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Der weiße Fluss

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16.08.2018
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Der weiße Fluss

„Es ist normal, dass man sich keine Erinnerungen aussuchen will, weil man sich dann endgültig vom Leben trennt“, sagte ich zu ihr.
„Ich weiß ja nicht mal was für eine Erinnerung ich nehmen soll. Also was für eine Art Erinnerung. Verstehen Sie was ich meine?“, murmelte sie ohne ihren Blick von ihren Fußspitzen zu heben.
„Ja ich verstehe. Auch das ist normal. Die meisten Leute suchen sich entweder den Moment aus, an dem sie am glücklichsten waren, oder der sie am meisten definiert hat. Du musst dir nur im Klaren sein, dass deine gesamte Person an diesem einen Schnappschuss aus deinem Leben verankert sein wird. Wenn du einfach nur fröhlich und gut gelaunt sein möchtest, dann wähl die glücklichste. Wenn du so sein willst, wie du jetzt bist, dann wähl die einschneidendste. Daran orientieren sich meistens die Toten, die auf deinem Platz dort sitzen.“
„Na gut, alles klar“
Kurz schaute sie auf und sah mir in die Augen, bevor ihr Blick wieder zu Boden wanderte.
„Nein, eigentlich ist nichts klar. Ich weiß … ich weiß gar nicht …“
Sie verstummte und sank tief in ihren Sessel zurück, in dem sie sehr verloren aussah. Ich sollte in einer freien Minute mal meinen Chef nach einem etwas bescheideneren Stuhl fragen, auch wenn der womöglich nicht so komfortabel wäre. Aber vorerst entschied ich mich dazu ihr all den Komfort zu geben, den sie brauchte. Gerade benötigte sie vor allem Zeit. Zeit zum Nachdenken und Zeit zum Entscheiden. Zeit, die sie nicht hatte, doch das musste sie jetzt nicht erfahren.
Nach ein paar Minuten Stille straffte sie sich und sah mich wieder an.
„Was passiert denn, wenn ich mir eine Erinnerung ausgesucht habe?“, wollte sie wissen.
„Nun, dann schicke ich dich nach oben zu Frau Rosenzweig, die kümmert sich um die Details. Danach bist du frei.“
„Frei? Na toll. Und wenn ich nicht frei sein will, wenn ich wieder nach … naja, wo auch immer ich vorher war, will, was dann?“
„Nun, das ist eine Realität, mit der du dich abfinden musst. Es gibt keinen Weg mehr zurück ins Leben“
„Was ist mit dieser alten Steinbrücke, über die ich vorhin gegangen bin? Kann ich nicht einfach wieder auf die andere Seite laufen?“
Ich lächelte sie einfühlsam an und stand auf.
„Komm mal mit ans Fenster, ich möchte dir was zeigen“
Unsicher kletterte sie aus dem Sessel und folgte mir. Mit ihren kleinen Schritten brauchte sie erstaunlich lange, um das leere Büro zu durchqueren.
„Siehst du auf der anderen Seite vom weißen Fluss? Diesen Nebel dort hinten? Das ist das Leben. Von dort bist du gekommen. Die …“
„Nein, bin ich nicht!“, unterbrach sie mich, „Ich bin über eine Brücke gekommen! Da ist keine! Das kann nicht sein!“
„Ja, du bist über eine Brücke gekommen. Aber wie gesagt, es gibt keinen Weg zurück ins Leben. Die Brücke ist verschwunden. Das wollte ich dir zeigen. Sie wird erst wieder auftauchen, wenn die nächste Person sich vom anderen Ufer trennt. Aber dann musst du bereits von hier weg sein.“
„Warum das?“, fragte sie.
„Es sterben viele Menschen, und wir sind hier nur wenige, wir können nur eine Person zurzeit auf das Dasein danach vorbereiten. Deswegen musstest du auch direkt in mein Büro. Die Zeit drängt.“, sagte ich und führte sie wieder zurück zu meinem Schreibtisch und dem Sessel auf der anderen Seite des kahlen Raumes.
„Und was passiert, wenn ich mich nicht für eine Erinnerung entscheiden kann?“
Ein trauriges Lächeln huschte über mein Gesicht.
„Ich kann immer eine Assistentin gebrauchen, aber ich glaube nicht, dass du wirklich hierbleiben oder womöglich … ähm, durch die Ritzen fallen möchtest. Mein Chef erzählt tolle Dinge vom Dasein dort oben.“ Ich deutete zur Decke. „Es klingt auf jeden Fall besser, als ein Bürojob hier, sagen wir es mal so.“
„Oh. Okay, ich verstehe. Darf ich fragen, warum Sie …“
„Hier geht es um dich, nicht um mich. Also … hast du schon eine Idee, welche Art von Erinnerung du mitnehmen möchtest? Oder vielleicht bereits ein paar Kandidaten?“
„Kandidaten habe ich schon, aber die … die sind nicht, naja, genug. Das sind nur Momente, nur Stichproben, wissen Sie? Diese Momente, das bin nicht ich. Ich kann mich selbst doch nicht auf eine einzige Erinnerung herunterbrechen! Das funktioniert nicht!“
„Ich weiß, ich weiß. Das war damals auch mein Problem. Aber ich sag dir mal was. Wenn du kein einzelnes Ereignis in deinem Leben hattest, das dich besonders stark verändert hat, dann wähle einen Moment, von dem du dir wünschen würdest definiert zu werden. Vor allem Leute in deinem Alter wählen oft diesen Weg.“
„Sind sie sich sicher, dass man das so machen sollte?“
„Absolut. Aber erzähl mir doch erstmal von deinen Kandidaten, vielleicht kann ich dir ja bei der Auswahl helfen.“
„Also … ich könnte natürlich meine Hochzeit nehmen.“ Kurz hellten sich ihre Züge auf. „Da war ich neunzehn. Aber ich möchte nicht … ich will nicht, dass ich ihn als einen guten Mann in Erinnerung halte. Und die Jahre danach fallen sowieso weg.“
Geistesabwesend strich sie sich über eine kleine Narbe an ihrer Wange.
„Obwohl, sie haben mich schon zu der Person gemacht, die ich heute bin …“
„Wenn dich die Erinnerung unglücklich macht, dann würde ich lieber eine andere nehmen. Du möchtest schließlich nicht die Unendlichkeit in Trauer verbringen.“
„Ja, Sie haben Recht. Dann vielleicht aus meiner Kindheit?“
„Kann man machen, aber es zieht ein paar Sachen mit sich. Ich empfehle es dir nur, wenn du wirklich ausschließlich unglückliche Erinnerungen als Erwachsene hast. Das Problem ist, dass es dazu führen könnte, dass deine Seele … nun ja, unterentwickelt bleibt. Kommunikation mit den anderen Toten könnte schwierig werden. Du könntest nicht beim großen Gesang mitmachen. In Extremfällen ist es sogar schon vorgekommen, dass Seelen mit sehr frühen Erinnerungen ihre Form nicht stabilisieren konnten und was dann passiert, will man sich nicht vorstellen. Deshalb sollte man eher Momente auswählen, in denen man schon einen gewissen Grad an Reife und Identität erreicht hat. Also frühstens ab dreizehn oder vierzehn Jahren.“
„Okay. Einen besonders großen Zeitraum lässt mir das ja nicht. Ich habe meinen Mann mit siebzehn kennengelernt, vor fünf Jahren, ab dann hat sich alles nur noch um ihn gedreht. Und danach …“
Ich spähte an ihr vorbei durchs Fenster. Die dunklen Schemen der Brücke hoben sich bereits wieder vom Weiß des Flusses ab.
„Also sprechen wir vom Zeitraum zwischen vierzehn und siebzehn“, unterbrach ich sie, um etwas schneller voran zu kommen, „Es muss ja keine perfekte Erinnerung sein, nur eine sehr gute, die dir das Dasein erleichtert.“
„Ja aber … ich weiß nicht“
Sie seufzte. Hinter ihr sah ich bereits einen Schatten langsam über die Brücke schreiten.
„Erzähl mir von schönen Momenten, die sich in dieser Zeit ereignet haben.“
Ich versuchte ruhig zu bleiben, aber der Schatten wurde immer klarer und kam näher.
„Mein sechzehnter Geburtstag war toll. Oder der Urlaub in Norwegen, der war auch gut, aber …“
„Urlaub in Norwegen! Klingt doch klasse. Gabs da irgendwelche besonderen Ereignisse, irgendwas das hervorsticht, ein Highlight?“
Sie lehnte sich wieder zurück und dachte nach, während ich durch das Fenster spähte. Mittlerweile war schon klar zu erkennen, dass ein gebückt gehender Mann über eine mittelalterliche Steinbrücke wanderte. Es blieb nicht mehr viel Zeit.
„An einem Morgen bin ich um sieben Uhr aufgewacht und habe mich auf den Steg gesetzt. Ich habe beobachtet, wie die Sonne aufgegangen ist und das Licht sich auf dem glatten See gespiegelt hat.“
„Wundervoll. Wirklich fantastisch. Ich finde du solltest diese Erinnerung nehmen.“
Der gebückte Mann trat von der Brücke herunter. Ich schnappte mir einen Vertrag vom Stapel und begann den Moment so schnell es ging zu beschreiben.
„Finden Sie? Es gibt doch bestimmt eine bessere …“
„Nein nein, das ist hervorragend. Und außerdem vergisst du ja eh alle anderen Ereignisse deines Lebens, also wirst du Nichts vermissen.“
Ein Glockenschlag hallte durch das Gebäude. Ein neuer Toter war angekommen.
„Was war das?“, wollte sie wissen.
„Nicht so wichtig. Hier.“ Ich schob ihr den Vertrag mit gekritzelten Stichpunkten rüber. „Einmal bitte unterschreiben.“
Unsicher setzte sie ihren Namen unter das Dokument.
„Sind Sie sich sicher? Ich …“
„Ja, absolut. Selten so eine schöne Erinnerung gehört. Wirklich toll. Also gut. Mit diesem Zettel gehst du jetzt links die Treppe hoch, klopfst an der zweiten Tür rechts und fragst nach Frau Rosenzweig, verstanden? Die kümmert sich dann um alles.“
Langsam stand sie auf und ging zur Tür. Sie machte gerade Anstalten zu gehen, als sie sich noch einmal umdrehte.
„Äh, Danke für ihre Hilfe. Das war wirklich …“
„Gar kein Problem, ist schließlich mein Job.“
Sie lächelte mir schüchtern zu, bevor sie weiter ging und die Tür hinter sich schloss.
Ich atmete tief durch und schob mir die Haare aus dem Gesicht. Kurz überlegte ich, ob ich aufstehen und ihr hinterhereilen sollte, blieb dann aber doch sitzen. Sie würde schon klarkommen, immerhin ist zumindest sie nicht verloren gegangen und vom weißen Fluss davongetragen worden.
Herr Kirschkern klopfte an der Tür und brachte den Mann von der Brücke herein.

 

Hallo @Yellow,

auf dass dein Text nicht noch länger unkommentiert bleibt, möchte ich wenigstens ein paar Zeilen dazu schreiben. Du hast nämlich leider wohl das Pech, einen ganz wunderbaren Film nicht zu kennen, der das Thema Leben nach dem Tod - oder die erste Station zumindest - sehr ähnlich behandelt, und das ist Afterlife von Hirokazu Kore Eda. Der Film hat natürlich viel mehr Zeit für seine Figuren, hat gleichzeitig eine geradezu schwebende Atmosphäre und dabei diesen absurden Bürokratie/Organisationswitz. In dem Film müssen die ausgewählten Erinnerungen mit einfachsten Mitteln in einer Art altem Schulkomplex nachgestellt und gefilmt werden! Ich muss unbedingt nachher in meinen Keller runtersteigen und schauen, wo ich diese nachgebrannte alte DVD rumzuliegen hab.
Dagegen hast du's natürlich schwer. Zumal du in einer Kurzgeschichte nicht die Zeit hast für viele Figuren und ihre Schicksale. Hab's trotzdem gern gelesen! Was allerdings die junge Frau angeht, die mit 22 Jahren gestorben ist, würde ich sagen: du nimmst dir die Zeit nicht. Denn selbst wenn dein Erzähler oder deine Erzählerin es eilig hat - du als Autor kannst dir trotzdem Zeit nehmen! Die Erzählerin DARF nur begrenztes Interesse für sie aufbringen (übrigens schade, dass sie keinen Namen hat, ist bei Büroszenen ja fast nicht wegzudenken). Der Autor oder die Autorin WILL kein wirkliches Interesse wecken. Vielleicht hast du auch das Drama etwas sehr hoch angesetzt:
Das Motiv, als Tote eine Erinnerung zu wählen, um etwas noch einmal zu erleben, gibt es auch in "Unsere kleine Stadt" von Thornton Wilder. Da geht es viel um (scheinbare) Banalitäten, aus denen Leben zusammengesetzt sind. Davon bist du natürlich durch eine womöglich von ihrem Mann ermordete blutjunge Frau sehr weit entfernt. Aber vielleicht kannst du eine Figur schaffen, die Schwierigkeiten hat, eine Erinnerung zu wählen, weil ihr Leben so lang war? Man ist ja im Laufe der Zeit so dieser und jener. Wenn man sich da entscheiden müsste ...
Nunja.
Schwierig für mich, dass die Erzählerin die junge Frau duzt und die junge Frau die Erzählerin siezt.
Sonst nur Kleinkram:

„Ich weiß ja nicht mal was für eine Erinnerung ich nehmen soll.
mal komma was
Es gibt keinen Weg mehr zurück ins Leben“
Punkt
wir können nur eine Person zurzeit auf das Dasein danach vorbereiten.
wir können zurzeit nur jeweils eine Person
Es klingt auf jeden Fall besser, als ein Bürojob hier
das ist ein Komma zu viel, du kannst es gleich herüber setzen nach:
wähle einen Moment, von dem du dir wünschen würdest definiert zu werden.
wünschen würdest KOMMA
Ich habe meinen Mann mit siebzehn kennengelernt, vor fünf Jahren,
Ist recht spät um zu erfahren, wie jung Frau X. ist. Und danach erzählt sie nur mehr von Norwegen... Vielleicht magst du nochmal rangehen und das ausbauen, was dich wirklich an deinem Text interessiert? (Ich glaube nicht, dass häusliche Gewalt das zentrale Thema ist...)
Viele Grüße und viel Spaß mit Kore Eda!!!
Placidus

 

Abfertigung im Himmel. Oder doch das scheinheilige Tor zur Hölle?

Hey @Yellow

Ein bitterer Gedanke, dem du hier folgst. Wenn der Wahnsinn unserer Zeit uns über den Tod hinaus begleitet. Sollten wir dann den Wahnsinn besser schon auf Erden beenden?

Also KOMMA was für eine Art Erinnerung.

„Komm mal mit ans Fenster, ich möchte dir was zeigenPUNKT

„Es sterben viele Menschen, und wir sind hier nur wenige, wir können nur eine Person zurzeit auf das Dasein danach vorbereiten. Deswegen musstest du auch direkt in mein Büro. Die Zeit drängtKEINPUNKT“, sagte ich und führte sie wieder zurück zu meinem Schreibtisch und dem Sessel auf der anderen Seite des kahlen Raumes.

„Ja, Sie haben Recht. Dann vielleicht aus meiner Kindheit?“
recht müsste hier klein sein?
„Also sprechen wir vom Zeitraum zwischen vierzehn und siebzehn“, unterbrach ich sie, um etwas schneller voranzukommen
zusammen
„Nein nein, das ist hervorragend. Und außerdem vergisst du ja eh alle anderen Ereignisse deines Lebens, also wirst du Nichts vermissen.“
nichts

Es liest sich gut und flüssig. Du schaffst es, durch die Hetzerei am Ende, dass man selbst in Eile gerät.
Aber warum, warum kommt dieser Alltagsstress mit vors Himmelstor? Sind wir überhaupt da? Wenn ich die Geschichte nämlich weiter denke, dann sehe ich ein Bild von Juno der Sachbearbeiterin von Beetlejuice vor mir. Es scheint ja immer schlimmer zu werden, mit dem Stress, oder warum sonst will sie/er einen unbequemeren Stuhl? Wo hat es damit angefangen und wo endet es?
Du sprichst viel an, aber ich erfahre so gut wie nix. Über den/die Sprecher/in weniger als über die junge Frau, die ankommt.
Was ist mit dem Schleier? Was ist mit dem Ritz? Was ist mit dem davon tragendem Fluss?
Was ist mit der Narbe auf ihrer Wange?

Natürlich musst du nichts von dem erklären.
Ich fühle mich einfach wie eine fallengelassene, heiße Kartoffel. Und hier liege ich.

Ich wette, wenn du dich ran setzt, holst du noch viel mehr aus deinem Text.


Gruss Smoke

 

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