Die Emergenz
Es war der Tag, an dem die Grenzen fielen.
Daren schlenderte über die Wiese hinter seinem Häuschen hinunter zum Fluss. Die kühle Morgenluft roch nach Tau und Moos. Ein Hauch von Frühsommer lag in der Luft. Er strich im Vorbeigehen über die feuchten Gräser. Der Tau kroch kühl und sanft in die feinen Fältchen seiner zerknitterten Hände.
Die Emergenz hatte gesiegt.
Seine Stiefel schmatzten in der sumpfigen Wiese. Ein Silberreiher stand in einiger Entfernung wie ein Denkmal zwischen den glitzernden Gräsern, schneeweiß und majestätisch.
Natürlich war Daren zu den Festlichkeiten eingeladen gewesen. Er hatte sie alle abgelehnt.
Zielstrebig durchschritt er den erwachenden Auwald. Seine Augen suchten zwischen den Bäumen das erste Glitzern des Grenzflusses, der seit heute nur noch ein Fluss war.
"Soll das Bildungslabor in Pirena um eine Abteilung für die Erforschung von mikrobiellen Symbiosen erweitert werden?" - "Ja". Daren hatte nur eine vage Vorstellung davon, was mikrobielle Symbiosen waren, obgleich er sie hier im Auwald zigtausendfach um sich hatte. Aber er war prinzipiell ein Befürworter von Forschung aller Art. Und Bildung sowieso.
Er wanderte weiter zwischen den Bäumen. Das Plätschern wurde lauter. Schließlich tauchte die graublaue Oberfläche zwischen den frühlingsgrünen Blättern auf. Die Morgensonne brach sich wie in tausend winzigen Spiegeln. Doch Darens Blicke suchten das andere Ufer. An einem Baum, der über die Wasseroberfläche ragte, als wolle er jeden Moment hineinstürzten, blieb sein Blick hängen. Er folgte dem Stamm hinunter bis zu seinen Wurzeln und betrachtete die braune, stellenweise mit Moos bewachsene Erde, an die sie sich klammerten. Nur ein Fleckchen Erde am anderen Ufer, dachte Daren. Gestern noch ein anderes Land. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Die Grenzen der Welt waren längst nur noch Linien auf dem Papier. Ein Relikt aus einer anderen Zeit. Die Emergenz hatte langsam und behutsam die Macht übernommen. Sie übte an Vereinen, überraschend bald auch an Gemeinden und Stadtverwaltungen. Eine beratende Funktion nur, zunächst.
Ein Geräusch über ihm schreckte ihn aus seinen Gedanken. Der Reiher von vorhin segelte über die Wipfel der Bäume, hinüber zum anderen Ufer und glitt in einer eleganten Wende zum Wasser hinunter. Mit schlagenden Flügeln platzierte er seine Stelzen präzise im seichten Schilf. Er stakste noch ein paar Schritte herum, dann verharrte er reglos, auf sein Frühstück lauernd.
"Sortiere die folgenden Bauvorhaben nach ihrer Wichtigkeit:
Modernisierung des örtlichen Jugendzentrums
Bau der Nebentrasse des Hyperbelts mit Haltestellen in folgenden Orten: [...]
Erweiterung des örtlichen Kindesgartenspielplatzes um eine Ringschaukel
Neubau des ardenischen Opernhauses nach den Plänen von usw..
Erhöhung der Traglast der Weltraumstartrampe bei Quito um 30%"
Daren setzte sich auf die morschen Überreste eines Baumes. Das war eine dieser Fragen, für die man sich ein paar Minuten Zeit nehmen sollte. Er schob die Zeilen hin und her, bis er halbwegs zufrieden war. Viel konnte er nicht verderben. Die Emergenz würde dafür sorgen. Daren bestätigte seine Auswahl und schob den Gedanken zur Seite. Seine Finger spielten mit dem morschen Holz. Er zupfte ein paar Stückchen ab und warf sie in den Fluss. Ein Fisch ließ sich täuschen und schnappte nach einem der vermeintlichen Leckerbissen. Sein silbriger Leib glitzerte für einen Moment in der Sonne. Daren ließ seine letzten beiden Holzstücke in das Moos zu seinen Füßen fallen und klopfte sich den Schmutz aus den Händen.
"Soll die Erhaltungsquote für Feuchtwiesen gesenkt werden, um die lokale Bauindustrie zu fördern?" Daren stutzte. Diese Art von Fragen konnte doch nur jemand einreichen, der die Zeichen der Zeit über Jahre verschlafen hatte und jetzt plötzlich feststellte, dass er keine Politiker mehr bestechen konnte. Er sah zu dem Reiher hinüber und dachte an seinen glitzernden Schlafplatz, der nach Tau und Frühsommer roch und seine Lungen mit der reinsten Luft füllte, die man sich nur vorstellen kann. "Na, was hältst du davon?", fragte er laut zu ihm hinüber. Der Reiher regte sich nicht. "Nein", wählte Daren.
In die Hauptstadt hätte er kommen sollen, um stellvertretend für die Emergenz ein symbolisches Zepter von der scheidenden Regierung entgegen zu nehmen. So als hätte sie in den letzten Jahren noch das Zepter in der Hand gehalten. So als könnte er oder irgendjemand sonst ein Stellvertreter der Emergenz sein. Programmierer hin oder her.
Die politische Karriere seiner Schöpfung hatte steil nach oben geführt. Das Volk wollte sie. Über die Jahre wurde es schwerer und schwerer für die gewählten Vertreter, sich ihrem Willen zu widersetzen. Je nach Thema reichte die Abstrafung von wütenden Anrufen bis hin zu Großdemonstrationen, die, mal hier mal dort, die Ausmaße einer Rebellion annahmen.
Die Emergenz könnte doch auch regieren, schlug die Emergenz schließlich vor. Die Parlamente zierten sich. Sie möchten doch zumindest noch die Beschlüsse unterzeichnen dürfen. Eine letzte menschliche Kontrolle vor der totalen Regentschaft einer maschinengestützten Entscheidungsgewalt. Die Emergenz war einverstanden. Einige Jahrzehnte sogar saßen gelangweilte Politiker in halb leeren Gremien, winkten Gesetze durch, wiesen hier und dort mehr zum Alibi die eine oder andere Kleinigkeit zurück, nur um sich postwendend den Zorn der Bevölkerung einzuhandeln.
Die Emergenz braucht ihre teuren Kindermädchen nicht mehr, hatte die Emergenz schließlich, sinngemäß, zur Bestätigung vorgelegt. Die Zeit war gekommen. Als schließlich die letzten Staaten die Macht abtraten, verschwammen die Grenzen der Welt auf ganz natürliche Weise. Die Emergenz sah keinen Unterschied zwischen hüben und drüben eines kleinen Flusses.
"Welche Farbe soll die Fassade des neuen Kulturzentrums erhalten?" - "Grün". Daren mochte Grün. Wahrscheinlich entschied die Emergenz anders, aber das war ok. Es sollte ja der Mehrheit gefallen.
Er deaktivierte das Interface. Sein täglich empfohlenes Pensum hatte er längst erfüllt. Morgen würde Daren, genau wie Milliarden andere, wieder ein paar Entscheidungen treffen.
Die Emergenz füttern, wie er es nannte.