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Die Existenz, die in den Schacht fällt
Das Leben lastet schwer auf mir. Es drückt mich nieder. Seit zwanzig Jahren ist das so. Vielleicht sogar seit fünfundzwanzig Jahren oder noch länger. Kann ich nicht sagen, denn anfangs gab es dafür kein Wort. Heute gibt es ein Wort, doch es ist längst hohl geworden. Was sagen schon Worte über Gefühle aus? Wenn ich nachts auf dem Sofa liege oder am frühen Nachmittag über die herbstliche Allee spaziere, wühle ich in den Windungen meines Hirns nach Worten, id est nach Gründen, nach Erklärungen, nach Zeichen, die erklären, die für Klärung sorgen. Für Klarheit. Dabei weiß ich längst, dass auf dem Grund des Brunnenschachts nichts liegt. Nichts als harter, staubiger Boden ist dort zu finden. Harter, staubiger Boden und vielleicht die Überreste eines Rattenskeletts. Aber ein Rattenskelett ist ja nicht brauchbar. Was soll ein Rattenskelett schon erklären? Wie sollen ein paar Knochen für Klarheit sorgen? Das geht ja gar nicht. Im Gegenteil: Wenn man Knochen zermalmt, zerreibt, zermahlt und in ein Glas reines Wasser streut, so wird das reine Wasser trübe. Knochen trüben das Wasser, und Trübheit ist das Gegenteil von Klarheit. Es ist also vollkommen verrückt, von der Allee aus in den Brunnenschaft zu steigen und Erwartungen zu haben, etwas herbeizuwarten, das Abhilfe schafft. Und doch führt die Allee nur in den Brunnenschacht hinein und sonst nirgendwohin. Das ist es ja. Und auch vom Sofa in der Nacht kommt man nur in den Brunnenschacht und schon gar nicht ins Reich der Träume. Auch Träume sind nicht klar. Aber immerhin sind sie schön. Manchmal. Das wäre doch schon mal was. Aber nein, von schönen Träumen ist nicht schön zu träumen. Also wird man hart. Unweigerlich wird man hart. Und da liegt es doch nahe, aus der Not eine Tugend zu machen, und wirklich hart zu werden. So in etwa muss ich mir das gedacht haben, damals, als ich das erste Mal nach dem Eisen griff, das ich seitdem nie wieder losgelassen habe. Weil es mir erlaubt hat, wenigstens für ein, zwei Stunden das so schwer auf meiner Brust liegende Gewicht der Welt zu lupfen und mich leicht zu fühlen.
Wenn ich die Hantel aus der Halterung hebe, kommt der Moment der Entscheidung: Habe ich die Kraft? Oder habe ich sie nicht? Wenn ich sie nicht habe, aber denke, sie zu haben, werde ich begraben werden. Das Gewicht wird auf mir lasten bleiben und mir die Luft nehmen. Und am Ende wird nichts als Scham stehen: Ich werde um Hilfe bitten müssen, werde “Hilfe! – Hilfe!” schreien müssen. Oder ich werde mich unwürdig unter dem Gewicht hervorwinden müssen, werde mit letzter Kraft an der Stange rütteln müssen wie an einem blockierten Ruder, in der Hoffnung, dass die Last so doch noch von mir abfällt. Mit einem lauten Knall. Und alle werden dann sehen, dass ich versagt habe. Sie werden mich auslachen und sich denken, dass ich zu schwach bin, mich selbst überschätzt habe. Ein Versager da auf der Anklagebank. Gibt es etwas Schlimmeres als Scham? Als öffentlich sichtbare Charakterschwäche? Nein, die Hantel darf nicht zu schwer sein und mich erschlagen. Aber schwer muss sie sein, sehr schwer sogar. Sie darf keinesfalls zu leicht sein. Ein leichtes Gewicht ist für die Katz, widerlegt sich selbst, so wie zu einer Transe mit kleinem Schwanz zu gehen. Wenn schon, denn schon! Nur zu schwer darf das Gewicht um Gottes Willen nicht sein. Eine ewige Rückgratwanderung. Und manchmal, an guten Tagen, soll die Hantel genau so schwer sein, dass sie nicht zu schwer ist. Das One Rep Max, die eine Wiederholung, der ultimative Kampf zwischen Ego und Extro, zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Nichts gibt dir so viel Kraft wie nackte Angst. Es gibt diesen einen Moment, wenn sich das Gewicht scheinbar übermächtig und steinern auf deine Brust legt. Das ist ein Moment der reinen Angst. Werde ich mich für immer selbst begraben haben? Nein, das darf nicht sein! Jetzt, wo es spürbar droht, begreife ich das. Und genau diese Angst gibt dir die Kraft, dich und das tote, unbeugsame Gewicht doch zu überwinden und dich zu befreien. Der Triumph, immer nur der Schatten des Scheiterns.
Ich weiß, dass das alles nicht gesund ist, denn ich kann spüren, wie die Lasten an meinen Sehnen zerren, an meinem zu schwach ausgeprägten Bandapparat, meinen viel zu laxen passiven Strukturen, wie es anatomisch korrekt heißt. Jede einzelne Wiederholung sorgt für einen kaum merklichen Abrieb. Verschleiß. Über die Jahre verschleißt man. Man löst sich regelrecht auf, zerreibt sich bei vollem Bewusstsein selbst. Und in dieser selbstverschuldeten Abnutzung liegt der ganze Genuss. Das versteht man irgendwann, nachdem man Jahre lang versucht hat, es richtig zu machen, keine Schmerzen zu haben, sich schonend zu bewegen. Man hat an den Techniken gefeilt, sich selbst beobachtet, in Spiegeln oder als kleine, tanzende Figur in den eigenen Händen. Alles für die Katz. Es gibt kein Richtig. Es gibt nur ein selbstgewähltes Tun mit aller Konsequenz. Zerreib das Rattenskelett und zerreib dich selbst, trüb dein eigenes Leben ein, weil du es eh nicht aufklären kannst. Kennen Sie Ronny Coleman? Kennen Sie den König, King Ronny? Der König hat die Welt gehoben und währenddessen mit heller Stimme gekreischt: Light weight, Baby! Während er sich buchstäblich seine eigenen Glieder abgerissen hat, schrie er der Welt entgegen: Du kriegst mich nicht klein mit deinen Popelsgewichten. Das hat die Welt nicht auf sich sitzen lassen. Sie hat ihm knirschend die Wirbel zerrieben und ihn zum Krüppel geschlagen. Aber was macht der König? Er humpelt am Gehstock noch immer auf die Gewichte zu und schreit: Light way, Baby! Habe Mut, dich deines eigenen Wahnsinns ohne Anleitung eines anderen zu bedienen. Das ist die Aufklärung der Abnutzung, des Zerriebenswerdens, die Dialektik der Eintrübung.
Die Helden, die Titanen, die Götter, sie waren lakonische Besessene, haben sich in feuchten Kellern selbst verschlissen, stöhnend, leidend, eine Kakophonie des selbst zugeführten Schmerzes, das ganze Leben ein Ächzen, ein Brennen, ein Ziehen und ein Ausstrahlen bis in die Weichteile. Sie haben sich durch einen Berg aus Pudding gefressen, gefressen bis zum Kotzen, bis zum Platzen, nur um direkt danach ewig durch die Wüste zu wandern, abzumagern, auszutrocknen, zusammenzubrechen. Alles für den einen Moment, die eine Stunde im hellen Licht, in der all das Leid vergessen war. Light weight, Baby, das Leben ist so leicht, wenn man es sich schwer macht!
In der heutigen Welt ist das kalte Eisen ein Ding, das durchs Raster fällt, zumindest für manche. Für die Ehrlichen ist es das, für die, die wissen, dass der nebendran stärker ist und weniger Fett unter seiner Haut trägt, aber dass das keine Rolle spielt. Denn der nebendran existiert überhaupt nicht. Es existiert nur das ewige Eisen, das dir die nächste schmerzende Wiederholung abverlangt, das nächste mühsame Schwungholen, während die Sonne über dem Brunnenschacht verschwindet und sich langsam die Nacht über die Welt senkt. Wie viele Wiederholungen bleiben dir, bis du nichts mehr siehst, bis dein letzter Wirbel von dir selbst aufgelöst wurde? Eine Million? Eintausend? Oder nur noch eine, weil du nicht auf sie hören wolltest, weil du dich für schlauer gehalten hast als sie? Suicide Grip! Es geht so lange gut, bis es nicht mehr gut geht. Die Hantel rutscht dir irgendwann doch aus den Fingern und zerquetscht dir den Hals, den Adamsapfel, die Luftröhre, eine fein geriffelte Guillotine, deren Seil du selbst gekappt hast. Alles, was dir bleibt, ist ein kurzes Röcheln. Wolltest du es? Oder wolltest du es nicht? Niemand wird es wissen und neben dem Rattenskelett liegen bald weitere Knochen.