht über den Brand sah man sie in die Arme ihrer Mutter gekuschelt. Sie war mit einer leichten Rauchvergiftung davon gekommen.
„Anscheinend hat mir das so viele Punkte gebracht, dass sie mich doch in den Himmel gelassen haben.“
„Ist doch toll.“
„Toll? Es ist schrecklich! Die singen da das ganze Jahr Weihnachtslieder. Als ich eine Frau bei einem Date gebeten habe mir einen zu blasen hat sie angefangen zu heulen. Und denkst du da gibt’s nur einen Schluck Alkohol?“
„Und was willst du jetzt machen?“
„Na was wohl, ich will runter.“ Er deutet dabei auf den Fußboden.
„Aber Hölle ist doch auch Kacke. Fegefeuer und ewige Qualen und so weiter.“
„Denkste. Wir haben einen Ausflug dahin gemacht. Willige Weiber, Glücksspiel und saufen bis zum abwinken. Das ist ein riesiges Las Vegas da unten. Aber der Rat lässt mich nicht weg.“
„Was ist denn der Rat?“
„Ein Haufen Arschlöcher, die sich selbst für Gott halten. Der kümmert sich nämlich einen Scheiß um die Probleme im Himmel. Er lässt das seine Speichellecker machen.“
„Und wie willst du dann in die Hölle kommen?“
„Durch eine wirklich böse Tat. Ich hab heute Nacht Urlaub und Zeit irgendwas anzustellen, dass sie berechtigt mich runter zu schicken.“
„Was willst du denn machen?“ Ein flaues Gefühl regt sich in meinem Magen.
„Du willst doch niemand umbringen, oder?“
„Quatsch, so extrem muss es nun nicht sein.“
„Du willst doch keine Frau vergewaltigen?“
„Nein, dass ist auch zu extrem.“
„Raubüberfall?“
„Nee, ist auch nicht gut.“
„Was denn sonst? Willst du einem Baby den Schnuller klauen, oder was?“
„Blödsinn. Doch nicht so einem armen Kind.“
„Na aber wenn du in die Hölle willst, musst du dir schon was einfallen lassen.“
„Wie wär’s mit einem Einbruch?“
Ich zucke mit den Schultern. „Weiß nicht, ob das reicht.“
„Doch bestimmt. Wir könnten doch in das Riesenhaus von Seidlers einbrechen.“
„Wieso wir? Als Geist kriegst du einen Einbruch doch auch alleine gebacken.“
„Ich will dich eben dabei haben. So wie früher. Wir haben doch nur Blödsinn gemacht, bevor du spießig wurdest.“
„Ich bin nicht spießig geworden! Ich hab nur versucht alles auf die Reihe zu kriegen.“
„Reg dich nicht auf. Ich nehms dir ja nicht übel. Dir war Mums Anerkennung immer wichtig. Also hast du das liebe Mädchen für sie gespielt.“
„Und du hast sie einfach im Stich gelassen.“
Ich hab ihn verletzt, das sehe ich. Aber er uns eben auch.
„Kommst du jetzt mit oder nicht?“ Er sieht mir ernst in die Augen.
„Ich komme mit.“
Er geht durch die Tür und öffnet mir dann von innen.
„Immer rein in die gute Stube.“
Das Haus ist beeindruckend, aber sehr kalt eingerichtet. Von dem ganzen Deko- Zeug mit dem ich meine Wohnung zugeknallt habe, ist hier weit und breit nichts zu sehen.
„Ich würde sagen, nimm mit was du möchtest. Dann richten wir ein wenig Chaos an.“
Nachdem ich mich im Erdgeschoss gründlich umgesehen habe, gehe ich auf einer Wendeltreppe aus Marmor nach oben. Von den Parfumflaschen im Bad lass ich ein paar mitgehen, riecht echt lecker. Dann gehe ich zur gegenüberliegenden Tür und mache sie auf. Das Zimmer liegt im Halbdunkel, sieht wie ein Gästezimmer aus. Ich knipse das Licht an und schreie auf. Eine junge Frau liegt nackt und gefesselt auf dem Bett. Ihr dickes Make-Up zeigt Spuren von Tränen, ihre Schreie werden durch einen Knebel gedämpft. Blaue Flecken und Schnittwunden übersähen ihren Körper. Ich höre Marcel nach oben kommen.
„Was ist denn los?“ Er kommt neben mir zu stehen und sieht die Frau an.
„Wir müssen sie los machen.“ Ich will zu ihr gehen, aber er hält mich zurück.
„Aber wenn ich als meine böse Tat eine Frau rette, dann komm ich doch nie in die Hölle.“
„Wir können sie ja nicht einfach hier liegen lassen.“
Er seufzt.
„Na fein, ich mach sie los und du siehst zu, dass du noch ein bisschen was zusammenklaust.“
Ich renne aus dem Zimmer. Ich will nur noch weg und haben will ich hier auch nichts mehr. Ich reiße die Bilder von den Wänden, stoße eine Vase um und gebe mein Bestes, um wenigstens etwas Chaos anzurichten. Ich bin völlig durch den Wind und will die Treppe runter. In der Eile vergesse ich völlig wie glatt Marmor ist und rutsche übel aus. Oben und Unten wechseln ständig die Position, ich spüre einen starken Schmerz im Genick, dann Dunkelheit.
Als ich erwache höre ich den Lärm. Ich schlage die Augen auf und sehe grau. Eine graue Wand, genauer gesagt. Als ich nach unten blicke merke ich, dass ich auf einer alten, versifften Matratze liege.
„Hey Kleines.“ Vor mir steht ein Mann, vielleicht so um die 50. Er ist dreckig und ungepflegt, es geht ein ekelhafter Geruch von ihm aus. Plötzlich zieht er die Hose runter.
„Jetzt zeig mal was du kannst.“
Trotz meiner schlimmen Kopfschmerzen springe ich auf und renne an ihm vorbei aus dem Raum. Ich finde mich in einer Art Disco wieder. Frauen nackt oder in Reizwäsche laufen an mir vorbei, fast jede einen Mann im Arm. Ich schiebe mich an der Wand entlang und biege in einen Gang ein. Dieser endet in einer Sackgasse. An der Wand befinden sich 2 Fahrstühle.
„Ey, da darfst du nicht hin!“
Ich drehe mich um und hinter mir steht ein Junge, vielleicht 15 Jahre alt.
„Wo geht’s denn da hin?“
„Nach oben natürlich.“
„Wo bin ich hier und wie bin ich her gekommen?“
„In der Hölle. Genickbruch, nimms nicht so schwer.“
„Aber wieso bin ich hier?“
„Du hättest kurz vor deinem Tod keinen Bruch mehr machen sollen.“ Das war doch echt nicht zu fassen.
„Weißt du wo mein Bruder ist?“
„Im Himmel. Er hat ja noch die Frau gerettet. Sie ist wieder glücklich bei ihrem Mann. Also dann, ich muss mal weiter.“
„Woher weißt du das eigentlich alles? Du bist der Teufel, richtig?“
„Nö. Bin nur gestorben, als ich das Auto von meinem Alten geklaut und eine Spritztour gemacht habe. Und jeder hier weiß wer du bist, die lachen sich alle halb tot über die Story.“
Er schlendert gemütlich davon.
Hinter mir gehen die Fahrstuhltüren auf und ich mache einen erschreckten Satz nach vorne. Ich drehe mich um und Marcel steht vor mir. Er ist ganz in weiß gekleidet.
„Bin ich froh dass du da bist.“ Ich würde ihm am Liebsten um den Hals fallen.
„Ich bin hier um dich zu retten.“ Ich atme auf, aber sein verschlagener Blick macht mir Sorgen. Er nimmt meine Hände in seine und hält sie wie zum Gebet nach oben. Er versucht, eine förmliche Miene zu machen, kann sich aber kaum das Lachen verkneifen.
„Gott schickt mich, um deine verdorbene Seele zu läutern. Du musst deine Sünden bereuen, mein Kind. Lasset uns beten.“