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Die Einweggießkanne
Ich habe den Mann, der sich als Nathaniel Coleman vorgestellt hatte gleich ins Herz geschlossen. Schon sein einladendes, freundliches Lachen hatte mich direkt für ihn eingenommen. Das war noch bevor ich seine wunderschönen, verschiedenfarbigen Augen wahrgenommen hatte, die er hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckte. Wir lernten uns im Wartezimmer von Frau Dr. Amanda Wixen kennen. Amanda Wixen war Auren-Chirurgin und meine letzte Hoffnung darauf, meinen hartnäckigen Nagelpilz am linken, kleinen Zeh endlich loszuwerden.
„Ein wirklich beeindruckendes Wartezimmer“, begann ich das Gespräch mit dem mir gegenüber in einem Ledersofa sitzenden Coleman, der gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte. Die Szene wirkte geradezu grotesk, da er dabei seine überdimensionierte, große, dunkle Sonnenbrille trug mit der es ihm unmöglich sein musste, überhaupt etwas lesen zu können. Dafür war es hier einfach zu dunkel. Es war Herbst. Die Sonne sank langsam dem Horizont entgegen und durch die großen, bodentiefen Fenster strahlte ein letztes, goldenes Licht in das leere Wartezimmer, in dem lediglich die großen Sitzmöbel standen. Da erfasste einer der Lichtstrahlen Colemans dichtes Wuschelhaar und für einen Moment sah er so aus, als trüge er einen goldenen Heiligenschein.
„Weswegen sind sie hier, wenn ich so offen fragen darf ?“
„Sie dürfen“, sagte Coleman und strich sich durch die Haare: „Furchtbare Kopfschmerzen! Und sie ?“
„Nagelpliz. Sehr hartnäckig. Kommt immer wieder“, raunte ich etwas beschämt und zeigte unsicher auf meinen linken Fuß. Coleman verzog das Gesicht, als spüre er seinen Schmerz und meine Scham gleichermaßen: „Autsch. Ja das ist eine teuflische Seuche! Das juckt sicherlich furchtbar oder ?“
Ich nickte: „Und wenn man sich dann kratzt, entzündet sich der kleine Zeh. Dann tut es weh und juckt gleichzeitig. Wirklich Furchtbar !“
„Da helfen auch keine Cremes oder Tinkturen mehr ?“ Fragte er und biss die Zähne zusammen, geradewegs so, als habe ihn gerade in diesem Augenblick erneut eine Kopfschmerzattacke durchfahren.
„Leider nein. Frau Wixen ist meine letzte Hoffnung. Ich nehme an, bei Ihren Kopfschmerzen ist es ähnlich ?“
Coleman öffnete langsam die Augen und massierte sich erschöpft die Schläfen. Dann nickte er. Man konnte förmlich sehen, wie anstrengend die Attacke für ihn gewesen sein musste: „Ja. Nichts hat geholfen. Ich habe sogar eine Eigenurinbehandlung probiert.“
„Oha“ machte ich: „Das ist wirklich außergewöhnlich“.
Coleman winkte ab: „Ach sie glauben gar nicht, wie oft das von Heilpraktikern empfohlen wird. Als ich letzten Winter diese fürchterlichen Ekzeme gehabt hatte, habe ich mich gefühlt, als hätte ich mich nur noch von Pisse ernährt. Unglaublich!“
„Hat es denn geholfen ?“ fragte ich
„Naja, das lässt sich im Nachhinein nicht mehr aufklären. Ich habe gleichzeitig auf vegane Ernährung umgestellt. Entweder das oder die Pisse. Oder beides. Jedenfalls ging es glücklicherweise wieder weg“
Ich lachte verlegen: „Seit wann haben sie dann diese Kopfschmerzen ?“
Jetzt lachte Coleman und sagte: „Witzig, dass sie mich das fragen. Ich musste selber gestern noch darüber nachdenken. Es begann eigentlich, als ich den ersten kommerziellen Erfolg mit meiner neuesten Produkterfindung hatte.“
„Oh, sie sind Erfinder?“ Fragte ich
„Naja. Eigentlich nicht. Aber irgendwie dann wieder schon. Egal. Jedenfalls hatte ich diese großartige Idee“
„Was war das ?“ Fragte ich, ernsthaft interessiert.
„Ich habe eine Einweggießkanne erfunden, die sich nach dem Ausgießen in Spezialdünger auflöst und direkt unter die Blumenerde gegraben werden kann!“ Er lächelte zufrieden, geradewegs stolz.
Ich runzelte die Stirn. Hatte er tatsächlich: Einweggießkanne gesagt ? Ich wollte nicht unhöflich sein, hielt das aber für die schwachsinnigste Erfindung seit dem Bananeninnenhautschäler:
„Wow. Ist ja toll“ log ich.
„Ja die Einweggießkanne wurde ein voller Erfolg. Erst haben mich alle ausgelacht, hielten mich für einen Spinner. Eine Einweggkießkanne haben sie gesagt. Wer kauft so einen Schrott ? Eine Gießkanne kann man doch einfach wieder auffüllen. Es ist ja geradewegs das Markenzeichen einer Gießkanne, dass man sie immer wieder auffüllt. Warum sollte jemand Geld für eine Gießkanne ausgeben, die man nur einmal ausgießen kann ? Das kann doch nicht funktionieren, haben sie gesagt. Und das ich total verrückt wäre“.
„Ach..“ Machte ich: „sowas auch..“ Mir wollte einfach nichts freundliches mehr einfallen. Also sagte ich nichts mehr und hoffte darauf, dass Coleman einfach weitersprechen würde, was er auch tat:
„..Und ich gebe zu, dass das Produkt auch anfangs kaum Absatz fand. Aber dann hat dieser berühmte Naturforscher Engelbert Cocking sie mit auf Expedition genommen und mit dieser -meiner Erfindung- konnte er, so behauptete er jedenfalls felsenfest, seinen Lieblingsklee, den er mitgenommen hatte und der so eine Art unverzichtbarer Glücksbringer für ihn ist, durch die Wüste bringen.
Er hatte selber in einem Interview angegeben, dass es gerade der Dünger, in den die Gießkanne nach dem einmaligen Gießvorgang zerfällt, gewesen sein musste, der die kleine Pflanze am Leben gehalten hat. Dadurch wurde ich zu verschiedenen TV Formaten eingeladen und danach konnte ich mich vor Anfragen nicht mehr retten. Jeder wollte meine Einweggießkanne haben. Die Menschen begannen, ihre sterbenden Pflanzen damit zu gießen und ich konnte mein Glück nicht fassen, als ich bemerkte, dass offensichtlich tatsächlich meine Einweggießkanne hunderte, wenn nicht tausende von Pflanzen vor dem sicheren Tod durch das bei Pflanzen so gefürchtete Austrocknen bewahrt hatte. Und es war gerade an diesem Abend gewesen, diesem Abend, als ich mir die erste großzügige Ausschüttung der Gewinne genehmigte, als diese vernichtenden Kopfschmerzen einsetzten.
Je erfolgreicher die Einweggießkanne wird, umso schlimmer scheinen meine Kopfschmerzen zu werden. Es ist zum heulen“. Coleman verzog das Gesicht vor Schmerz: „Sehen Sie, schon wieder 1000 Stück verkauft. Das merke ich mittlerweile schon an der Heftigkeit der Attacken. Dann fragte er: „Wie war es denn mit ihrem Nagelpilz ?“
„Ach“ sagte ich und winkte ab: „Das ist nicht so wichtig“.
„Doch, doch“ beharrte Coleman: „Jetzt sind sie mal dran. Ich habe schon so viel von mir erzählt“
„Ja, das ist eine unangenehme Geschichte. Ich habe mich an einem Einweg-Kondom infiziert, das offenbar mehrfach benutzt und sorgfältig ausgewaschen worden war.“
Coleman lachte auf: „Das ist unmöglich! Wenn das Tütchen noch verschweißt gewesen ist, kann es unmöglich bereits gebraucht gewesen sein. Haben sie es selber geöffnet ?“
Ich überlegte, versuchte mich zurückzudenken zu diesem Nachmittag in der Stadtbibliothek, wo es hinter einer Regalreihe voller Esoterikbücher mit Elke, der frivolen Bibliothekarin einfach passiert war. Ich erinnerte mich deshalb so genau, weil es draußen fürchterlich gewitterte, wie ich es seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte. Dann sah ich die Szene wieder vor mir, als sei es gestern gewesen und nickte fast intuitiv mit dem Kopf bevor ich Coleman direkt ins Gesicht blickte: „Ja. Ich habe es selber geöffnet“.
„Gut, dann können es zumindest nicht die verschmutzten Hände ihrer Gespielin gewesen sein“. Er lachte. Es war ein ehrliches, vollmundiges Lachen. Es paste zu seinen freundlichen Gesichtszügen, wenn sie nicht gerade schmerzverzerrt waren vor Kopfschmerzen.
„Nein“ sagte ich: „Es war das mehrfach benutzte Einwegkondom gewesen. Ich bin mir sehr sicher. Danach jedenfalls fing meine Tortur an. Die Infektion. Und sie ist gewandert! Mir ist es mithilfe modernster Medizin schließlich gelungen, die wiederaufflackernden Infektionsherde dauerhaft einzudämmen. Nur am Rande meines kleinen linken Zehs lebt der Pilz immer wieder auf, egal was ich tue. Ich habe schon darüber nachgedacht, ihn zu amputieren.“
Das hatte ich wirklich, wußte aber gleichermaßen, dass ich diese Idee niemals in die Tat umsetzen würde. Bei meinem Glück in dieser Angelegenheit würde vermutlich direkt nach der Amputation des kleinen Zehs der große Zeh des rechten Fußes anfangen zu jucken.
„Sie glauben, dass die Infektion nur durch eine avantgardistische Behandlung wie die Aura-Chirurgie beseitigt werden kann“ raunte Coleman und blickte wie gebannt auf meinen linken Fuß, der wieder zu jucken begonnen hatte und den ich nun ungeschickt am Stuhlrand zu kratzen begann: „Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch für mich ist die Operation der letzte Ausweg aus der Hölle meiner vernichtenden Kopfschmerzen hinaus zurück in die Welt“. Coleman fasste sich wieder an die Schläfen und biss die Zähne zusammen.
Ich wollte noch etwas sagen, als sich die Tür öffnete und die Chirurgin, Frau Dr. Wixen, mich aufrief: „Herr von Enno bitte!“. Ihre Stimme hatte eine Strenge, die man der zierlichen Frau mit den schulterlangen, dunkelbraunen Haaren gar nicht zugetraut hätte. Sie trug einen weißen Arztkittel. Die Bluse war am Hals hochgeknöpft und verschlossen wie der Blick mit dem sie mich musterte. Dann bekamen ihre Gesichtszüge plötzlich etwas leichtes, entspannten sich merklich und sie begann zu lächeln:
„Guten Tag Herr von Enno. Mein Name ist Amanda Wixen und ich werde sie heute operieren. Genauer genommen werde ich ihre Aura operieren, damit sie einen neuen Zugang zu ihrem Problem finden können. Es ist sehr wichtig, dass sie verstehen, dass ich keine Ärztin bin und keine medizinischen Behandlungen an ihnen vornehmen darf. Aus diesem Grund haben sie sich im Vorfeld ja den Haftungsausschluss und das Merkblatt gut durchgelesen und unterschrieben.“
Sie hielt beide Blätter nun vor sich in die Höhe: „Gibt es dazu noch Fragen, also zu den Möglichkeiten und Begrenztheiten und den Warnhinweisen ?“
Ich schüttelte den Kopf und ließ meinen beschuhten kleinen Zeh, der wieder fürchterlich zu jucken begann, am Stuhlbein herauf- und herrunterkreisen. Der Druck, die Reibung, das Eintauchen in den Juckreiz tat so unheimlich gut, dass ich leise seufzte.
„Wunderbar“ sagte sie: „Sie haben hier auf dem Fragebogen angekreuzt, dass sie noch keine Erfahrung mit meiner Methode gemacht haben. Korrekt ?“
Ich nickte, ein seliges Lächeln trat mir auf das Gesicht, als der Juckreiz, dem ich voll nachgegeben hatte, endlich geringer wurde.
„Gut dann will ich ihnen gerne einen kurzen Überblick über die Methode geben“. Sie griff in das aufgefaltete Seidentuch, das vor ihr lag, und hob einige Operationswerkzeuge in die Höhe. Ich konnte verschiedene Skalpelle identifizieren, Schaber, Zangen, etwas, das an eine Feile erinnerte.
„Das sind die Operationswerkzeuge mit denen ich ihre Aura operieren werde. Jeder Mensch hat nicht nur einen fleischlichen, sondern auch einen feinstofflichen Leib. Böse Taten können einen Menschen tödlich verletzen, aber böse Worte können das genauso erreichen. Im letzten Fall hat man den Menschen selber niemals angefasst und ihn trotzdem zu Grunde gerichtet. Bei dem Ätherkörper oder dem feinstofflichen Körper gehen wir von einer ähnlichen Situation aus. So wie bloße Worte oder Blicke reale Auswirkungen auf den fleischlichen Körper haben, hat die Feinstoffchirurgie ebenso reale Auswirkungen auf den fleischlichen Körper, obwohl wir den fleischlichen Körper gar nicht berühren. Meine Methode setzt hier an, an dem, was die Schulmedizin Placebo-Heilung nennt. Wo das Interesse der Schulmedizin aufhört, beginnt unser Interesse. Die Methode, mit der wir uns die Wirkweise der Placebo-Heilung zugänglich machen wollen, nennen wir Aura-Chirurgie.“
Ob die Aura Chirurgie geholfen hatte oder meine Entscheidung, mir den Zeh des linken Fußes lunter massivem Alkoholeinfluss mit einer Wasserpumpenzange selber zu ziehen und danach in hochprozentigen Alkohol einzutauchen, lässt sich nun im Nachhinein leider nicht mehr aufklären. Ich neige dazu beidem eine gewisse Wirkung zuzuschreiben, ähnlich wie der Tierarzt, der die Katze von Herrn Schrödinger behandelt und ihm sagt: „Herr Schrödinger - ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht bezüglich ihrer Katze.“
Das Jucken jedenfalls war von diesem Tag an verschwunden und das erste das ich tat, als ich wieder zu Hause angekommen war, war, mir eine Einweggkießkanne zu kaufen, um meine Tomatenpflanzen damit zu gießen. Doch dazu kam es nicht mehr, weil ich direkt an der Ecke beim Bücherladen mit der Bibliothekarin Elke zusammenstieß, die mir ihr Leid über fürchterlichste Verspannungen im Rücken klagte.
Hiergegen wußte ich nunmehr allerdings ein sehr wirksames Mittel und es musste nicht erst aus einer Tüte geholt werden.