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Der Zeitungsträger
Der Zeitungsträger
Jeden Morgen um die selbe Zeit legte er in die Briefkästen der Abonnenten die Tageszeitung. Er war ein alter Bauer, der
sich so ein kleines Zubrot verdiente. Der Hof hatte über die Jahre keine großen Gewinne abgeworfen. Deshalb war seine Rente eher bescheiden und klein.
An manchen Tagen half seine Frau mit aus, dann hatten sie die Zeitungen schneller zugestellt. Das Leben hatte seine Spuren hinterlassen, die harte Landarbeit den einst stolzen Hünen gebrochen. Krumm der Rücken langsam der Schritt. Das überqueren der Straße nahm so deutlich mehr Zeit in Anspruch. Überhaupt ist jeder Arbeitsgang nicht mehr so zügig wie in früheren Jahren.
Der alte Mann zog so durch das Jahr, vom Frühling in den Herbst, dann in den Winter. Die schöne Zeit der Jugend vorüber. Wer im Winter seines Lebens noch malochen musste, der hatte es wahrlich schwer.
Viele werden sagen: Selber Schuld! Hätte er doch in früheren Jahren sein Geld zur Bank getragen!
Das sind große Sprüche, locker daher gerufen mit netter Unschuldsmiene. Doch wie sieht es in der Wirklichkeit aus? Die Lachenden von heute werden die Armen von Morgen sein. Der alte Mann dachte sich hingegen:
„Glaubt ja nicht die Zeiten würden besser, im Gegenteil: Bald werden wir vier Minijobs haben, keine Chance für die Alterssicherung , am Ende nicht Mal mehr genug Geld für eine Krankenkasse zu bezahlen. Eigenverantwortung heißt es hier! Viva Amerika! Tolle Sache, in Amerika funktioniert diese Erfindung schon. Das alte Europa holt sich diese Seuche auch ins eigene Haus. Die Kluft wird immer größer, da gibt es nur noch Wenige die oben an der frischen Luft sein werden, die Masse aber wird im Gestank gehalten. Hört sich gut an, da will ich doch glatt dabei sein, wenn unsere Lachenden dann endlich auf dem Boden angelangt sind.“
Der Zeitungsausträger schlurfte durch den Schnee. Das sah nach vorweihnachtlicher Idylle aus, doch der Schein trug. Der Schnee lag auf Eis, stellenweise war es mehr als glatt. Die kleinste Unaufmerksamkeit schon war eine harte Landung am Boden sicher. Das tat zum einen weh, deutlich schlimmer waren die Folgen, Prellungen, Zerrungen, Stauchungen, Brüche der Gelenke.
An jenem Morgen war es eben soweit, der Zeitungsausträger rutschte aus, schlug ohne sich abzustützen hart auf dem Hintern auf. Ein deutlich hörbares Knacken verriet: An Aufstehen war nicht mehr zu denken.
Die Außentemperatur lag im leichten Frostbereich, wahrlich keine angenehme Angelegenheit. Der Mann bedurfte jetzt der Hilfe. In der Folge stellte sich die Frage: „Ist um diese Morgenstunde jemand unterwegs?“
Eine Reihe von Autofahrern fuhr vorbei. Die hatten es eilig, Schichtwechsel sowie viele andere Gründe nicht anzuhalten.
Ist solches ein Grund, einem Schwerverletzten nicht zu helfen? Nein! Trotzdem fuhren sie vorbei. Manche werden gedacht haben: „ Was hat der Alte auch um die Zeit auf der Straße zu suchen.“ Andere werden gedacht haben: „ Das ist mir zu kalt! Zu umständlich! Gibt nur Ärger!“
Fachlich ausgedrückt sprechen wir von „ Unterlassener Hilfeleistung“. Gesellschaftlich besehen verwundert es kaum. Ohne weitere Diskussion! Die Menschen zeigen ihr wahres Gesicht, ohne Mitgefühl oder Sensibilität für das Leid. Angesichts dieser Tragweite steht der Mann wohl richtig besehen nahe am Tod. Er wird erfrieren. Oder gibt es eine Rettung?
An jenem Morgen ließ eine Nachbarin ihren Hund vor die Tür. Die Frau war erstaunt über ihre fehlende Tageszeitung.
Sie hörte komische Geräusche. Unter ihrer Eingangstür stehend, versuchte sie die Ursache zu ergründen.
Kurzentschlossen zog sie sich einen Mantel über, ging vor ihr Haus, blickte die Straße hinauf, sowie hinab. Was sah sie?
Zwei Häuser unterhalb lag etwas auf dem Gehweg. Mutig machte sie sich auf den Weg, um die Sache in Augenschein zu nehmen. Mit großer Verwunderung stellte sie fest, das Bündel war ein Mensch. Der Mensch ihr wohl bekannt. Sie zog ihren Mantel aus, legte ihn über den Mann. Den Notruf alarmierte sie von ihrem Haus. Im Winter brauchte der Notarzt bei diesen Straßenverhältnissen eben länger, so dauerte es gut zwanzig Minuten. Gott sei Dank! Der Mann lebte noch, so wurde er in das nächste Krankenhaus gebracht. In der Klinik wurde schnell festgestellt, komplizierter Oberschenkelhalsbruch. Das bedeutete für ältere Menschen in vielen Fällen das Todesurteil. Leider hatte auch der alte Zeitungsausträger kaum eine wirkliche Chance, am Leben zu bleiben. Er verstarb, im Alter von sechsundsiebzig Jahren, auf der Intensivstation.
Bernard Bonvivant,November 2007