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Die Frau, die wartet

Seniors
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10.02.2000
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Anmerkungen zum Text

De schäl Sick = die falsche Seite; in Köln. Also das rechtsrheinische Ufer mit den Stadtteilen Deutz und Kalk. Wer auf der falschen Seite wohnt, ist KEIN echter kölsche Jung., sondern ... irgendwas. Die Linksrheinischen täten sich wundern, wenn eine Kneipe auf IHRER Seite "De schäl Sick" hieße.

Die Frau, die wartet

Die Frau kommt auf mich zu, als ich einen schmalen Kiesweg auf der Deichkrone entlangwandere, inmitten einer aus grauen Schattierungen bestehenden Welt. Das einzig Vertraute ist das Knirschen der Kiesel unter meinen Füßen und das müde Heranrollen der Wellen, die eine nach der anderen auf dem feinen Sand auslaufen. Ich bleibe stehen und lausche. Kein Möwengeschrei, kein Zausen des Windes an meiner Jacke. Die Frau kommt näher, geräuschlos, mit einem kaum merklichen Lächeln. Sie bleibt unmittelbar vor mir stehen. Keinen halben Meter entfernt. Ich sehe mich um. Genug Platz, um an mir vorbeizukommen. Warum tut sie es nicht?
»Ich habe Sie gesucht«, sagt sie.
Ich lege die Hand auf meine Brust.
»Mich? Warum?«
»Ich wusste, dass wir uns hier treffen.«
»Aber …«
»Gehen Sie bitte nicht weg. Ich werde wiederkommen.«
Noch bevor ich etwas erwidern kann, löst sie sich vor meinen Augen auf. Rotierenden Staubfahnen gleich, zerfällt sie innerhalb weniger Augenblicke in Myriaden kleinster dunkler Körner, hinweggetragen von aus dem Nichts auftauchenden Böen. Zügig verschwindet sie. Das Meer bleibt von den Böen unbeeindruckt. Ich stehe allein auf der Deichkrone inmitten der grauen Welt.

*​

Zwei kurze Piepser, dann ein langer Ton. Sechs Uhr. Der Radiowecker erwacht zum Leben und holt mich aus dem Reich der Träume. Deutschlandfunk, Nachrichten. Ein kurzer Überblick. Bolsonaro nicht mehr in eine dritte Amtszeit gewählt, aber Wahlanfechtung. Betrug seitens der Opposition, sagt er, ruft das Militär zu Hilfe. Ausländische Mächte wollen ihn stürzen durch Wahlbetrug, propagiert er. Notstand ausgerufen. Brasilien könne nur durch ihn gerettet werden.
»Idiot«, ist mein erster Gedanke. Dann erinnere ich mich an den Traum, eine unbestimmbar lange Wanderung auf der Deichkrone, die graue Welt. Und die Frau, die sich nach wenigen Worten in einer Art Staubwolke auflöst. Ich spüre Wehmut aufkommen, denn ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht. Venezuela, Bürgerkrieg geht ins fünfte Jahr. UNHCR fordert die Weltgemeinschaft auf, für die Flüchtlingslager in Kolumbien und Guayana zu spenden. Die Menschen verhungern. Was sollen sie sonst tun? Etwa leben? Oder sterben? Ich schalte das Radio aus und denke daran, mich zu befriedigen, von etwas Schönem tagträumen, einem Sehnsuchtsort mit nur einem Sehnsuchtsmenschen, aber mir fällt nichts ein. Weder Ort noch Mensch. Also liege ich still und lausche den wenigen Geräuschen, die spärlich durch das gekippte Fenster eindringen. Das eine oder andere Flugzeug. Selten ein einsamer Vogel, dessen Zwitschern und Trällern ohne Antwort bleibt. Menschen. Sechs Uhr fünfzehn, Zeit aufzustehen.

*​

Soviel ich weiß, beneidet mich um diese Arbeit niemand. Auf eine Menge Holoschirme starren. Verkehrsüberwachung Kölner Ringe. Auf Holoschirme starren ist nicht die korrekte Bezeichnung. Ich starre darauf, zwischendurch jedenfalls, weil ich in diesem Moment des Starrens nichts anderes zu tun habe. Die Arbeit wird von einer Software erledigt. Ich bin so eine Art Alibikontrolleur. Nichts Weltbewegendes. Solange die Software funktioniert, läuft alles tadellos. Unfallmeldungen mit GPS-Angaben, Meldung verdächtiger Personen, Gesichtserkennung. Mit dem holographischen Handschuh auf einen Mann zeigen, ihn markieren und das rote Feld berühren. Er benimmt sich verdächtig, schätze ich. Rotes Feld ist Markierung setzen mit einem Laser. Eine Polizeidrohne startet von irgendwo und folgt ihm. Die Exekutive übernimmt. Meine Kollegin seufzt.
»Warum hast du ihn markiert?«
»Sieht verdächtig aus.«
Ich weiß, dass sie mich fixiert. Meinen Nacken, den schlecht sitzenden Hemdkragen, ungebügelt wie er nun mal ist.
»Ich werde nie verstehen, warum du das immer tust«, raunt sie.
»Das ist auch nicht notwendig.«
»Ich glaube, du bist so voller Langeweile, dass du nicht mal einen Selbstmord hinbekämst«, ätzt sie. Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Die Software reagiert auf einen Auffahrunfall kurz vor dem Rudolfplatz. Beschädigung der Batterie wird angezeigt. Austritt von Lithium. Ein Spezialfahrzeug der Feuerwehr wird angefordert. Der Ring wird gesperrt. Null Verletzte. Ich höre sie schnaufen hinter mir.
»Ich hab es schon probiert. Du hast recht«, erwidere ich und bin selbst davon überrascht, ihr das zu gestehen. Wir kennen uns seit zehn Jahren, haben unser beider Gesichter in all dieser Zeit aber höchstens ein paar Dutzend Mal eingehender betrachtet durch das Wechseln zweier Blicke, statt des üblichen Ignorierens. Sie antwortet nicht, also denke ich ebenfalls nicht mehr darüber nach.

*​

Die Nachtschicht kommt pünktlich um 20 Uhr. Ich räume meinen Platz.
»Was Besonderes vorgefallen?«
Routinefrage. Lies dir die Logdateien durch, denke ich, dafür sind sie da. Natürlich weiß ich, dass die Menschen fragen müssen, egal wie viele exakte Informationen sie in dieser Sekunde abrufen können.
»Alles wie immer. Wird sicher 'ne ruhige Nacht.«
Er lässt sich in den Sessel fallen und stellt diverse Brotboxen auf dem Tisch ab.
»Sieh bitte zu, dass nicht wieder alles voller Brotkrümel ist morgen früh.«
Er dreht ein wenig den Kopf. Gerade so weit, um nicht in seine Augen sehen zu müssen.
»Jaja …«
Ich sehe die Brotkrümel, Käsebrocken und Gurkenscheibenreste förmlich vor mir.
»Tschüss. Angenehme Nacht«, sage ich zu seinem Hinterkopf.
»Jaja …«
Umkleidekabine, Fingerabdruck beim Abmelden und draußen bin ich. Meine Kollegin steht am Abstellgitter für die Fahrräder.
»Gute Nacht«, sage ich.
Sie nickt, nimmt ihr altmodisches Hercules aus dem Rahmen und schwingt es vor meine Füße.
»Gehen wir noch was trinken?«
Ich starre auf ihren wieder verschlossenen Mund wie auf die Holoschirme oben im zweiten Stock. Für wie lange, weiß ich nicht. Die Zeit hat sich für einen Moment verabschiedet. Lediglich ihre Hand vor meinem Gesicht nehme ich wahr, und das Schnippen ihrer Finger.
»Schläfst du im Stehen?«
Mir fällt die Frau aus dem Traum ein, an deren Gesicht ich mich nicht erinnere. Ich bin mir jedoch sicher, dass es nicht meine Kollegin ist.
»Ich denke nur gerade an etwas.«
Sie presst ihre Lippen zusammen und nickt leicht mit dem Kopf.
»Also was ist? Gehen wir was trinken?«
»Wo?«
Ihre Augen verdrehen sich. Ich deute es als Reaktion auf meine Frage.
»Gut, also gehen wir was trinken. Ich kenne aber nichts hier in der Nähe.«
»Ich schon«, antwortet sie und schwingt sich auf ihr Fahrrad. Gemütlich fährt sie los. Ich trotte hinterher, quere die Turiner Straße, weiter in den Thürmchenswall, vorbei am Eigelstein-Tor. Über unseren Köpfen surren langsam zwei Polizeidrohnen. Gesichtserkennung. Ich winke. Der Überwachungsdienst sitzt im selben Gebäude wie die Verkehrsüberwachung. Man kennt sich. Sie fährt den Eigelstein entlang. Café an Café, Touristenmagnete, Touristenpreise. Was tue ich hier? Die Minuten verstreichen und ich fühle eine enorme Müdigkeit in mir. Mit der Schuhspitze bleibe ich an einer Gehwegplatte hängen, die – warum auch immer – ein wenig nach oben absteht. Jemand kichert und ich sehe meine Kollegin nicht mehr. Dafür ihr Fahrrad, angelehnt an einen Verteilerkasten, keine zehn Meter weiter. „De schäl Sick“ steht auf einem Holoschirm über der Tür. „De schäl Sick“? Ich bin verwundert und trete ein. Fünf Gäste an der Theke, zwei mit dem Kopf auf derselben, die Augen geschlossen. Einer davon mit einem langen Speichelfaden am Mundwinkel. Seine Arme hängen kerzengerade nach unten. Im Eck hinten sitzt meine Kollegin. Durch eine Schwingtür kommt eine alte Dame und stellt ein Tablett voll mit Gläsern neben die Schankanlage.
»Nabend, Jung! Wat krichste?«
»Kölsch.«
»Is in der Mache.«

Ich setze mich meiner Kollegin gegenüber. Der letzte Tisch vor den Toiletten. Es riecht ein wenig streng. Warum hier? Und warum kenne ich ihren Namen nicht?
»Da biste ja.«
»Ja. Bin draußen über eine Gehwegplatte gestolpert. Hab dann dein Fahrrad gesehen. Nette Kneipe hier. Aber …«
»Ja, falscher Tisch. Neben dem Klo. Aber ich sitz immer hier. Was dagegen?«
»Nein. Hab es nur angemerkt.«
Sie nickt. Die Alte bringt uns zwei Kölsch und ritzt mit einem monströsen Ring am kleinen Finger ihrer rechten Hand zwei kleine Schlitze in die Holzplatte des Tischs. Ich sehe die Alte verwundert an. Sie dreht sich um und verzieht sich an die Zapfanlage.
»Ich weiß noch nicht mal, wie du heißt“, eröffne ich meiner Kollegin und greife vorsichtig nach dem Kölsch-Glas, lasse es an ihrem Glas klacken und trinke auf einen Zug aus. Sie tut es mir gleich, wischt sich aber mit dem Jackenärmel über den Mund.
»Ariane.“
»Ariane? An so einen ungewöhnlichen Namen würde ich mich erinnern. Wir sitzen seit zehn Jahren Rücken an Rücken und schließlich wurden wir uns sicher irgendwann mal vorgestellt … oder nicht?«
»Wurden wir. Deswegen weiß ich, dass Du Heinrich heißt.«
Sie hält ihre Hand hoch und schnippt mit den Fingern. Zwei volle Gläser kommen. Der Ring kratzt in den Tisch.
»Ja, das wurden wir wohl …«
»Mach dir nichts draus. Seit zehn Jahren halte ich dich für einen Idioten. Namen sind egal, wenn es sich um Idioten handelt.«
Ich ziehe die schlechte Toilettenluft ein und nicke.
»Ja, da hast du recht.«
Sie verzieht den Mund zu einem gepressten Grinsen.
»Jetzt sitzt du sogar mit einem Idioten in einer Kneipe. Ist das nicht ein wenig einsam?«
»Wäre es, stimmt. Aber ich brauche deine Hilfe.«
Ich lehne mich zurück und trinke mein Glas leer. Mit erhobener Hand und einem Fingerschnippen bestelle ich ein neues Kölsch. Die Alte bringt gleich zwei.
»Ich habe keine Ahnung, wie und bei was ich dir helfen könnte. Samstags die Einkäufe hochtragen?«

Ariane ignoriert meinen Schwachsinn und trinkt ihr Glas ebenfalls leer, stellt es vorsichtig beiseite und schreibt mit dem kleinen Finger ihrer rechten Hand unsichtbare Zeichen auf den grandios ramponierten Holztisch.
»Ich habe vor kurzem gelesen, dass du früher mal Analytiker warst. Datenanalyse, grafische Analyse, lauter so Zeug. Stimmt das?«
»Ja, das stimmt. Ist allerdings schon über 15 Jahre her.«
Ich räuspere mich. Die Alte drüben deutet das als Bestellung und stellt zwei weitere Gläser auf den Tisch.
»Woher weißt du das?«, hake ich nach.
Ariane leert ihr Glas und greift sich das nächste.
»Ich war letztens beim Chef drin, Urlaubsantrag und so. Er musste plötzlich dringend auf Klo. Deine Akte lag auf dem Tisch und ich war neugierig.«
»Neugierig auf was? Beim Chef liegen eine Menge Akten auf dem Tisch. Er ist notorisch unordentlich. Was also dachtest du ausgerechnet in meiner Akte zu finden?«
»Nichts!« Sie stellt das Glas ab und schwingt ein Bein über das andere. »Muss frau immer was entdecken wollen, wenn sie neugierig ist?«
»Natürlich nicht.«
»Da du ein Idiot bist, wärst du wohl nicht neugierig gewesen in so einem Fall, was?«
»Wohl nicht.«
»Klar. Du bist ein Idiot. Dir fehlt das Interesse für alles um dich herum.«
Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal wütend wurde aufgrund von Beleidigungen. Es fällt mir nicht ein. Ariane schüttelt den Kopf.
»Du bist 52 Jahre alt. Steht in deiner Akte. Und du hast Scheiße gebaut. Bist aus dem Staatsdienst geflogen. Seither bei der Verkehrsüberwachung. Nicht verheiratet. Kinderlos. Null Urlaubsanträge in den letzten Jahren. Sie haben dich an jedem Jahresende einfach vier Wochen nach Hause geschickt.«
»Der Chef war aber ziemlich lange auf dem Klo. Bei all den Informationen, die du dir merken konntest.«
»Fotografisches Gedächtnis.«
Ich presse meine Lippen aufeinander und setze mich aufrecht.
»Es ist besser, mir zu verraten, wobei ich helfen könnte, denn ich würde gerne nach Hause gehen.«
Ariane kratzt sich an der Stirn.
»Okay, okay, ich sag es dir. Aber falls du mir nicht helfen willst, dann bitte ich dich, nichts davon zu irgendjemandem zu sagen …«, ihren Blick deute ich als flehend, »… auch nicht, dass ich in deiner Akte geschnüffelt habe.«
»Einem Idioten wie mir, dem alles egal ist, wird DAS wohl auch egal sein. Nicht wahr?«
Sie grinst und hebt die Hand.
»Bring mal zwei Jägermeister, bitte.«

Die Alte erledigt den Auftrag sofort, mustert uns für einen Augenblick und zieht wieder ab.
»Also, Heinrich«, Ariane kippt den Jägermeister in ihre Kehle, rollt das Gläschen in ihrer Hand und fixiert mich, »seit ein paar Wochen schickt mir jemand täglich ein Video. Per Mail. Ist nur ein kleines Video. Ich habe den Absender blockiert. Dann kam es mit neuem Absender, es kommt auch per e-Rechnung über den Provider, über meinen Telegram-Account als Supporthinweis, es kommt von überall. Ich habe keine Ahnung, wie diese Person das macht …«
»Was ist der Inhalt des Videos?«, unterbreche ich sie.
»Ähm, ja, das ist nicht so einfach zu erklären …«, sie stellt das Gläschen ab und formt mit ihren Händen eine Art Kugel. »Es ist, nein, das erste Video war unscharf, wie graue Kartoffelsuppe oder so. Du verstehst?«
Ich nicke und trinke mein Kölsch leer.
»Mit jedem neuen Video wurde es schärfer, klarer. Inzwischen bin ich mir sicher, dass es eine Frau ist, die ich da sehe, und …«
Sie schweigt und mustert mich mit prüfendem Blick. Als müsse sie sich vergewissern, ob ihr Gegenüber nicht doch ein völliger Schwachkopf ist.
»Und?«
Ariane gibt sich einen Ruck.
»Seit einer Woche träume ich dieses Video. Es ist eine Frau. Aber nicht ich.«
Ich kratze mich am Ohr, dann mit einem Fingernagel durch eine der Rillen.
»Also … bekommst Du es jetzt nicht mehr geschickt? Du träumst es jetzt?«
Sie blickt kurz irritiert.
»Verzeihung, ja, das habe ich jetzt vergessen. Ich träume es jetzt nur noch. Keine Mailanhänge mehr, nichts. Aber weißt du, was verrückt an der Sache ist?«
»Nein.«
»Mit jedem Traum wird es schärfer, also klarer. Und ich träume es nur in Schwarzweiß.«

»Zwei Jägermeister, bitte!«, rufe ich zur Theke und kippe meinen ersten in einem Zug runter.
»Da braucht man ein Schnäpsken, was?«, meint Ariane und lehnt sich zurück. »Ich meine, erst ein Video, täglich, egal über welches Medium. Dann wird es immer schärfer, ich erkenne immer mehr. Dann plötzlich nichts mehr und ich träume das verdammte Ding, und auch da kann ich immer mehr erkennen! Da muss man ja durchdrehen, oder?«
Die Alte kommt und stellt den Jägermeister auf den Tisch.
»Soll ich lieber die Flasche bringen?«, will sie wissen.
»Ja«, sagt Ariane.
»Nein!«, erwidere ich. »Bloß nicht.«
Die Alte macht kehrt und verschwindet. Ich presse die Luft aus und stelle mir vor, was Ariane gerade gesagt hat.
»Hat diese Frau in deinem Traum schon etwas zu dir gesagt?«
Ariane sieht mich bestürzt an, als säße der Leibhaftige vor ihr.
»Wie kommst du darauf? Ich meine, woher weißt du …«
»Hat sie dir gesagt „Ich habe Sie gesucht“, „Ich wusste, dass wir uns hier treffen“, „Gehen Sie bitte nicht weg. Ich werde wiederkommen“
Ariane sitzt wie in Stein verwandelt auf ihrem Stuhl und starrt durch mich hindurch. Ihr Gesicht ist aschfahl. Ich reiche ihr den Jägermeister.
»Hier. Trink. Das wird helfen.«
Mechanisch nimmt sie mir das Glas aus der Hand und leert es. Ich ahne, was in ihrem Kopf entsteht.
»Nein. Ich war es nicht, der dir dieses Video geschickt hat. Schließlich bin ich ein Idiot, dem alles egal ist. Auch du. Schon vergessen? Und wie sollte ich wohl in deine Träume kommen?«
Sie schüttelt leicht den Kopf, ein wenig Farbe kehrt in ihr Gesicht zurück.
»Und woher …«
»Ich habe diesen Traum auch seit einer Woche.«

*​

»Sag mir, ob ich spinne?«, will Ariane wissen.
Den Deckel hat sie übernommen und wir stehen vor ihrer Wohnung im Gereonswall direkt vor der Unterführung.
»Wie soll ich das wissen? Wir haben offenbar seit einer Woche denselben Traum. Meine Mailadresse rufe ich so gut wie nie ab. Und mein Handyakku ist dauernd leer. Ich kaufe so gut wie nichts, gehe kaum aus dem Haus …«
Ariane runzelt zusehends ihre Stirn.
»Es könnte also sein, dass du auch ein Video bekommen hast.«
Ich nicke ihr zu.
»Schon möglich.«
Sie dreht sich um, holt den Schlüssel aus ihrer Hosentasche und schließt die Haustür auf.
»Komm mit hoch. Ich zeige dir die Videos.«
Nase rümpfend folge ich ihr durch die Haustür in den zweiten Stock. Warum müssen Treppenhäuser immer die Düfte aus 100 Jahren speichern? Ich stelle mir vor, ein Hund zu sein, der hunderte Jahre Menschheitsgeschichte durchsteigt, innerhalb von 48 Stufen. Ariane ahnt etwas.
»Deine Nase arbeitet noch gut?«
»Scheint so. Welcher dieser Düfte ist schon tot?«
»Seit ich hier wohne, ist noch keiner gestorben.«
Sie holt den Schlüssel aus der Jackentasche und schließt auf. Das Schloss hat mehr eine Alibifunktion. Die Tür ist so verzogen, dass an mehreren Stellen der Blick in den Flur gelingt.
»Ich dachte, du könntest vielleicht nachvollziehen, wer mir das Video geschickt hat? Geht das?«
Ich zucke mit den Schultern und drücke das Türblatt ins Schloss.
»Geht schon, aber das kann ein bisschen dauern und es gibt keine Garantie auf Erfolg.«
Es ist zu dunkel, um ihre Gesichtszüge zu erkennen. Sie schweigt und rührt sich nicht für einige Sekunden. Um sie herum entsteht eine Art Aura, unsichtbar und kalt. Ich kann sie deutlich fühlen und mich fröstelt es einen Moment. Ariane hat Angst.
»Machen wir erst mal Licht! Und ein Kaffee täte mir jetzt ganz gut, denke ich«, versuche ich sie abzulenken.
Arianes Hand greift neben mich. Das Flurlicht geht an und es rumpelt deutlich im Fußboden.
»S-Bahn?«
Sie nickt und zupft mich am Ärmel.
»Komm. Der Rechner ist im Wohnzimmer.«

Sie geht vor und ich sehe im Licht weder eine peinlich aufgeräumte Wohnung noch ein totales Chaos. Alles völlig normal. Wie bei den meisten Menschen, nehme ich an. Ich kann nicht viel sagen über Ariane, meine Kollegin der letzten zehn Jahre. Pünktlich, kaum krank. Zuverlässig und korrekt. Stürbe sie morgen, wäre sie übermorgen vergessen. Ebenso wie ich. Sie deutet auf eine Tür.
»Das Wohnzimmer. Rechner steht am Fenster. Ich mach uns einen Kaffee.«
Im Wohnzimmer ist spärliches Licht. Die Straßenlaternen und die Bahnanlagen beleuchten ein Bücherregal, einen Wandschirm mit Flachboxen, eine Couch mit Fußablage. Vor dem Fenster steht ein offensichtlich sehr alter Holztisch. Darauf liegt ein modernes Pad von Apple. Gardinen gibt es nicht. Eine weitere S-Bahn mit hell erleuchteten Fenstern zieht vorbei. Der Boden zittert wieder.
»Willst du deinen Kaffee stark?«, ruft sie aus der Küche.
»Ja, bitte. Mit einem Löffel Zucker. Keine Milch.«
Sie antwortet nicht, also wird sie es verstanden haben. Ich höre einen Wasserkocher, das Öffnen einer Blechdose, einen Löffel in einer Tasse. Meine Sinne wölben sich förmlich nach innen. Ich stürze in mich zusammen wie ein vakuumierter Gefrierbeutel. Meine Hände suchen Halt auf der Stuhllehne. Ein Güterzug rollt langsam vorbei, die dumpfen Vibrationen schaffen es nicht bis in mein Hirn. »Was passiert gerade?«, denke ich und weiß es nicht. Das Licht geht an und ich sehe mich im Fenster. Eine Stimme sagt etwas, weit außerhalb von mir. Dann packt mich jemand, greift fest meinen Arm und dreht mich.

»Was ist mir dir?«
Nichts, denke ich, es ist doch nichts.
»Du weinst? Warum? Was ist denn?«
Ich starre Ariane in die Augen, dann auf einen Punkt am Boden hinter ihr. Parkett. Ich weine? Da spüre ich tatsächlich etwas Leichtes über meine rechte Wange rollen, in meinen Mundwinkel hinein. Es ist salzig. Und auf der anderen Seite ebenso.
»Setz dich mal da hin«, sagt Ariane und zieht den Stuhl neben mir hervor. Vorsichtig drückt sie mich auf das schwarze Kunstleder.
»Willst du lieber einen Schnaps?«
»Nein. Keinen Alkohol.«
»Okay, schau, der Kaffee steht auf dem Tisch. Es ist nur löslicher Kaffee. Ist das schlimm?«
Unwillkürlich ziehe ich tief Luft ein und stoße sie langsam wieder aus. Dann drehe ich mich mit dem Stuhl um, entdecke die Tasse und trinke einen Schluck vom löslichen Kaffee.
»Wie schmeckt er?«, will sie wissen, zieht einen weiteren Stuhl heran und setzt sich neben mich.
»Schmeckt wie löslicher Kaffee. Aber das ist schon okay. Hauptsache Zucker ist drin. Vielen Dank.«
Ariane hebt ihren Ellenbogen auf den Tisch und stützt den Kopf mit der Handfläche.
»Darf ich dich was fragen, Heinrich?«
»Alles.«
»Was habe ich da gerade erlebt?«
»Kann ich dir nicht sagen. Kommt ab und zu mal vor, in ganz seltenen Momenten. Ich glaube, bestimmte Dinge müssen zusammentreffen, dann geschieht es.«
»Und du willst nicht wissen, welche das sind?«
Ich schüttele den Kopf und trinke einen Schluck. Für einen löslichen Kaffee gar nicht mal so schlecht.
»Lass uns anfangen.«
Ariane mustert mich für einige Sekunden, dann dreht sie den Stuhl zum Fenster und schaltet den Rechner an.
»Okay. Ich zeig dir die Videos eines nach dem anderen.«

*​

Beim letzten Video ist meine Tasse leer. Mir ist klar, dass ich gerade mit zunehmender Schärfe meinen eigenen Traum gesehen habe. Auch wenn noch reichlich Details fehlten. Ich lehne mich zurück. Die S-Bahn nach Mönchengladbach rumpelt vorbei.
»Es ist das, was ich in meinem Traum sehe. Hier fehlt der Ton«, ich sehe Ariane an, »aber in deinem Traum gibt es Stimmen, nicht wahr?«
Sie nickt.
»Und sie sagen das, was ich dir erzählt habe.«
»Ja, genau das.« Sie schluckt hörbar. »Was könnte das bedeuten, Heinrich? Drehen wir gemeinsam durch?«
Es juckt in meinem linken Ohr. Ich kratze mich und sofort ist es mir peinlich. Als wäre ich hier daheim. Gemeinsames Durchdrehen?
»Ich denke nicht. Kopier bitte die Videos auf einen Stick. Zu Hause schau ich sie mir genauer an.« Ich blicke mich um. »Hast du Zettel und einen Stift? Dann schreib ich dir meine Mailadresse auf. Schick mir die Mails. Mal sehen, wo sie herkommen.«
Ariane zögert, schaut kurz aus dem Fenster und presst die Fingerspitzen in die Handflächen. Die Haut wird weiß.
»Was ist?«
»Ich habe Angst«, antwortet sie leise.
Darauf weiß ich keine sinnvolle Antwort. Mir ist plötzlich bewusst, wie sehr ich schon weit außerhalb der Menschen stehe. Wie wenig ich mit ihnen rede, mich für sie interessiere. Wie egal sie mir sind. Also trinke ich meinen Kaffee leer.
»Der Stick, Ariane. Ich bin müde.«
Sie steht wortlos auf, verschwindet in der Küche und kommt mit einem Flash-Stick wieder, legt ihn auf den Tisch.
»Da sind schon alle Videos drauf. Ich hab gehofft, du würdest mitkommen.«
Ich stecke den Stick ein.

»Zettel und Stift?«, erinnere ich sie.
»Sag es mir. Ich hab ein gutes Gedächtnis.«
»Heinrich.Ohneland ät cologne.net.«
Sie zieht die rechte Augenbraue hoch.
»Hieß der nicht Johann Ohneland?«
»Sicher. So hieß der.«
Der Boden zittert heftig und lang. Wir schweigen, bis es vorbei ist.
»Ich könnte hier nicht wohnen«, sage ich und stehe auf. »Ich werde zwei, drei Tage benötigen, um das zu durchforsten. Schick mir die Mails gleich, dann kann ich vielleicht heute Abend noch anfangen. Ab übermorgen habe ich frei, dann ist eh Wochenende. Das sollte also bis Montag erledigt sein.«
»Danke«, erwidert sie und nickt. »Ich habe ab heute eine Woche frei. Darf ich am Samstag kommen und dir über die Schulter schauen?«
»Frei? Das wusste ich gar nicht.«
»Du siehst auch nie auf dem Dienstplan nach, wer mit dir arbeitet, weil es dir egal ist.«
»Weil ich ein Idiot bin.«
Sie nickt.
»Darf ich am Samstag kommen?«, hakt sie nach.
Der Fußboden zittert erneut. Oder bin ich das? Ich blicke über ihre Schulter auf ein kleines Gemälde. Blattlose Bäume in einer Winterlandschaft. Mein Schweigen dauert an und sie räuspert sich.
»Okay. Ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen. Sag mir einfach Bescheid, wenn sich was ergibt.«
Ich nicke, öffne die Tür mit einem Ruck und gehe.

*​

Ich kenne den Weg nach Hause. Und ich laufe ihn auch. Aber ich sehe ihn nicht vor mir. Als hangelte ich mich an einem Faden entlang, der – extra gespannt für einen Idioten – zu einem Ziel führte, an dem ich mich aufhielte, wenn ich nichts zu tun hätte. Am Sundermanplatz bleibe ich stehen und suche eine Bank. Meine Beine versagen fast, als ich einen Blumenkübel erreiche und mich auf die harte Kante setze. Mein Herz pulsiert, als gälte es auf den letzten Metern eines Rennens alles zu geben. Egal um welchen Preis. Eine tiefe Angst breitet sich wie ein explodierender Stern in meinem Inneren aus und erreicht meine Finger, die sich krampfhaft schließen, meine Augen, aus denen Tränen sprudeln, meinen Mund der sagt:
»Was passiert hier?«
Eine Hand legt sich auf meine rechte Schulter.
»Geht es Ihnen nicht gut?«
Die Stimme einer älteren Dame. Ich drehe mich um, aber im schlechten Licht der Laternen und durch meine Tränen hindurch erkenne ich nur wenig. Worte fallen mir keine ein. Dafür zucke ich mit der Schulter und wische mit dem Ärmel die Tränen weg.
»Ich weiß nicht, was gerade passiert«, wiederhole ich.
Sie zieht an meiner Schulter mit überraschend viel Kraft.
»Kommen Sie, da ist eine Bank. Ich will mich auch hinsetzen.«
Ich stehe auf und sie dirigiert mich zu einer Metallbank.
»Setzen Sie sich«, sagt sie in einem weichen Ton und drückt mich sanft auf das kühle Aluminium.
»Lehnen Sie sich mal zurück und atmen sie tief durch. So wie ich.«
Sie macht es vor und ich versuche es nachzumachen. Aber schon auf der Hälfte des Erreichten ist mir, als müsste ich gehen. Die Alte bemerkt es und sieht mich mitleidvoll an.
»Wie viele Menschen sehen Sie hier auf dem Platz?«, will sie wissen.
»Keine Ahnung. Zwanzig oder fünfundzwanzig.«
»Sie haben ein gutes Auge. Dabei haben sie sich noch nicht mal wirklich umgesehen.«
»Meine Arbeit setzt ein gutes Auge voraus.«
»Wo wohnen Sie?«, fragt sie überraschend.
»Warum? Wollen Sie mich ausrauben?«
»Ihr Humor ist nicht der beste«, kontert sie.
Ich sehe sie an.
»Wissen Sie«, beginnt sie und legt ihren Kopf ein wenig auf die Seite, »Sie sind so leer wie eine alte Gemüsekonserve. Ich glaube, da ist noch nicht mal Luft drin. Wo haben Sie das alles gelassen?«
Jetzt starre ich sie an.
»Was? Wo habe ich WAS gelassen?!«
»Den Mensch in Ihnen. Wo haben Sie ihre Liebe gelassen? Ihre Hoffnung? Ihr Mitgefühl? Ihr Leben? Wo haben Sie ihre Träume gelassen?«
Plötzlich werde ich wütend.
»Meine Träume? Ich kann Ihnen sagen, was ich träume …«
»Ich weiß, was sie träumen. Der Traum, der Frau, die sagt, sie sollen warten«, unterbricht sie mich. Einen Atemzug lang sehe ich nicht die Alte, ich blicke auf die Frau auf dem Deich, auf das trotz des Windes stille Meer. Ich stehe auf und gehe voller Angst nach Hause.

*​

Drei Tage lang habe ich versucht, irgendeine verwertbare Information aus Arianes Daten zu extrahieren, die auf egal welchen Absender schließen ließe – geschweige denn ließ sich der Weg der Mails anhand von Router-Adressen nachvollziehen; alles zwecklos. Auch in den Headern der Videodateien fanden sich keinerlei Hinweise auf einen Ersteller oder gar eine Software. Als kämen die Dateien von einem anderen Planeten. An meinen Mailaccount habe ich mich erst am Samstagabend getraut, um dann tausende von sinnlosen E-Mails zu löschen. Und tatsächlich fanden sich im SPAM-Ordner die gleiche Anzahl Mails, wie Ariane sie bekommen hat. Identische Dateien mit ein und derselben Quersumme, keine Unterschiede in den Headern. Am Sonntag schmeiße ich alles in die Ecke und warte auf den nächsten Tag. Ich weiß, dass in dieser Nacht wieder die Frau kommt. Ich habe Angst vor ihr. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren denke ich ohne ein Gefühl von Leere oder Sinnlosigkeit an einen Menschen. Einfach so.

*​

Es ist schon kurz nach zehn Uhr am Montag, als mir Ariane in den Sinn kommt. Hinter mir sitzt mein Brotkrümel-Kollege. Ich höre die Brocken förmlich auf den Tisch fallen. Vollkornbrotstücke und kleine Gurkenscheiben. Er schmatzt und ab und zu stößt er auf. Es klingt wie das Aufeinanderpressen feuchter Handflächen. Blitzartig zieht sich mein Magen zusammen, genau um zehn Uhr und vierzehn Minuten. Ich spüre schmerzhaft tief, wie ich Ariane vermisse. Wie ich ihr etwas sagen will. Genau jetzt! Gott! Es hält mich nicht auf meinem Stuhl. Also stehe ich auf, drehe mich um und da sitzt das Vollkornbrot. Es ist zehn Uhr und fünfzehn Minuten. Der Holoschirm Nummer vier über dem Brotkrümel verändert seine Farbe zu Rot und ein Ausschnitt wird herangezoomt. Noch bevor die Person auf dem Boden liegt, sehen wir ein großes Bild. Der Bus der Kölner Verkehrsbetriebe rollt mit beiden Achsen über den am Boden liegenden Menschen. Mit einem Ruck ziehe ich das Schwarzbrot aus dem Stuhl und drücke die Drohne in Richtung lebloser Person; direkt an den Kopf. Und ich sehe Ariane. Ihr Gesicht an ihrem zerschmetterten Körper. Es sieht verwundert aus. Wie eine Frage, wie etwas Leichtes auf einer schweren Dünung, so erstaunt über all das Geschehen in diesem Leben auf dieser Welt. Der Kollege rappelt sich geräuschvoll auf und beginnt mich zu beschimpfen. Ich schlage ihn bewusstlos und verlasse das Büro. Mein Ziel ist Arianes Gesicht neben dem Heckteil der Linie 53. Abmelden, Fingerabdruck. Ihr Fahrrad steht gar nicht dort, wo es immer steht, denke ich. Aber wo muss ich hin? Ebert-Platz! Dort hinüber. Die Beine gehen los. Den Bus sehe ich nicht kommen.

 

Lieber @Morphin

uff! Deine Geschichte ist echt harter Tobak. Düster, melancholisch. Du beschreibst das Dunkle, die Einsamkeit, Depression hervorragend. Der Anfang hat mich gleich gepackt. So mysteriös, ich wollte unbedingt wissen, was es mit der geheimnisvollen Frau auf sich hat. Der Text ist flüssig geschrieben, ich bin nah an den Protagonisten, kann mir alles bildlich vorstellen. Das Ende hat mich sehr überrascht und auch ein wenig traurig gemacht. Ich hätte mir gewünscht, dass die beiden sich näherkommen und alles gut wird. Echt heftig!

Hier ein paar Anmerkungen:

»Idiot«, ist mein erster wacher Gedanke.

Würde ich streichen, da logisch.

Ich spüre Wehmut aufkommen, denn ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht.

Vorschlag: Wehmut überkommt mich, da ich mich nicht an ihr Gesicht erinnern kann.

»Ich weiß noch nicht mal, wie Du heißt“, eröffne ich meiner Kollegin und greife vorsichtig nach dem Kölsch-Glas, lasse es an ihrem Glas klacken und trinke auf einen Zug aus.

du

»Ariane? An so einen ungewöhnlichen Namen würde ich mich erinnern. Wir sitzen seit zehn Jahren Rücken an Rücken und schließlich wurden wir uns sicher irgendwann mal vorgestellt … oder nicht?«

Das finde ich schon sehr krass. Zehn Jahre im selben Büro und er weiß den Namen nicht? Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Mensch derart gleichgültig ist.

»Muss frau immer was entdecken wollen, wenn frau neugierig ist?«

Unschöne Doppelung
Vorschlag: ... wenn sie neugierig ist?"

»Hier. Trink. Das wird helfen.«

Ausrufezeichen nach trink

Nase rümpfend folge ich ihr durch die Haustür, in den zweiten Stock.

Naserümpfend
Kann das Komma nicht weg? Ich bin kein Kommaspezialist, aber irgendwie wirkt es fehl am Platz.

»Ich dachte, Du könntest vielleicht nachvollziehen, wer mir das Video geschickt hat? Geht das?«

du

Da ist auf einmal ein neuer Duft. Angst. Obwohl ich es nicht rieche, ist die Angst doch deutlich zu vernehmen.

Das ist unlogisch. Du schreibst, da ist ein neuer Duft, gleichzeitig sagst Du, er riecht es nicht.

Gardine gibt es nicht.

Gardinen (die gibt es selten einzeln)

Unwillkürlich ziehe ich tief die Luft ein und stoße sie langsam wieder aus.

Würde ich streichen, da unnötig

»Hast du Zettel und einen Stift? Dann schreib ich dir meine Mailadresse auf. Schick mir die Mails. Mal sehen, wo sie herkommen.«

Würde ich streichen, da unnötig

»Geht es ihnen nicht gut?«

Ihnen

»Wo wohnen sie?«, fragt sie überraschend.
»Warum? Wollen sie mich ausrauben?«

Sie beide Male groß

»Wissen sie«, beginnt sie und legt ihren Kopf ein wenig auf die Seite, »sie sind so leer wie eine alte Gemüsekonserve. Ich glaube, da ist noch nicht mal Luft drin. Wo haben sie das alles gelassen?«

Sie jeweils groß geschrieben

»Den Mensch in ihnen. Wo haben sie ihre Liebe gelassen? Ihre Hoffnung? Ihr Mitgefühl? Ihr Leben? Wo haben sie ihre Träume gelassen?«

Alles groß schreiben

rst am Samstagabend habe ich meinen Mailaccount durchforstet und im SPAM-Ordner eine identische Anzahl Mails gefunden, wie Ariane sie bekommen hat. Identische Dateien mit ein und derselben Quersumme, keine Unterschiede in den Headern. Am Sonntag schmeiße ich alles in die Ecke und warte auf den nächsten Tag.

Hier hat mich etwas Stocken lassen. Ariane wollte ihm doch samstags über die Schulter schauen. Was ist daraus geworden?

Die Beine gehen los. Den Bus sehe ich nicht kommen.

Krasses Ende! Hat mich geschockt.

Ich hoffe, Du kannst mit meinem Feedback etwas anfangen.

Liebe Grüße und einen schönen Tag,
Silvita

 

Moin @Silvita ... besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Einige Vorschläge und Korrekturen habe ich umgesetzt. Andere nicht, weil sie "Heinrichs Sprache" entsprechen. Als Beispiel: Heinrich sagt immer "... einen Zettel und einen Stift ..." Natürlich, eine Aufzählung, da könnte man es weglassen und die Regel sollte dann in jedem Stück Literatur gelten. Aber dann ebnen die Regeln die umgangssprachlichen Besonderheiten ausnahmslos ein. Klar, Fehler wie direkte Anrede müssen weg, umgangssprachliche Besonderheiten lasse ich immer drin.

Zum Samstag und Arianes Besuch ... im Text steht:
»Darf ich am Samstag kommen?«, hakt sie nach.
Der Fußboden zittert erneut. Oder bin ich das? Ich blicke über ihre Schulter auf ein kleines Gemälde. Blattlose Bäume in einer Winterlandschaft. Mein Schweigen dauert an und sie räuspert sich.
»Okay. Ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen. Sag mir einfach Bescheid, wenn sich was ergibt.«
Ich nicke, öffne die Tür mit einem Ruck und gehe.

Heinrich antwortet nicht, was einer Absage gleichkommt. Er ist nur zu feige, es zu sagen.

Das Vergessen von Namen der Kolleg*innen ist mir beispielsweise in meiner Bundespostzeit sehr oft begegnet. Der Grad an Gleichgültigkeit und Einerlei war so hoch, dass sogar Namen verschwanden.

Sodele, jetzt erst mal ein Frühstück.

 

Moin, moin lieber @Morphin ,

das ist ja schön, da Du neben dem Buchprojekt uns eine Kurzgeschichte gönnst, habe ich sehr gefreut, als ich sie entdeckte.
Ich hab Sie gestern nach dem Einstellen gelesen, heute zum Zitate ziehen und eben nochmal, um mir den Aufbau zu verdeutlichen. Das ist für mich nämlich mal wieder ein Lehrstück, denn ich klebe immer noch an einem total gradlinigen Aufbau. Mir gefällt das hier wirklich gut.
Ich habe viel Zitiert, sorry, am Zusammenfassen meiner subjektiven Meinung arbeite ich immer noch ...

Die Frau, die wartet
Die Frau kommt auf mich zu, als ich einsam einen schmalen Kiesweg auf der Deichkrone entlangwandere, inmitten einer lediglich aus zahllosen grauen Schattierungen bestehenden Welt.
Ich mag Titel und erste Sätze, empfinde sie als wichtig. Noch streiten sich in mir Stimmen, ob der Titel nicht zu einseitig ist, oder ob Du genau das zeigen willst. Was ich nicht so schön finde, ist dann der erste Satz, liest sich recht spröde mit der Wiederholung. Insgesamt hatte ich ganz schön zu tun, ins Setting zu kommen, aber das erklärt sich dann im nachhinein mit dem Traum, sind halt verdammt viele Bilder die ich erstmal setzen muss.

dann stehe ich in der Tat einsam und allein auf der Deichkrone inmitten der graufarbigen Welt.
Hier bin ich beim Lesen zurück. Hatte er nicht Kiesel unter den Füssen und hörte das leise Auslaufen der Wellen. Ist der Sprung auf den Deich dem Traum geschuldet? (Was ich ja an der Stelle noch nicht weiß)

Zwei kurze Piepser, dann ein langer Ton. Sechs Uhr. Der Radiowecker erwacht zum Leben und holt mich aus dem Reich der Träume. Deutschlandfunk, Nachrichten. Ein kurzer Überblick. Bolsonaro nicht mehr in eine dritte Amtszeit gewählt, aber Wahlanfechtung. Betrug seitens der Opposition, sagt er, ruft das Militär zu Hilfe.
Gefällt mir gut, wie Du mich hier mit den kurzen Wahrnehmungen in den Tag stürzt.

Ich spüre Wehmut aufkommen, denn ich erinnere mich nicht an ihr Gesicht. Venezuela, Bürgerkrieg geht ins fünfte Jahr. UNHCR fordert die Weltgemeinschaft auf, für die Flüchtlingslager in Kolumbien und Guayana zu spenden.
Aber irgendwie auch anstrengend. Seine Gedanken, Radio ... Aber okay, wo steht, das Lesen nur einfach und entspannt sein soll.

Ich schalte das Radio aus und denke daran, mich zu befriedigen, von etwas Schönem tagträumen, einem Sehnsuchtsort mit nur einem Sehnsuchtsmenschen, aber mir fällt nichts ein. Weder Ort noch Mensch. Also liege ich still und lausche den wenigen Geräuschen, die spärlich durch das gekippte Fenster eindringen.
Hier setzt Du einen interessanten Typen, aber ich kriege ihn die ganze Geschichte über nicht recht zu fassen. Da komme ich noch drauf zurück, für mich bleibt er blass.

Auf eine Menge Holoschirme starren. Verkehrsüberwachung Kölner Ringe. Auf Holoschirme starren ist nicht die korrekte Bezeichnung.
wenn die Dopplungen Absicht sind ignorier mich, falls Silvita sie angesprochen hat, natürlich auch, da ist sie ja immer sehr hinterher.

Ich weiß, dass sie mich fixiert. Meinen Nacken, den schlecht sitzenden Hemdkragen, ungebügelt wie er nun mal ist.
super Charakteristik, mir fehlt aber irgendwo seine Selbstwahrnehmung. Falsches Wort! Er weiß es, aber ist es ihm egal, kann er nicht anders, ist es provokant gemeint?

Ich höre sie schnaufen hinter mir.
»Ich hab es schon probiert. Du hast recht«, erwidere ich und bin selbst davon überrascht, ihr das zu gestehen. Wir kennen uns seit zehn Jahren, haben unser beider Gesichter in all dieser Zeit aber höchstens ein paar Dutzend Mal eingehender betrachtet durch das Wechseln zweier Blicke, statt des üblichen Ignorierens.
Hier, ja, hier sehe ich ihn.

Routinefrage. Lies dir die Logdateien durch, denke ich, dafür sind sie da. Natürlich weiß ich, dass die Menschen fragen müssen, egal wie viele exakte Informationen sie in dieser Sekunde abrufen können.
hier gefällt mir, das die Gedanken kursiv sind. Hast Du das immer, habe ich nicht aufgepasst? Okay, ich lese nachher nochmal ...

»Gehen wir noch was trinken?«
Ich starre auf ihren wieder verschlossenen Mund wie auf die Holoschirme oben im zweiten Stock.
ja, hier klappt es auch, ist also übertrieben, wenn ich behaupte ihn nicht zu sehen, sind halt ein paar Stellen, bzw. Heinrich fällt gegen Arian ab (nach meinem Empfinden)

Ihre Augen verdrehen sich. Ich deute es als Reaktion auf meine Frage.
Ich persönlich empfinde den zweiten Teil als Übererklärung. Du zeigst Ihre Reaktion doch super, den Rest kriege ich als Leserin hin.

„De schäl Sick“? Ich bin verwundert und trete ein. Fünf Gäste an der Theke, zwei mit dem Kopf auf derselben, die Augen geschlossen. Einer davon mit einem langen Speichelfaden am Mundwinkel. Seine Arme hängen kerzengerade nach unten
Wenn der Name (den ich echt nicht verstehe) schon zweimal hintereinander kommt, dann könntest Du doch für mich Nordlicht eine kleine Erklärung einbauen, bitte! Die Beschreibungen der Gäste finde ich super, so eine Urkomik, schön trockener Humor, der an vielen Stellen im Untergrund mitschwingt.

Ich setze mich meiner Kollegin gegenüber. Der letzte Tisch vor den Toiletten. Es riecht ein wenig streng. Warum hier? Und warum kenne ich ihren Namen nicht?
Zu viele, zu ausführliche Gedanken - für mich! Das "Wenig" relativiert unnötig. Denkt der Typ echt in solch vollständigen Sätzen?

»Ja, falscher Tisch. Neben dem Klo. Aber ich sitze immer hier. Was dagegen?«
Ich mag sie! Hab ich das schon erwähnt? Von Ariane habe ich ein super Bild, dabei ist doch eigentlich eher Heinrich der Prot. Oder sehe ich das völlig falsch?

Die Alte bringt uns zwei Kölsch und ritzt mit einem monströsen Ring am kleinen Finger ihrer rechten Hand zwei kleine Schlitze in die Holzplatte des Tischs. Ich sehe die Alte verwundert an.
Haha, wechseln die Abends oder freitags die Tischplatten aus? Witziges Detail, aber anzuzweifeln

»Wurden wir. Deswegen weiß ich, dass Du Heinrich heißt.«
Sie hielt ihre Hand hoch und schnippt mit den Fingern. Zwei volle Gläser kommen. Der Ring kratzt in den Tisch.
So liest sich das für meinen Lesegeschmack super, wie Kino!

»Mach dir nichts draus. Seit zehn Jahren halte ich dich für einen Idioten. Namen sind egal, wenn es sich um Idioten handelt.«
»Jetzt sitzt du sogar mit einem Idioten in einer Kneipe. Ist das nicht ein wenig einsam?«
"Interessante" Unterhaltung, seltsam, aber trotzdem irgendwie glaubhaft.

Ich lehne mich zurück und trinke mein Glas leer. Mit erhobener Hand und einem Fingerschnippen bestelle ich ein neues Kölsch. Die Alte bringt gleich zwei.
Hier fällt mir wieder ein, das Du beim Betreten der Kneipe von einer alten Dame sprichst, mit einem Tablett. Wenn das, wie ich annehme die gleichen Personen sein sollen, dann würde ich das anpassen. Man denkt doch nicht erst "Dame" und dann "Alte", oder?


»Muss frau immer was entdecken wollen, wenn frau neugierig ist?«
:lol:

Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal wütend wurde aufgrund von Beleidigungen. Es fällt mir nicht ein. Ariane schüttelt den Kopf.
Oh man, was ´n Typ. Schütteln wäre eine Idee! Ich kann sie verstehen.

Ich presse meine Lippen aufeinander und setze mich aufrecht.
Endlich reagiert er mal logisch, oder menschlich. Naja, in Hinblick auf die vorletzte Szene ist es ja so genau richtig, ihm fehlt was ...

Ariane sieht mich bestürzt an, als säße der Leibhaftige vor ihr.
»Wie kommst du darauf? Ich meine, woher weißt du …«
»Hat sie dir gesagt „Ich habe sie gesucht“, „Ich wusste, dass wir uns hier treffen“, „Gehen sie bitte nicht weg. Ich werde wiederkommen“?«
Die Szene mit dem Traum ist sehr cool, ich hab schnell nochmal auf die Tags geschaut, irgendwie hat das auch Horror, jedenfalls in meiner Welt.

Ich reiche ihr den Jägermeister.
»Hier. Trink. Das wird helfen.«
Ich empfinde seine Sprechweise immer als zu ausführlich, aber andersrum hast Du so natürlich zwei verschieden Typen auch damit gezeichnet. Ich sehe schon, es ist wohl Absicht.

»Nein. Ich war es nicht, der dir dieses Video geschickt hat. Schließlich bin ich ein Idiot, dem alles egal ist.
Ah, er kann doch über sich reflektieren, wenn auch nur grob

»Und woher …«
»Ich habe diesen Traum auch seit einer Woche.«
sehr erschreckend

Den Deckel hat sie übernommen
Ne, ne - die Tischplatte! :D

»Deine Nase arbeitet noch gut?«
»Scheint so. Welcher dieser Düfte ist schon tot?«
schöne Charakterisierung

Sie holt den Schlüssel aus der Jackentasche und schließt auf. Der Schlüssel hat mehr eine Alibifunktion. Die Tür ist so verzogen, dass an mehreren Stellen der Blick in den Flur gelingt.
hier stört es wirklich, einmal Schloss?

Ich stürze in mich zusammen wie ein vakuumierter Gefrierbeutel. Meine Hände suchen Halt auf der Stuhllehne. Ein Güterzug rollt langsam vorbei, die dumpfen Vibrationen schaffen es nicht bis in mein Hirn. »Was passiert gerade?«, denke ich und weiß es nicht. Das Licht geht an und ich sehe mich im Fenster. Eine Stimme sagt etwas, weit außerhalb von mir. Dann packt mich jemand, greift fest meinen Arm und dreht mich.
»Was ist mir dir?«
Nichts, denke ich, es ist doch nichts.
»Du weinst? Warum? Was ist denn?«
Ich finde die Szene super, aber mir fehlt irgendwo eine Erklärung. Auch mit dem Ende ist mir die Reaktion zu konkret, ohne das ich den Auslöser erspüren kann - vielleicht aber auch nur meine zu kurz geratene Emphatie.

»Ich habe Angst«, antwortet sie leise.
Darauf weiß ich keine sinnvolle Antwort. Mir ist plötzlich bewusst, wie sehr ich schon weit außerhalb der Menschen stehe. Wie wenig ich mit ihnen rede, mich für sie interessiere. Wie egal sie mir sind.
Zu viel erklärt, lass ihn nur reagieren, ich will es ja fühlen und nicht lesen

Und ich laufe ihn auch. Aber ich sehe ihn nicht vor mir. Als hangele ich mich an einem Faden entlang, der – extra gespannt für einen Idioten – zu einem Ziel führt, an dem ich mich aufhalte, wenn ich nichts zu tun habe
interessant, fällt aber im Ton aus seinem sonstigen Denken/Reden/Fühlen

Sie macht es vor und ich versuche es nachzumachen. Aber schon auf der Hälfte des Erreichten ist mir, als müsse ich gehen. Die Alte bemerkt es und sieht mich mitleidvoll an.
verstehe ich nicht

»Wo wohnen sie?«, fragt sie überraschend.
»Warum? Wollen sie mich ausrauben?«
»Ihr Humor ist nicht der beste«, kontert sie.
:lol:

»Wissen sie«, beginnt sie und legt ihren Kopf ein wenig auf die Seite, »sie sind so leer wie eine alte Gemüsekonserve. Ich glaube, da ist noch nicht mal Luft drin. Wo haben sie das alles gelassen?«
Jetzt starre ich sie an.
Das wiederum ist gut, zu ihr passt dieser esoterische Ton super und es ist mega unheimlich

»Den Mensch in ihnen. Wo haben sie ihre Liebe gelassen? Ihre Hoffnung? Ihr Mitgefühl? Ihr Leben? Wo haben sie ihre Träume gelassen?«
Plötzlich werde ich wütend.
»Meine Träume? Ich kann ihnen sagen, was ich träume …«
»Ich weiß, was sie träumen. Der Traum, der Frau, die sagt, sie sollen warten«, unterbricht sie mich. Einen Atemzug lang sehe ich nicht die Alte, ich blicke auf die Frau auf dem Deich, auf das trotz des Windes stille Meer. Ich stehe auf und gehe voller Angst nach Hause.
gruselig, mach Horror dran, ich sags Dir

Ich weiß, dass in dieser Nacht wieder die Frau kommt. Ich habe Angst vor ihr. Und zum ersten Mal seit vielen Jahren denke ich ohne ein Gefühl von Leere oder Sinnlosigkeit an einen Menschen. Einfach so.
hier ist es ja eine Wandlung, er kommt "Zu sich" oder eher zu den Menschen, da akzeptiere ich die tieferen Gedanken

Ich spüre schmerzhaft tief, wie ich Ariane vermisse. Wie ich ihr etwas sagen will. Genau jetzt! Gott! Es hält mich nicht auf meinem Stuhl.
Super geschrieben, schnell, hektisch, unlogisch, aber für ihn greifbar klar

Der Kollege rappelt sich geräuschvoll auf und beginnt mich zu beschimpfen. Ich schlage ihn bewusstlos und verlasse das Büro. Mein Ziel ist Arianes Gesicht neben dem Heckteil der Linie 53.
das Bewusstlos ist mir zu deutlich, er reagiert doch nur, schlägt zu, nieder, aber für Bewusstlos müsste er sich die Zeit nehmen, dies zu kontrollieren, macht er nicht , er will nur zu Ariane, muss zu ihr.
Ihr Fahrrad steht gar nicht dort, wo es immer steht, denke ich. Aber wo muss ich hin? Ebert-Platz! Dort hinüber. Die Beine gehen los. Den Bus sehe ich nicht kommen.
Wenn der Brotkrümel-Typ Dienst hat, muss ihr Fahrrad da auch nicht stehen. Und der Schluss ist super, genauso muss er. Okay, ich mache mir jetzt Gedanken über meinen Charakter, aber mir gefällt es so sehr gut.
Also ein "Gern gelesen"
witch

 

Salü @greenwitch ...

... boah, das ist viel und ich danke Dir. Kurz gesagt: Blasser Typ? Ja, du hast recht. So soll man ihn lesen. Unangenehm. Alfred Tetzlaff? Schon ein wenig.

"De schäl Sick"? Das ist "die falsche Seite". Aus der Sicht eines linsksrheinischen Ur-Kölners sind das die Stadtteile wie Deutz oder Kalk, die "falsche Seite" eben. Aber die Kneipe ist ja auf der "richtigen Seite", noch dazu im Eigelstein. Okay, der Kölner wird auf jeden Fall drüber stolpern und sagen: "Wtf?"

Ein Scherz am Rande. Musste rein.

Ja, und Ariane ist quasi zum Verlieben. Nicht wahr?

Über ihn wird man nicht mehr in Erfahrung bringen, denn er hat sein Leben verwirkt. Eigentlich wartet man auf "eine relative Positionierung" seiner Persönlichkeit in Bezug auf bisheriges Leben, gemachte Erfahrungen ... aber da ist nichts. Nur wenig. Nicht schade, denn draußen laufen Tausende wie er durch die Welt.

Die Tischplatte mit dem Ring gab es wirklich. In Köln, Ende der 70er. Unterscheidungsmerkmal: neue Rillen sind helles Holz, zwei Tage alt sind sie schon dunkel vom Rauch und der "Atmosphäre".

Mit einem Schlag bewusstlos hauen geht. Ist nicht schwer.

Und am Ende ist das mit dem Fahrrad eigentlich der Beginn der Erinnerung an eine Gewöhnung an sie. Ihr Fahrrad ist nicht da. Er wundert sich, war es doch zehn Jahre lang sichtbar aber nie bemerkt.

Paar Sachen ändere ich.

Meinen Dank für den Kommentar.

Griasle
Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

»Heinrich.Ohneland (ät) cologne.net.«​

Bolsonaro nicht mehr in eine dritte Amtszeit gewählt,
hieß es noch gestern, als ich das letzte Mal ins Netz schaute und die Geschichte mit Stand frühem Nachmittag, 13:26 MEZ herunterlud, eine Zeile, die ich durchaus für wichtig halte, allein weil das Abenteuer Trump noch lang nicht beendet ist und eine Lawine losgetreten wurde hinsichtlich des Populismus und seiner führenden Gestalten (incl. für unsere türkischen Freunde Suleiman des Prächtigen), und weil 2026 – da steht B. zum dritten Mal B. zur Wahl, wenn er nicht schon 2022 mittels eines „Ermächtigungsgesetzes“ Wahlen zum bloßen Schauspiel degradiert, was über den Weg
... Wahlanfechtung. Betrug seitens der Opposition, sagt er, ruft das Militär zu Hilfe. Ausländische Mächte wollen ihn stürzen durch Wahlbetrug, propagiert er. Notstand ausgerufen. Brasilien kann nur durch ihn gerettet werden, gibt er bekannt.

sich alles von selbst erledigt. Da kann die Kölner U-Bahn und Klüngel mit ihren mittleren Erdbeben nicht mithalten und Deine Geschichte ist alles andere als "Nippes",

böser, bitter böser @Morphin,

und nun zur aktuellen Fassung, die mich mit dem Namen der „Ariane“ aus der geopolitischen in die mythologische Richtung führt – wer‘s nicht parat hat, Aria(d)ne ist die Tochter des Minos (von Kreta, daher der Name der „minoischen“ Kultur) – und jeder wird eine Vorstellung vom Aria(d)nefaden im Labyrinth des Minos haben, wo der Minotaurus seiner Opfer harrt. Und da wird selbst John ohne Land - Schwager Heinrich des Löwen, des durch eigene Schuld verfemten Cousins Barbarossas und Vater des Hauses Hannover - benannt, der noch zu Lebzeiten seines vermeintlich vom Volk verehrten Löwenherz (ja, Robin Hood schwingt auch mit) die Thronfolge antritt und sich gar in mitteleuropäische Angelegenheiten der Staufer einmischt und 2014, pardon, 1214 eine Niederlage erleidet, die als Ursprung demokratischer Sitten gilt in der Magna Charta und doch nur die Rechte des Adels - ob Geld oder Blut-, Jacke wie Hose, regelt. Wie wäre die Sage um Theseus unter modernen Bedingungen ausgegangen, wo die digitale und elektrifizierte Welt von freiwillig hingenommener Überwachung gesteuert wird - vom öffentlichen Verkehrsmittel über denPrivatwagen bis hinein in die Wohnung, die keineswegs mehr "my castle" ist. Niemand muss unbedingt einem älteste Literatur lesenden Narren – andere werden Idiot meinen - klar werden, wenn er letztlich merkt, dass alle gezogenen Fäden tiefer ins Unglück führen. Wir basteln uns unseren Santorin selber, ohne jemals in Mythen oder gar einem Buch Moses verewigt zu werden.

Aber der Reihe nach!, lesen wir die Flusen auf, denn wenn es heißt

… Seit zehn Jahren halte ich dich für einen Idioten. Namen sind egal, wenn es sich um Idioten handelt.«
dann sollten wir wissen, dass der „Idiot“ eigentlich nach dem griechischen ídios eben „eigen“ ist und somit halt „eigentlich“ ein eigentümlicher Mensch, halt ein Individualist – der halt mehr oder weniger aus der „erwarteteten“ Norm herausfällt und eine ungewöhnliche Geschichte erwartet werden darf.

Und was wäre an einem „Idioten“ gegenüber dem „Vidioten“ schlimm?

Die vom System angezeigte Zeichenanzahl (entspräche ca. 16 Normseiten , die Seite zu 30 Zeilen, die Zeile zu 60 Zeichen unter courier 12 pt., der guten alten Type der Schreibmaschine verlangt nach Sitzfleisch und Konzentration für eine gute "reine" Lesestunde.

Und ich fang gleich mit einer kollektiv-sprachlichen Übertreibung an, denn wenn ich gefragt werde, ob ich Kinder habe, kann ich getrost behaupten „nein“, denn es gibt nicht nur chinesische Einkindfamilien. Und wer wollte widerlegen, dass ein Kind keine Singularität ist, nach der die neueste Soziologie die aktuelle Gesellschaft benennt (Andreas Reckwitz, mein ich, habe den Begriff der Gesellschaft der Singularitäten eingeführt)?

Keine Möwen, kein Zausen des Windes an meiner Jacke.
...
Null Verletzte.

Keine Kinder. … Keine Urlaubsanträge in den letzten Jahren.
Warum also stets Plural, wo direkt nach null nur eins folgen braucht?
Und dann gleich die übertreibende Umkehrung
Mir fällt die Frau aus dem Traum ein, an deren Gesicht ich mich in keinster Weise erinnere.
In wörtl. Rede hätt ich diese Übertreibung nicht aufgeführt, so spricht "man" halt.
Aber muss man auch so schreiben?
„Kein“ ist doch schon wenig genug ... Weniger geht eigentlich gar nicht ...

Er dreht ein wenig seinen Kopf. Gerade so weit, um nicht in seine Augen sehen zu müssen.
Da ist ein Possessivronomen zu überdenken, meine ich

Sie schweigt und starrt mich an, als prüfe sie, inwieweit ich tatsächlich ein Idiot sei.

Warum Konj. I in dieser zweifelhaften „als-ob“-Situation?
Hält Heinrich sich schon selbst für einen Idioten im herkömmlichen Sinn?
M. E. besser „prüfte“ und „wäre“!

ähnlich hier

Als hangele ich mich an einem Faden entlang, der – extra gespannt für einen Idioten – zu einem Ziel führt, an dem ich mich aufhalte, wenn ich nichts zu tun habe.
hangelte, führte, aufhielte, hätte (oder – natürlich – würde-Konstruktionen, die ich natürlich verabscheue und nur in Zweifelsfällen nutze, wenn etwa die Standardendung aufs Prät. wie zB zu laufen, Prät. lief, Konj. II liefe nicht ausreicht – etwa im Plural „wir liefen“ identisch sind und nicht durch den Zusammenhang der Konj. irrealis schon gekennzeichnet ist

»Hat sie dir gesagt „Ich habe sie gesucht“, „Ich wusste, dass wir uns hier treffen“, „Gehen sie bitte nicht weg. Ich werde wiederkommen“?«
Besser Höflichkeitsform – hätte doch sonst die Traumfigur geduzt … denk ich.

Den Deckel hat sie übernommen und wir stehen vor ihrer Wohnung im Gereonswall, direkt vor der Unterführung.
Komma weg!, imFalle der „Atempause“ ist ein Gedankenstrich besser als ein regelloses Komma Kleistschen Formates, dto. Hier
Nase rümpfend folge ich ihr durch die Haustür, in den zweiten Stock.

Hier
»Okay. Ich zeig dir die Videos eines nach dem anderen.«
geht‘s doch ohne kommatische Verführung ...

wortlos:

Meine Mailadresse rufe ich nur alle Schaltjahr ab – oder so; …
Mein Herz pulsiert, als gäbe es auf den letzten Metern eines Rennens alles zu geben.
Doch, beim Sprint schon – aber Du meinst vllt. „als gälte es“

Aber schon auf der Hälfte des Erreichten ist mir, als müsse ich gehen.
s.o.
»Kommen sie, da ist eine Bank. Ich will mich auch hinsetzen.«
Die einzelnen Dateien schienen wie aus einer anderen Welt [zu sein].
Du kennst bestimmt schon die Geschichte von meinem Deutsch- und Geschichtslehrer, der behauptete, nur die Sonne scheine und selbst der Mond habe sein Licht nur geliehen.

Und selbst wenn ganze Philosphien auf „Sein“ und „Schein“ aufbauen, geht es dem Verb „scheinen“ zumeist wie dem „brauchen“, von dem es heißt, wer „brauchen ohne zu gebraucht, braucht brauchen gar nicht zu gebrauchen“. Und natürlich hatte der weise Mann Recht.

Das war's fürs Erste vom

Friedel,
der noch ein schönes Wochenende wünscht!

 

Mahlzeit @Friedrichard ...

... you are fired! :D

So, hab deine Änderungen eingearbeitet und anderes umgearbeitet. Bissken hier und bissken da. Wenn de fürs Lesen vom Kommentar länger brauchst als für dat Schreiben der Jeschichte, wat? Nä, es war mal wieder nötig, eine Geschichte zu schreiben. Nur so Sachbücher ist auf Dauer nix. Da kommt man tatsächlich auch aus der Übung. Schreiben ist wie Radfahren oder Schwimmen. Üben, trainieren, Routinen aufbauen. Sachbuch ist was völlig anderes ... guckst du, Fakten ... okay, stimmen ... schnörkellos. Punkt.

Deswegen habe ich gleich mal die nächste Geschichte angefangen. Ich danke fürs beständige Kommentieren und wünsche fortwährende Gesundheit.

Griasle
Morphin

 

Hey @Morphin

Du weisst, wie man eine Geschichte erzählt. Für mich besitzt der Text gerade die richtige Mischung zwischen Alltagsnähe und Fremdheitserfahrung. Die irritierende Distanz zum Mitmenschen und zum eigenen Selbst ist sehr schön eingefangen, auch in den Dialogen. Man weiss lange nicht oder gar nie so recht, was eigentlich los ist mit dem Erzähler, was es mit den Träumen auf sich hat, und entwickelt doch die eine oder andere Ahnung. Ein Text zwischen Jetzt und Zukunft, zwischen Hier und Dort. Habe ich sehr gerne gelesen.

Weil du schreibst, dass du ansonsten Sachtexte verfasst, folgende Anmerkung:

inmitten einer lediglich aus zahllosen grauen Schattierungen bestehenden Welt.
Das einzig Vertraute ist das Knirschen der kleinen Kiesel unter meinen Füßen und das müde Heranrollen der Wellen
hinweggetragen von plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Böen
Ich fand den Einstieg sprachlich etwas sperrig, Substantivierungen und Partizipbildungen aufweisend, die man eher von Sachtexten kennt. Im Laufe der Zeit geht das zurück und du lässt die Verben besser arbeiten, die Ellipsen und Substantivierungen begreife ich dann zudem mehr und mehr als Eigenheiten deines bürokratischen Erzählers. Den Einstieg würde ich mir aber noch mal anschauen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Mahlzeit @Peeperkorn,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich werde deinen Ratschlag befolgen und nach einer Abklingzeit den Beginn noch einmal durchforsten. Träume sind schwer zu erzählen ... finde ich zumindest. Es freut mich aber, dass die Worte dir ein paar angenehme Samstagabend-Minuten verschafft haben.

Allseits Gesundheit wünscht
Morphin

 

Lieber @Morphin

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Einige Vorschläge und Korrekturen habe ich umgesetzt. Andere nicht, weil sie "Heinrichs Sprache" entsprechen. Als Beispiel: Heinrich sagt immer "... einen Zettel und einen Stift ..." Natürlich, eine Aufzählung, da könnte man es weglassen und die Regel sollte dann in jedem Stück Literatur gelten. Aber dann ebnen die Regeln die umgangssprachlichen Besonderheiten ausnahmslos ein. Klar, Fehler wie direkte Anrede müssen weg, umgangssprachliche Besonderheiten lasse ich immer drin.

Gern geschehen.
Das ist sehr nachvollziehbar.
Und es sind ja auch nur Vorschläge :)

Zum Samstag und Arianes Besuch ... im Text steht:
»Darf ich am Samstag kommen?«, hakt sie nach.
Der Fußboden zittert erneut. Oder bin ich das? Ich blicke über ihre Schulter auf ein kleines Gemälde. Blattlose Bäume in einer Winterlandschaft. Mein Schweigen dauert an und sie räuspert sich.
»Okay. Ich will nicht mit der Tür ins Haus fallen. Sag mir einfach Bescheid, wenn sich was ergibt.«
Ich nicke, öffne die Tür mit einem Ruck und gehe.

Das ist bei mir dann echt untergegangen. Sorry!

Heinrich antwortet nicht, was einer Absage gleichkommt. Er ist nur zu feige, es zu sagen.

Ok

as Vergessen von Namen der Kolleg*innen ist mir beispielsweise in meiner Bundespostzeit sehr oft begegnet. Der Grad an Gleichgültigkeit und Einerlei war so hoch, dass sogar Namen verschwanden.

Mega krass! Das ist ja schrecklich.

Ich wünsche Dir einen schönen 2. Advent und lasse liebe Grüße hier,
Silvita

 

@Silvita,

vielen Dank. Ich schreibe und höre Ten Years After. Also ist der 2. Advent sicher nicht schlecht. Kein Grund übrigens sich zu entschuldigen. Warum auch? Alles easy. Nachher werde ich hier noch was stöbern und nen Kaffee schlürfen.

Griasle
Morphin

 

Guten Abend @Morphin,

deine Kurzgeschichte hat etwas düsteres und melancholisches. Gefällt mir. Dein Protagonist liest sich echt, konnte ihn ganz gut fühlen. Gleichzeitig hatte ich während des Lesens immer mehr den Eindruck, dass sich das alles nur in seinem Kopf abspielt. Ich hatte diese Vermutung, dass er auf dem Weg ist, verrückt zu werden und mit verschiedenen Anteilen von sich im Konflikt steht. Ein interessanter Text. Mir sind noch ein paar Kleinigkeiten aufgefallen. Ich gehe in der Textarbeit darauf ein und lasse dir meinen subjektiven Leseeindruck da.

Das einzig Vertraute ist das Knirschen der kleinen Kiesel unter meinen Füßen und das müde Heranrollen der Wellen, die eine nach der anderen auf dem feinen Sand auslaufen.
Der Einstieg funktioniert gut für mich. Das ist bildlich und du baust eine mysteriöse Atmosphäre, die mich weiterlesen lässt und bis zum Ende der Geschichte immer mehr fasziniert hat.

Das Meer bleibt von den Böen unbeeindruckt und dann stehe ich in der Tat einsam und allein auf der Deichkrone inmitten der graufarbigen Welt.
Wie traurig, das baut die düstere Atmosphäre weiter aus.

Der Radiowecker erwacht zum Leben und holt mich aus dem Reich der Träume. Deutschlandfunk, Nachrichten. Ein kurzer Überblick.
Ich mag, wie du die Nachrichten erwähnst und dann den Gedankenfluss des Protagonisten schilderst. Das habe ich gerne gelesen.

Die Arbeit wird von einer Software erledigt. Ich bin so eine Art Alibikontrolleur. Nichts Weltbewegendes. Solange die Software funktioniert, läuft alles tadellos.
Ich stelle mir deinen Protagonisten als einen resignierten Mann vor, der wenig bis gar keinen Sinn in seinem Leben sieht. Das kommt für mich durch die Beschreibung der Software gut durch. Es geht nicht um seine eigene Leistung, sondern nur um die funktionierende Software. Die Stelle hat mir gut gefallen.

»Was Besonderes vorgefallen?«
Routinefrage. Lies dir die Logdateien durch, denke ich, dafür sind sie da.
Die Interaktion zwischen Dialog und der Innenwelt deines Protagonisten mochte ich. Das hast du später auch noch mal drin, wenn sie ihn fragt, ob sie vorbeikommen kann und er einfach nicht antwortet. Gut geschrieben in meinen Augen.

Ich trotte hinterher, quere die Turiner Straße, weiter in den Thürmchenswall, vorbei am Eigelstein-Tor.
Hier sind die Details, die für mich wichtig sind, weil sie mich im Zweifel lassen. Ist es doch die Realität oder denkt er sich das alles nur aus? Erlebe ich als Leser wirklich das, was der Protagonist erlebt oder erlebe ich eine konstruierte Innenwelt von ihm?

Ich ziehe die schlechte Toilettenluft ein und nicke.
Der Geruch ist klar und ich mag ihn nicht. Das passt gut zur Geschichte.

»Muss frau immer was entdecken wollen, wenn sie neugierig ist?«
Meiner Meinung nach müsste "Frau" großgeschrieben sein. Bin als Leser kurz darüber gestolpert.

Ich versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal wütend wurde aufgrund von Beleidigungen. Es fällt mir nicht ein.
Ich kaufe so gut wie nichts, gehe kaum aus dem Haus …«
Stürbe sie morgen, wäre sie übermorgen vergessen. Ebenso wie ich.
Pure Resignation, dein Protagonist tut mir leid.

»Mit jedem Traum wird es schärfer, also klarer. Und ich träume es nur in Schwarzweiß.«
»Zwei Jägermeister, bitte!«, rufe ich zur Theke und kippe meinen ersten in einem Zug runter.
Erstmal einen Schnaps, Dialoge lesen sich gut in meinen Augen. Gerade, weil das nicht so konstruiert ist.

»Hat sie dir gesagt „Ich habe Sie gesucht“, „Ich wusste, dass wir uns hier treffen“, „Gehen Sie bitte nicht weg. Ich werde wiederkommen“
Das hat wieder diese Interpretation verstärkt, dass da etwas nicht stimmt und er vielleicht gefangen in seinem Kopf ist. Kann da natürlich komplett falsch liegen, aber hatte für mich etwas Mysteriöses und hat Spannung aufgebaut, weil ich diese Hypothese weiter überprüfen wollte.

Um sie herum entsteht eine Art Aura, unsichtbar und kalt. Ich kann sie deutlich fühlen und mich fröstelt es einen Moment. Ariane hat Angst.
Ja, mich hat es da auch gefröstelt. Hat mir gefallen.

»Willst du deinen Kaffee stark?«, ruft sie aus der Küche.
»Ja, bitte. Mit einem Löffel Zucker. Keine Milch.«
Aber das ist schon okay. Hauptsache Zucker ist drin.
Für mich hat das mit dem Zucker nicht gepasst. Ich stelle mir deinen Protagonisten als einen resignierten und lustlosen Mann vor. Er geht fast nie einkaufen und ihm ist alles egal. Wieso sollte er da Zucker in seinem Kaffee haben? Das wäre für mich eher ein Zeichen dafür, dass er das Leben doch noch irgendwie angenehmer gestalten will, aber meiner Meinung nach passt das nicht in die Charakterzeichnung.

Ich weine? Da spüre ich tatsächlich etwas Leichtes über meine rechte Wange rollen, in meinen Mundwinkel hinein.
Diese Stelle lässt mich daran zweifeln, ob das alles wirklich real ist.
Wie wenig ich mit ihnen rede, mich für sie interessiere. Wie egal sie mir sind. Also trinke ich meinen Kaffee leer.
Ihm ist alles egal, das kommt hier gut raus.

Dafür zucke ich mit der Schulter und wische mit dem Ärmel die Tränen weg.
»Ich weiß nicht, was gerade passiert«, wiederhole ich.
»Den Mensch in Ihnen. Wo haben Sie ihre Liebe gelassen?
»Ich weiß, was sie träumen. Der Traum, der Frau, die sagt, sie sollen warten«, unterbricht sie mich.
Diese Stellen lassen mich wieder zweifeln, ob das hier wirklich passiert oder in Teilen nur in seinem Kopf. Das hat mir gefallen, hat deinen Text besonders gemacht für mich.

»Wissen sie«,
»sie sind so leer wie eine alte Gemüsekonserve.
"Sie" müsste in meinen Augen großgeschrieben werden.

Und ich sehe Ariane. Ihr Gesicht an ihrem zerschmetterten Körper. Es sieht verwundert aus. Wie eine Frage, wie etwas Leichtes auf einer schweren Dünung, so erstaunt über all das Geschehen in diesem Leben auf dieser Welt.
Das Ende ist düster und ich weiß als Leser nicht so genau, ob er das wirklich alles so erlebt hat oder nicht. Ich finde, dass genau das der Charme an deinem Text ist. Ich konnte da als Leser etwas konstruieren, du gibst mir den Raum dazu. Ich habe deine Art zu schreiben und diese dunkle Atmosphäre genossen. Klar, so etwas könnte ich nicht dauernd lesen, aber ab und zu lese ich so etwas schon gerne. Danke.

Wünsche dir einen guten Start in die Woche.


Beste Grüße
MRG

 

Guten Morgen @Morphin

ich tat mich beim Einstieg in deine Geschichte etwas schwer, sie war mir zu langweilig wie das Leben deines Protagonisten. War wahrscheinlich Absicht.
Doch dann hat mich deine Geschichte gefesselt.
Ich finde es wunderbar wie du schreibst, beschreibst ,umschreibst.

Nase rümpfend folge ich ihr durch die Haustür in den zweiten Stock. Warum müssen Treppenhäuser immer die Düfte aus 100 Jahren speichern? Ich stelle mir vor, ein Hund zu sein, der hunderte Jahre Menschheitsgeschichte durchsteigt, innerhalb von 48 Stufen. Ariane ahnt etwas.
»Deine Nase arbeitet noch gut?«
»Scheint so. Welcher dieser Düfte ist schon tot?«
»Seit ich hier wohne, ist noch keiner gestorben.«
Sie holt den Schlüssel aus der Jackentasche und schließt auf. Das Schloss hat mehr eine Alibifunktion. Die Tür ist so verzogen, dass an mehreren Stellen der Blick in den Flur gelingt.

Wie hier das Treppenhaus mit diesem Humor dazu einfach genial.

Schade, dass diese Geschichte so traurig endet.
Doch sie endet wenigstens, denn ich kann mir gut vorstellen, dass es diese Menschen wie du sie beschreibst tausendfach gibt. Die Kollegen haben, mit denen sie so gut wie gar nicht sprechen. Nichts voneinander wissen und es passiert bis sie ins Rentenalter kommen gar nichts, kein Traum der sie verbindet nichts.

Ich habe deine Geschichte super gerne gelesen vielen Dank dafür.

Hab einen schönen Tag
CoK

 

Moin @Morphin,

auch ich habe deine Geschichte gerne gelesen. Ich mag die Stimmung.
Habe noch ein paar Sachen gefunden:

Er dreht ein wenig den Kopf. Gerade so weit, um nicht in seine Augen sehen zu müssen.
Ich verstehe nicht so richtig, was er hier macht.
»Gut, also gehen wir was trinken. Ich kenne aber nichts hier in der Nähe.«

»Ich schon«, antwortet sie und schwingt sich auf ihr Fahrrad. Gemütlich fährt sie los. Ich trotte

Kann gut sein, dass du den Absatz der Übersicht halber eingebaut hast - ansonsten macht er allerdings nicht so viel Sinn und könnte mMn weg.
„De schäl Sick“ steht auf einem Holoschirm über der Tür. „De schäl Sick“? Ich bin verwundert und trete ein.
Hab lange in Köln gelebt und weiß daher, was es bedeutet. Allerdings kam es bei mir nicht ganz an - ich würde, selbst für die, die des Kölchen mächtig sind, den Witz irgendwie ausbauen, erklären. Einfach sowas wie »Sind wir hier nicht auf der richtigen Seite?« anstelle der Wiederholung des Kneipennamens. Nur so ne Idee ;-)
Bin draußen über eine Gehwegplatte gestolpert.
Kann er natürlich sagen, finde ich allerdings im Dialog etwas unrealistisch (im Gegensatz zur Beschreibung seines Stolperns vorher).
Sie hielt ihre Hand hoch und schnippt mit den Fingern.
Das müsste "hält" heißen.
»Ich habe keine Ahnung, wie und bei was ich dir helfen könnte?
Ich würde einen Punkt setzen, da es keine Frage ist, sondern eine Aussage.
»Sag mir, ob ich spinne?«, will Ariane wissen.
Dito. Ist ja ein Imperativ. Alternativ: Sag mir, spinne ich?
Den Deckel hat sie übernommen
Ist ja nicht wirklich ein Deckel, aber ist natürlich eine Kleinigkeit und kann ich auch im übertragenen Sinne sehen.
Im Wohnzimmer ist spärliches Licht.
Finde ich etwas plump formuliert, geht sicher eleganter ;)
Zuhause schau ich sie mir genauer an.
Zu Hause
»Hast du Zettel und einen Stift?
Das "einen" würde ich streichen. Oder "einen Zettel und Stift"...
»Heinrich.Ohneland (ät) cologne.net.«
Die Klammern würde ich streichen - er spricht sie ja nicht aus, sondern sagt nur "ät".
Die nächsten zwei Tage habe ich frei, dann ist eh Wochenende.
Hier habe ich kurz gedacht, ist da nicht ein Logik-Fehler drin, denn...
»Sieh bitte zu, dass nicht wieder alles voller Brotkrümel ist morgen früh.«
...kurz vor Feierabend hat er seinem Vollkorn-Mitarbeiter ja das hier gesagt, was mich annehmen lässt, dass er morgen früh wieder ran muss. Ist aber auch nur ne Kleinigkeit ;)

»Setzen sie sich«, sagt sie in einem weichen Ton und drückt mich sanft auf das kühle Aluminium.
Du hast in dem Dialog zwischen ihm und der alten Dame mehrmals die Anrede "Sie" und "Ihnen" klein geschrieben. Habe nur eines davon zitiert/markiert.
Erst am Samstagabend habe ich meinen Mailaccount durchforstet und im SPAM-Ordner eine identische Anzahl Mails gefunden, wie Ariane sie bekommen hat.
Finde ich etwas unrealistisch, da es ihn ja nun doch ziemlich mitnimmt, dieses ganze Video-/Traumding. Also dass er nicht vorher nachsieht.

Coole Geschichte!
Schönen Start in die Woche,
rainsen

 

Salü @MRG,

besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Der Wochenstart war "Heizungsausfall". Mal wieder. Jetzt ist Rörich mit seiner Truppe wieder weg. Deine Frage, was real ist und was nur "im Kopf" passiert, ist interessant. Habe ich mir zu diesem Text noch gar nicht gestellt. So ne Art Dissoziative Identitätsstörung ... hm, das wäre auch ne Möglichkeit. Das Wörtchen "frau" anstelle des "man" ist umgangssprachlich - zumindest hier in dä Palz - schon recht üblich. Und da "man" klein geschrieben wird, eben auch "frau". Meine Frau sagt, es wird klein geschrieben.
:D
Mal schauen, was die Fachliteratur dazu sagt ...


@CoK,

hm, das zu Beginn war tatsächlich ein erlebter Traum vor einigen Wochen. Leider wie alle meine Träume ohne ein Ende. Deine Annahme, dass es diese Menschen zu tausenden gibt, ist aus meiner Erfahrung sogar noch untertrieben. In all den teilweise unterirdischen Jobs der letzten 35 Jahre oder auch in meiner jetzigen Tätigkeit, begegneten und begegnen mir diese Menschen zuhauf. In der Tat deprimierend. Und doch habe ich dich unterhalten und für entspanntes Lesen gesorgt. Vielen Dank für deine Worte dazu und das Lesen der Geschichte.

@rainsen,

der Brotkrümel-Typ dreht seinen Kopf, aber nur so weit, dass er den Protagonisten nicht sehen kann, bestenfalls im Augenwinkel. Ein wenig arrogant, könnte man sagen. "Die falsche Seite" habe ich jetzt unten als Erklärung angehängt (Hab ich grad entdeckt, dass es so was gibt! :eek:). Und Heinrich - also mein Alter ego - spricht genau so, also mit der Gehwegplatte und einen Zettel und einen Stift ... er ist ein Pedant. Ja, und "Deckel" ... Tischplatte konnte ich ja nicht schreiben und für mich alten Sack ist "Deckel" feinste Umgangssprache, so wie Heinrich eben spricht. Ebenso wie "Sag mir, ob ich spinne?" ist ein Ausdruck meiner Frau (sie möge mir verzeihen), wenn die Spülmaschine mal wieder nicht ausgeräumt ist.

Das mit der Mailadresse ... da bin ich halb wahnsinnig geworden. Hatte sie in korrekter Form drin, da wandelt der sie doch tatsächlich in eine mailto: um, also bearbeiten, markieren, Link entfernen > nix. Dann Leerzeichen rein > nix. Dann die Klammern und die Leerzeichen > dann erst hat er keine funktionierende mailto: mehr draus gemacht. Also hab ich es so gelassen.

Logikfehler ist raus.

So, und auch dir gilt nun mein Dank fürs Lesen und das Kommentieren und die Gedanken machen und für alle gilt:

Gesund bleiben!

Morphin

 

für mich alten Sack ist "Deckel" feinste Umgangssprache, so wie Heinrich eben spricht. Ebenso wie "Sag mir, ob ich spinne?" ist ein Ausdruck meiner Frau (sie möge mir verzeihen), wenn die Spülmaschine mal wieder nicht ausgeräumt ist.
:D Alles klar!
Das mit der Mailadresse ... da bin ich halb wahnsinnig geworden. Hatte sie in korrekter Form drin, da wandelt der sie doch tatsächlich in eine mailto: um, also bearbeiten, markieren, Link entfernen > nix. Dann Leerzeichen rein > nix. Dann die Klammern und die Leerzeichen > dann erst hat er keine funktionierende mailto: mehr draus gemacht. Also hab ich es so gelassen.
Oha, ja das klingt nach viel Aufwand für wenig...ist auch nicht so wild :)

Du auch!
Gruß,
rainsen

 

Hallo Morphin,
Ganz kurz haben wir beim Zoom-meeting ja schon über deine Geschichte gesprochen. Nun noch ein paar schriftliche Gedanken dazu.
Heinrich hat für mich etwas an sich, was nach Erlösung schreit. Als sei da eine dicke Decke, die irgendetwas Schlimmes zudeckt, das Leben aushaltbar macht und zugleich verhindert. Und dahinter die Sehnsucht. Da sind so geistige Suchbewegungen, die in die Sackgasse führen und körperliche Reaktionen, die ihn überschwemmen. Und während er immer noch auf seiner Gleichgültigkeit beharrt, ist da schon ein Erstaunen darüber, dass Ariane ihm nahe kommt, ihm etwas bedeutet. Ach, ich fand es einfach so bitter, dass dann schon gleich der Tod kommt.
Diese Ebene des gemeinsamen Träumens, der grauen Frau als Todesengel, die in Träumen und in E-Mails auftaucht, lässt mich auch in die Richtung von MRG denken, dass das was Innerpsychisches ist. Ich habe Menschen vor Augen, bei denen ich auch diese Seite wahrgenommen habe, die Heinrich hier ganz verkörpert. Und im Hinblick auf den Tod sind wir ja alle irgendwie einsam.
Dann dieser gesellschaftliche Aspekt, dass solche bindungslosen Menschen ganz gut in das Arbeitsprofil von morgen und eigentlich schon heute passen. Man ist ja nur in einem abgestumpften Zustand überhaupt in der Lage, so einen sinnlosen Job zu ertragen. Deshalb sehe ich Ariane ihm auch nur einen Schritt voraus. Immerhin. Passt ja auch am Ende, welches sie auf eine makabere Weise vereint.


Die Frau kommt auf mich zu, als ich einsam einen schmalen Kiesweg auf der Deichkrone entlangwandere, inmitten einer lediglich aus zahllosen grauen Schattierungen bestehenden Welt.
Das finde ich für einen ersten Satz ziemlich umständlich und lang. Vielleicht zwei Sätze daraus machen?

Kein Möwengeschrei, kein Zausen des Windes an meiner Jacke.
Sehr eindrucksvoll, diese Stille, die schon auf eine "andere Dimension" hinweist.

»Idiot«, ist mein erster Gedanke.
Das bezieht sich hier auf Bolsonaro, wird aber später noch mehrmals verwendet. War das Absicht? Hier, bei Heinrich stelle ich es mir so gedämpft, gleichmütig ausgesprochen vor, später, bei Ariane hat es mehr Schärfe.
Ich schalte das Radio aus und denke daran, mich zu befriedigen, von etwas Schönem tagträumen, einem Sehnsuchtsort mit nur einem Sehnsuchtsmenschen, aber mir fällt nichts ein. Weder Ort noch Mensch. Also liege ich still und lausche den wenigen Geräuschen, die spärlich durch das gekippte Fenster eindringen.
Traurig.
Selten ein einsamer Vogel, dessen Zwitschern und Trällern ohne Antwort bleibt.
Sehr traurig.
»Ich werde nie verstehen, warum du das immer tust«, raunt sie.
»Das ist auch nicht notwendig.«
Dass er da einfach mal seine Drohnen losschickt, hat ja durchaus auch was Verspieltes, Übermütiges. Ich habe die Phantasie, dass er eigentlich jemand ist, der Regeln gerne bricht. Du deutest da ja später auch ein Vergehen in der Vergangenheit an. Sie fühlt sich von der Aktion provoziert, vielleicht, weil sie hier enger ist, angepasster.
»Ich glaube, du bist so voller Langeweile, dass du nicht mal einen Selbstmord hinbekämst«, ätzt sie.
Es wirkt auch ein bisschen so, als rede sie von sich selbst.
»Ich hab es schon probiert. Du hast recht«, erwidere ich und bin selbst davon überrascht, ihr das zu gestehen.
Und hier geht es von jahrelanger gegenseitiger Missachtung gleich hundert Prozent ins Eingemachte. Merkwürdigerweise kaufe ich das.
Routinefrage. Lies dir die Logdateien durch, denke ich, dafür sind sie da. Natürlich weiß ich, dass die Menschen fragen müssen, egal wie viele exakte Informationen sie in dieser Sekunde abrufen können.
Das finde ich schön. Wieder eine Facette der Einsamkeit und der Versuch in Kontakt zu kommen. Heinrich weiß es, fühlt sich nicht zugehörig. Ihn stören nur die Krümel.
»Ich schon«, antwortet sie und schwingt sich auf ihr Fahrrad. Gemütlich fährt sie los. Ich trotte hinterher, quere die Turiner Straße, weiter in den Thürmchenswall, vorbei am Eigelstein-Tor. Über unseren Köpfen surren langsam zwei Polizeidrohnen. Gesichtserkennung. Ich winke.
Man hat keinen echten Kontakt, keine Beziehung, aber man beobachtet einander.
Mit der Schuhspitze bleibe ich an einer Gehwegplatte hängen, die – warum auch immer – ein wenig nach oben absteht. Jemand kichert und ich sehe meine Kollegin nicht mehr.
Da blieb ich auch irgendwie hängen. Also er fällt nicht, aber er verliert sie dabei irgendwie aus den Augen?
»Mach dir nichts draus. Seit zehn Jahren halte ich dich für einen Idioten. Namen sind egal, wenn es sich um Idioten handelt.«
Ich ziehe die schlechte Toilettenluft ein und nicke.
»Ja, da hast du recht.«
Sehr eindrücklich mit der Toilettenluft. Ariane sucht sich auch nicht den Platz an der Sonne. Und ihr eigenes Schneckenhaus verlässt sie jetzt nur, weil sie Angst hat, oder?

Du bist 52 Jahre alt. Steht in deiner Akte. Und du hast Scheiße gebaut.
Macht ja echt neugierig.

Ich presse meine Lippen aufeinander und setze mich aufrecht.
»Es ist besser, mir zu verraten, wobei ich helfen könnte, denn ich würde gerne nach Hause gehen.«
Ich finde es immer etwas merkwürdig, wenn erst Lippen zusammengepresst werden und kurz darauf gesprochen wird.
Ich stelle mir vor, ein Hund zu sein, der hunderte Jahre Menschheitsgeschichte durchsteigt, innerhalb von 48 Stufen. Ariane ahnt etwas.
Sehr schön. Der Humor in der Geschichte macht es überhaupt erträglich und die Figuren sympathischer.
Stürbe sie morgen, wäre sie übermorgen vergessen. Ebenso wie ich.
Eine bittere Vorausschau.
Sie antwortet nicht, also wird sie es verstanden haben. Ich höre einen Wasserkocher, das Öffnen einer Blechdose, einen Löffel in einer Tasse. Meine Sinne wölben sich förmlich nach innen. Ich stürze in mich zusammen wie ein vakuumierter Gefrierbeutel. Meine Hände suchen Halt auf der Stuhllehne.
Das ist für mich die ergreifendste Stelle. Ich deute es so, dass es da eine Erinnerung gibt. Vielleicht auch, dass dieses Versorgtwerden bei ihm etwas aufbricht. Puh, das geht mir echt unter die Haut. Und die Beschreibung finde ich richtig stark.
»Kann ich dir nicht sagen. Kommt ab und zu mal vor, in ganz seltenen Momenten. Ich glaube, bestimmte Dinge müssen zusammentreffen, dann geschieht es.«
»Und du willst nicht wissen, welche das sind?«
Ich schüttele den Kopf und trinke einen Schluck. Für einen löslichen Kaffee gar nicht mal so schlecht.
Ganz schnell ablenken jetzt.
»Ja, genau das.« Sie schluckt hörbar. »Was könnte das bedeuten, Heinrich? Drehen wir gemeinsam durch?«
Es juckt in meinem linken Ohr. Ich kratze mich und sofort ist es mir peinlich. Als wäre ich hier daheim. Gemeinsames Durchdrehen?
Es beginnt schon, das "sich daheim fühlen". Sehr beängstigend für ihn.
Mir ist plötzlich bewusst, wie sehr ich schon weit außerhalb der Menschen stehe. Wie wenig ich mit ihnen rede, mich für sie interessiere. Wie egal sie mir sind. Also trinke ich meinen Kaffee leer.
Deshalb empfinde ich ihn hier unzuverlässig als Erzähler.
Der Boden zittert heftig und lang. Wir schweigen, bis es vorbei ist.
»Ich könnte hier nicht wohnen«, sage ich und stehe auf.
Solche Details mit dem Boden finde ich auch großartig gewählt.
»Danke«, erwidert sie und nickt. »Ich habe ab heute eine Woche frei. Darf ich am Samstag kommen und dir über die Schulter schauen?«
»Das wusste ich gar nicht.«
Das irritierte mich, weil ich seine Antwort auf ihre Frage bezogen habe. Klärt sich dann, aber ist merkwürdig.
»Den Mensch in Ihnen. Wo haben Sie ihre Liebe gelassen? Ihre Hoffnung? Ihr Mitgefühl? Ihr Leben? Wo haben Sie ihre Träume gelassen?«
Plötzlich werde ich wütend.
»Meine Träume? Ich kann Ihnen sagen, was ich träume …«
»Ich weiß, was sie träumen. Der Traum, der Frau, die sagt, sie sollen warten«, unterbricht sie mich. Einen Atemzug lang sehe ich nicht die Alte, ich blicke auf die Frau auf dem Deich, auf das trotz des Windes stille Meer. Ich stehe auf und gehe voller Angst nach Hause.
Ehrlich gesagt kann ich mit dieser Szene mit der alten Frau nicht so viel anfangen. Da ist für mich nichts Neues drin. Eher habe ich das Gefühl, ich soll nochmal was erklärt kriegen.
Mit einem Schlag haue ich das Schwarzbrot aus dem Stuhl und drücke die Drohne in Richtung lebloser Person;
Ich schlage ihn bewusstlos und verlasse das Büro.
Zweimal das Schlagen? Hm. Es zeigt, wieviel Gewalt da in ihm steckt. Aber einmal würde reichen, finde ich.
Aber wo muss ich hin? Ebert-Platz! Dort hinüber. Die Beine gehen los. Den Bus sehe ich nicht kommen.
Da anderenfalls auf sein ganzes Elend nun auch noch das Trauma mit Ariane obendrauf gekommen wäre, wirkt das hier fast wie ein versöhnliches Ende. Ich hätte den beiden was anderes gewünscht. Vielleicht war ich auch einfach nur enttäuscht, dass die Story schon zu Ende ist. Hat mir sehr gut gefallen.

Liebe Grüße von Chutney

 

Uiuiui @Chutney, da hast du ja einiges auf dem Seziertisch gehabt. Und einen guten Morgen, trotz des Nebels in der Pfalz. Ein dickes Danke und ich habe auch das eine oder andere geändert, erster Satz und 2 x "schlagen". Das mit der alten Frau kriecht noch durch meinen Hinterkopf. Vielleicht lasse ich sie ... *Spoileralarm* ...
:sealed:

In der Tat ist der Text ja so eine Art "Selbstexperiment". Heinrich ist mein Alter ego, und schließlich bin ich nicht mehr wirklich jung. Also kommen - im Gegensatz zu den anderen Heinrich-Storys - jetzt die mit "dem alten Sack". Muss mich dem Alter anpassen ... dazu gehört, dass ich mir mal ein paar parallele Möglichkeiten vorstelle, was wie passiert wäre, wenn ...

Wie wäre ich geworden unter anderen Umständen? Was liegt in den Möglichkeiten meiner Persönlichkeit, sozusagen. Und was nicht ist, kann ja noch werden. Dazu ein wenig "mystisches" Zeug, was mir doch ganz gut gefällt. Im Alter. Und am Ende steckt hinter allem eigentlich ein Roman. Aber seine Zeit ist noch nicht gekommen.

Also, bis die Tage und gesund bleiben.
Morphin

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Morphin,

ich habe gerade leider nicht viel Zeit, wollte dir aber zumindest schon mal einen Eindruck zum Anfang deiner Geschichte da lassen. Obwohl ich noch nicht alles gelesen habe, spürt man recht schnell, dass du das gut komponiert hast. Mir gefällt auch die Sprache, die fühlt sich ein wenig schwermütig an, passt aber zum Inhalt.

Anhand des ersten Absatzes hier nur mal mein Vorschlag, was man für mein Gefühl verknappen könnte, um die Spannung noch zu erhöhen:

Die Frau kommt auf mich zu, als ich einen schmalen Kiesweg auf der Deichkrone entlangwandere, inmitten einer aus zahllosen grauen Schattierungen bestehenden Welt. Das einzig Vertraute ist das Knirschen der kleinenKiesel unter meinen Füßen und das müde Heranrollen der Wellen, die eine nach der anderen auf dem feinen Sand auslaufen. Ich bleibe stehen und lausche. Kein Möwengeschrei, kein Zausen des Windes an meiner Jacke. Nur die Wellen. Die Frau kommt näher, geräuschlos, mit einem kaum merklichen Lächeln. Dann steht sie Sie bleibt unmittelbar vor mir stehen und stoppt. Keinen halben Meter entfernt. Ich sehe mich kurz um. Genug Platz, um an mir vorbeizukommen. Warum tut sie es nicht?
»Ich habe Sie gesucht«, sagt sie rklärt sie ohne Umschweife.
Reflexartig Ich lege ich die Hand auf meine Brust.
»Mich? Warum?«
»Ich wusste, dass wir uns hier treffen.«
»Aber …«
»Gehen Sie bitte nicht weg. Ich komme wieder werde wiederkommen
Noch bevor ich etwas erwidern kann, löst sich spüre ich Wind und die Frau löst sich vor meinen Augen auf. Rotierenden Staubfahnen gleich, zerfällt sie innerhalb weniger Augenblicke in Myriaden kleinster dunkler Körner, hinweggetragen von plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Böen; kaum dass ich zwei oder drei Mal atmen kann. Zügig verschwindet sie. Das Meer bleibt von den Böen unbeeindruckt und dann stehe ich bleibe in der Tat einsam und allein auf der Deichkrone zurück inmitten der grauen Welt.

Ich mag deine ausformulierte Sprache - dennoch finde ich, dass das manchmal redundant ist und dadurch die volle Wirkung nicht entfalten kann. Ist vielleicht nur mein persönlicher Geschmack, du entscheidest natürlich, aber ich finde, ohne bestimmte Adjektive (die ja eher der Untermalung dienen, als dass sie wirklich notwendig sind) und ohne bestimmte Zusätze ("Warum tut sie es nicht?" oder "Nur die Wellen" o.ä.) wirkt der Anfang viel mysteriöser und kraftvoller.

Dies mal als kleiner Anstoß, ich muss leider wieder los.

Viele Grüße
RinaWu

 

Salü @RinaWu,

so, teils übernommen und teils selbst noch was geschraubt. Auch was stehen lassen. Alles in allem scheint es mir so kompakt genug zu sein. Meinen besten Dank fürs Lesen und die Vorschläge und natürlich gesund bleiben.

Griasle
Morphin

 

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