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Der Ungeheuerhof

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24.10.2017
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Der Ungeheuerhof

Seit Menschengedenken hockte der Hof auf dem grünen Hügel und verbarg sein dunkles Geheimnis. Marie bewirtschaftete ihn umsichtig mit ein paar Knechten und Mägden. Ab und zu fuhr die junge Bäuerin ins Dorf, besuchte eine Freundin oder nahm an den Festen teil. Hannes war der beste und lustigste Tänzer im Saal. Der Müllerbursche begleitete Marie nach Hause. Nun besuchte er sie jeden Sonntag, brachte kleine Geschenke und bescherte der jungen Frau vergnügte Stunden.

„Du bist die Frau meines Lebens! Nie werde ich eine andere lieben“, beteuerte er.
„Bestimmt bin ich nicht die erste, der du das versprichst,“ lachte Marie und erwiderte seine Küsse.

„Der Junge taugt nichts“, sagte Jakob, der älteste Knecht zu Anna.
„Ein Bruder Leichtfuß, er passt nicht zu ihr“, stimmte die Magd zu.

Ein Vierteljahr später musste Hannes weiterziehen.
„Sobald ich kann, komme ich zurück“, versprach er. Marie weinte. Sie erwartete ein Kind, freute sich darüber, doch ein unbestimmtes Gefühl ließ sie darüber schweigen.

An einem lieblichen Frühlingsabend trat sie aus dem Stall und ging über den Hof. Frieden lag über dem Land, kein Windhauch bewegte die blühenden Äste der Bäume, weiße Wolken spiegelten sich auf dem Weiher. Die Katze räkelte sich in der Sonne. Anna döste auf der Bank vor dem Haus. Plötzlich plätscherte das Wasser. Hohe Wellen schwappten aus dem Teich. Der Hund knurrte mit gesträubtem Fell, die Katze floh in die Scheune. Ein riesiger, schwarzgrüner Kopf tauchte auf. Rotgelbe Augen, groß und brennend wie Fackeln richteten sich auf die junge Frau. Mit Krallen bewehrte, tellergroße Tatzen schoben das Schilf beiseite, und ein scheußliches Ungeheuer stieg ans Ufer. Es glich einer riesigen Eidechse. Sein mit Schuppen bedeckter Leib hatte die Ausmaße von gut eineinhalb Kühen. Marie wusste nicht, ob sie wachte oder träumte.

„Bist du die Bäuerin?“ Es klang wie Donnergrollen.
Sie blickte in das mit gefährlich spitzen Zähnen bewehrte Maul, nickte und wich einen Schritt zurück. Das Scheusal näherte sich.
„Warum erfüllst du deinen Vertrag nicht? Die Raunächte sind längst vorüber! – Meine Geduld geht zu Ende! Bald ist Walpurgisnacht, bis dahin gewähre ich dir eine letzte Frist – doch keine Stunde länger!“
Das Untier hob eine Tatze, packte den zitternden Hund und verschwand im Teich. Marie stand da wie vom Blitz getroffen und starrte auf das gurgelnde Wasser.
Auch die alte Magd bebte wie Espenlaub. Sie schlurfte herbei, und zog Marie zur Bank.

„Das ist der geheime Herr des Hofes. Vor langer Zeit herrschte bittere Not. Ein Bauer verlor Frau, Kind und alles Vieh. Nichts blieb ihm als ein Stück Land, auf dem ein Fluch lag. Er schloss mit dem Ungeheuer den Pakt:
Alle sieben Jahre in den Raunächten muss ein Mensch geopfert werden. Dann gelingt dem Bauern alles was er umtreibt. Hält er dem Vertrag nicht ein, verfolgt Krankheit und Armut, Elend und Tod jeden Bewohner, ob Kind oder Greis, gleich wohin er auch gehen mag. Einzig die Bäuerin oder der Bauer dürfen davon wissen und es dem Erben zu gegebener Zeit offenbaren. Als deine Eltern verunglückt sind, lag dein Großvater schon im Sterben. Ich musste ihm versprechen, für dich zu sorgen und dich einmal in das Geheimnis einweihen.“

Ungläubig lauschte Marie.
„Hat niemand versucht, dieses Untier zu töten?“
Anna wusste es nicht. Sie wusste nur, wer darüber sprach, fand bald den Tod.

Eine sternklare Nacht umgab die grünen Hügel. Die junge Bäuerin wälzte sich schlaflos im Bett. Unvermittelt heulte ein Sturm ums Haus und fuhr ins offene Fenster. Doch kaum war sie auf den Beinen, senkte sich Totenstille über den Hof. Am Morgen lag Anna tot auf ihrem Bett. Entsetzt setzte sich Marie neben die Tote, die ihr wie eine Mutter gewesen war. Da stürzte ein Knecht herein und meldete, die beste Milchkuh liege in Krämpfen und habe Schaum vor dem Maul.

Der April neigte sich dem Ende zu. Marie ging blass und wortkarg umher. War Annas Tod ein Zufall, oder kam das Scheusal nachts ins Haus? Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Einen Menschen opfern, nein, niemals. - Aber wenn meinen Leuten ein Leid geschieht! Ich trage die Verantwortung. - Ein Mörder, einer, der zum Tod verurteilt ist?
Sie fuhr den ganzen Tag und die halbe Nacht bis in die Stadt. Sie suchte Hospitäler und Armenhäuser, sah sich um und redete mit den Pflegerinnen. Schließlich wechselten Goldmünzen die Besitzerin. Mit geschlossener Kutsche kehrte Marie in tiefer Nacht zurück. Ein Knecht erwachte vom Hufschlag der Pferde und tappte heraus, um ihr beim Ausspannen zu helfen. Sie schickte ihn sofort wieder ins Bett. Als alles ruhig war, schleppte sie die armselige Gestalt, die bereits mehr tot als lebendig schien, an den Teich. Dann rannte sie in ihre Kammer und vergrub das Gesicht in dicken Federkissen. Kein Laut drang an ihr Ohr. Als die Vögel den Morgen ankündigten, schlich sie hinaus. Der Sterbende war verschwunden. Der Teich lag ruhig wie immer. Eine Gans weckte schnatternd ihre Genossinnen.

Es folgte ein wunderbares Frühjahr und ein herrlicher Sommer. Die Frucht stand prächtig wie nie, die jungen Kälber und Pferde tobten kerngesund und kräftig auf den Weiden, die kranke Kuh erholte sich. Marie fühlte sich ruhiger, Im Herbst gebar sie eine Tochter, Lene. Mit dem Kind lernte sie wieder lachen. Es folgten gute Jahre auf dem Hof. Doch das Wissen um das Ungeheuer quälte die junge Bäuerin und trübte die Freude. Eines Tages ließ sie den Teich zuschütten. Inzwischen waren mehr als sechs Jahre vergangen, seit das grässliche Wesen sein letztes Opfer bekommen hatte.

Eines Abends tauchte überraschender Besuch auf. Hannes. Seine Gesellenzeit war vorüber, aber keine Meisterstelle in Aussicht. Und die Arbeit in fremden Mühlen dünkte ihm gar zu hart. Bauer auf Maries Hof, wo man Knechte und Mägde für sich arbeiten lassen konnte, erschien ihm nicht übel. Es wurde laut und fröhlich im Haus, besonders als er Lene als seine Tochter erkannte. Merkwürdigerweise gelang es ihm nicht, das Kind zu gewinnen. Die kleine Lene mochte ihn nicht, er konnte sich um sie bemühen wie er wollte. Es wurde gefeiert und vor allem getrunken. Marie freute sich zunächst. Allerdings sah sie Hannes nun mit kritischen Augen. Sie fand seine Scherze albern, und es gefiel ihr nicht, wenn er die Mägde von ihre Aufgaben abhielt und mit seinen Wünschen herum scheuchte. Er zeigte weder Interesse für das Vieh noch für die Arbeit auf dem Hof und rührte keinen Finger. Marie verspürte keinen Funken der einstigen Liebe mehr.

„So geht das nicht weiter! Geh zur Schattenmühle und frage nach Arbeit! Und vor allem, suche dir eine andere Unterkunft!“
Der Müllergeselle dachte nicht daran. Er sprach von Heirat und betrachtete bereits den Hof als sein Eigen. „Das Kind braucht einen Vater, und den hat es nun!“
„So einen wie dich braucht sie gewiß nicht!“

Er bedrängte sie, schmeichelte ihr. Als dies vergeblich blieb, tat er ihr Gewalt an. Die Mägde zitterten vor seinem Zorn, besonders wenn er trank, und das tat er immer öfter. Die Knechte gingen ihm aus dem Weg. Eines Nachts stolperte er betrunken in Maries Kammer. Marie wehrte sich, entwischte ihm und versteckte sich unter der Treppe. Hannes hockte sich auf die oberste Stufe und verkündete lautstark, er warte. Marie schlüpfte durch die Hintertür hinaus in die Scheune. In dem vertrauten Geruch nach Heu und Stroh fühlte sie sich geborgen. Sie beschloss, die Nacht im Heu zu verbringen. Durch eine Luke fiel Mondlicht herein. Sie tastete sich zur Leiter vor, die hinauf zum Heuboden führte. Plötzlich flammten aus der Ecke neben der Kutsche zwei Fackeln auf. Marie starrte in die Augen des Ungeheuers.

„Es war böse und dumm von dir, meinen Teich trocken zu legen“, knurrte es. „Aber merk dir, ich werde immer ein gemütliches Plätzchen hier auf meinem Land finden.“
Marie zitterte. Sie brachte keinen Ton heraus. Das Untier stand nun dicht vor ihr. Schreckliche Angst erfüllte sie. Der Hof war weitläufig, das Haus geräumig. In Scheune, Ställen, Keller, Dachböden, dunklen Kammern, überall konnte das Monstrum lauern. Was, wenn eine Magd – oder gar das Kind es aufstöberte?
„Es geht dir nicht gut, Bäuerin“, höhnte das Ungeheuer. „Du bist nicht mehr Herrin auf deinem Hof! Das lässt sich leicht ändern! Bringe ihn nur nach Mitternacht hierher!“
Die Bestie verschwand im Dunkel. Marie flüchtete ins Haus zurück. Hannes saß da und schnarchte. Sie stieg an ihm vorbei und verriegelte ihre Kammer. Von diesem Tag an ließ sie das Kind nicht mehr aus den Augen. Sie beobachtete Knechte und Mägde voll Furcht, sie könnten das Untier entdecken. Nachdem ein paar Wochen nichts geschah, entspannte sie sich ein wenig. Trotzdem verfolgten sie Tag und Nacht die Worte des Ungeheuers.

Mit den Winterstürmen wuchsen Angst und Sorge der jungen Frau, und sie verlor endgültig ihre Geduld mit dem unerwünschten Besucher. Gutes Zureden und die Drohung, ihn mit Hilfe einiger Männer hinauszuwerfen, halfen nicht. Maries wusste sich vor Unruhe und Zorn nicht mehr zu helfen. Am Weihnachtsabend täuschte sie Kopfschmerzen vor und schickte das Gesinde mit Lene in die Kirche.

„Du siehst selbst, dass du nicht am richtigen Platz bist“, wandte sie sich an Hannes.
„Was redest du? Mir gefällt es, und du bist doch meine große Liebe! Du gewöhnst dich schon an mich!“
Marie wehrte seine Umarmung ab. „Wenn du mich liebst, suche dir Arbeit als Müller!“
Spöttisch schüttelte er den Kopf.„Mich wirst du nicht wieder los! Ich gehe nirgendwohin!“
Marie fuhr auf.
„Ist das dein letztes Wort?“
Hannes lachte. „Mein allerletztes!“
Marie sah rot. „So sollst du das Geheimnis unseres Wohlstandes erfahren. Komm mit!“

Neugierig riss Hannes das Scheunentor auf. Eine riesige Tatze legte sich ihm auf die Schulter. Marie rannte ins Haus zurück.

Hannes war fort, und Erleichterung breitete sich auf dem Hof aus. Nicht bei Marie. Am Tag plagte sie ihr Gewissen, in der Nacht quälten sie Albträume. Wenn ich wenigstens mit jemand darüber sprechen könnte! Dieser grausame Vertrag lässt mich allmählich selbst zu einem Ungeheuer werden. Wie soll es bloß weitergehen?

Die Zeit verstrich. Die kleine Lene entwickelte sich zu einer schönen jungen Frau. Sie verliebte sich in Steffel, der schon einige Mädchen unglücklich gemacht hatte. Die Mutter versuchte mit Argumenten und Verboten, Lene diese Erfahrung zu ersparen. Vergeblich. In einer Sommernacht ertappte Marie den jungen Mann in der Scheune, wo er auf Lene wartete. Erschrocken jagte sie ihn fort und verbot ihm, den Hof jemals wieder zu betreten. Zornig und empörte wandte sich Lene ab und sprach tagelang kein Wort mehr mit ihr. Heimlich traf sie sich weiter mit Steffel.

Als die Nächte lang und frostig wurden, dachte Marie mit Bangen an die bevorstehenden Raunächte. Das Ungeheuer erwartete wieder ein Opfer. Wenn ich bloß aus diesem unseligen Pakt heraus könnte! Soll ich das Risiko eingehe? Doch ich muss Lene und meine Leute schützen. Am Morgen nach Weihnachten wollte sie in aller Frühe in die Stadt fahren. Durch die frische Schneedecke führten Fußstapfen über den Hof in die Scheune. Marie blieb das Herz stehen, kaum vermochte ihre zitternde Hand die Laterne halten. Langsam folgte sie den Spuren zum Scheunentor. Sie öffnete das Tor und leuchtete hinein. Das Scheusal hockte gemütlich in der Kutsche.

„Du hältst unsere Vereinbarung sehr gewissenhaft ein“, brummte es.
„Du hast dich geirrt“, flüsterte Marie entsetzt. „Ich habe nicht gewusst, dass er hier ist.“
„Nun, er kam sehr gelegen – für mich und für dich.“

Sie wankte zurück ins Haus. Es begann von neuem zu schneien, und bald waren weder Steffels noch Maries Fußspuren mehr zu erkennen.

Lene wartete vergeblich auf Steffel. Sie forschte im Dorf, sprach mit seinen Freunden und erfuhr, dass er sich auf den Weg zu ihr gemacht hatte. Sie fragte ihre Mutter. Diese zuckte die Schultern und ließ sie stehen. Lene fand sie weinend in ihrer Kammer. Erschrocken wollte die Tochter den Grund der Verzweiflung wissen. Marie war am Ende ihrer Kraft. Sie konnte sich dem Drängen ihrer Tochter nicht lang widersetzen. So erfuhr Lene vor der Zeit von dem schrecklichen Geheimnis. Ungläubig schaute sie die Mutter an und schüttelte den Kopf. Marie raufte sich sich verzweifelt die Haare. Nun würde bald, viel zu früh, die Last auf Lene liegen. Sie raffte sich auf, fasste Lene bei den Händen und sagte:
„Wir müssen über alles Wichtige, was deine Zukunft betrifft reden. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, du wirst bald Bäuerin sein und musst sehen, wie du zurechtkommst.“
Lene weigerte sich, eine solche düstere Vorhersage zu glauben. Sie fürchtete, ihre Mutter habe den Verstand verloren.
„Du solltest dir mehr Ruhe gönnen, Mutter.“
Marie sprach unbeirrt weiter, legte ihr ans Herz, was ihr wichtig schien und gab ihr den Schlüssel zu der Truhe, in der sie alle wichtigen Papiere und Wertsachen des Hofes verwahrte. Alles war wohl geordnet.

Am nächsten Morgen wunderten sich die Mägde, als sie die Bäuerin nirgends antrafen. Lene betrat leise die Schlafkammer ihrer Mutter. Marie saß in ihrem Sonntagskleid im Sessel, die Hände gefaltet und den Kopf zur Seite geneigt. Wie betäubt kehrte Lene in die Küche zurück und sank auf die Bank. Steckt in der haarsträubenden Geschichte am Ende ein Körnchen Wahrheit? Lene schüttelte immer wieder den Kopf. „Nein“, murmelte sie. „Nein.“
Sie hat die wahnwitzige Geschichte geglaubt und ist womöglich aus Angst gestorben. Andererseits – Mutter war eine tatkräftige Frau mit scharfem Verstand. Eine abergläubische Furcht passte nicht zu ihr.

„Ich will wissen, ob auf dem Hof tatsächlich ein Ungeheuer existiert!“ Von nun an wartete sie jede Nacht in der Scheune. Einige Wochen geschah nichts. In einer stürmischen Nacht zeigte sich das Ungeheuer. Lene erschrak bis auf die Knochen. Doch sie war fest entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen.
„Du bist die junge Bäuerin“, donnerte das fürchterliche Wesen mit einer Stimme, gegen die der heulende Sturm lieblich klang. „Ich glaube, wir werden auch gut miteinander auskommen. Deine Mutter war eine vernünftige Frau – ich habe sie sehr geschätzt!“
Lene bebte vor Angst und Zorn. „Du hast sie so geschätzt, dass du sie getötet hast!“
Das Untier schüttelte langsam sein grässliches Haupt. „Sie hat den Vertrag gebrochen – ich konnte nicht anders handeln.“
„Wie lange soll dieser teuflische Pakt noch gelten? Es kann nicht immer und ewig so weitergehen, dass du einen Menschen zum Fraß vorgeworfen bekommst!“
„Der Kontrakt gilt seit Jahrhunderten, und er gilt, so lang ein Bauer auf dem Hof lebt. Und wenn er gebrochen wird, muss jeder Mensch und jedes Tier auf dem Hof die Folgen tragen.“
„Dieser Vertrag muss aufgelöst werden! Die Zeiten haben sich nach Hunderten von Jahren geändert! Es gibt Gesetze und Richter! Man kann nicht einfach Menschen verschwinden lassen! Hast du nicht bemerkt, wie die Leute vom Dorf hier waren und nach Steffel gesucht haben! Wenn wieder jemand auf diesem Hof verschwindet, wird man mir und dem Gesinde nicht glauben, man wird suchen. Vielleicht werde ich ins Gefängnis geworfen oder hingerichtet!“
„Du musst nur klug genug sein“, brummte das Ungeheuer.
„Wozu brauchst du eigentlich ein Menschenopfer? Könntest du nicht auch mit einer Kuh oder einem Schwein vorlieb nehmen?“
„Willst du mich verhöhnen!“, brüllte das Scheusal. „Ich bestehe darauf, dass der Pakt eingehalten wird!“, damit verschwand es.

Lene zerbrach sich den Kopf. Einen Menschen opfern - damit muss endgültig Schluss sein! Das Allerbeste wäre, das Ungeheuer zu töten. Nur wie? Sie sah nur eine Möglichkeit. Sie entlohnte das Gesinde und sagte ihnen, es liege eine große Schuld über dem Hof. Bittere Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie den Getreuen nachblickte. Schweren Herzens verschenkte sie das Vieh. Mutterseelenallein verbrachte sie die Nacht in dem alten Haus. Frühmorgens schnürte sie ein bescheidenes Bündel und marschierte los, ohne sich umzublicken.

Anstatt Herrin auf ihrem Hof zu sein, schlug sich Lene nun mit ihrer Hände Arbeit durch, auf Bauernhöfen, in Gasthäusern, in Handwerksbetrieben. Manch Bauer oder Handwerker behandelte sie geringschätzig als Magd. Das traf die junge Frau härter als jede Schufterei. Doch sie biß die Zähne zusammen, schluckte ihren Stolz, und gebrauchte ihren Kopf. Sie sehnte sich nach der Heimat auf dem grünen Hügel, und in den Nächten weinte sie. Ich habe keine Heimat mehr und keinen Menschen, der mir etwas bedeutet. Doch ich bin frei und kann reisen wohin ich will!, tröstete sie sich wenn der Tag anbrach. Sie blieb nirgends lange, zog immer weiter. Im Winter wanderte sie durch eine große Stadt. Lene staunte über die schmucken Häuser, die weiten Plätze und die himmelhohen Kirchen. Vor der Auslage von „Martha und Heinrich“ betrachtete sie die herrlichen Stoffe und Gewänder. Dieses Kleid ist wunderschön! Oh wenn ich es tragen könnte! - Von dieser Stadt möchte ich mehr sehen. Vielleicht verbringe ich hier den Winter.

Kurz entschlossen betrat sie das Geschäft. Der Händlerin gefiel die junge Reisende, und sie stellte sie ein.

„Ein Glücksfall, dass uns Lene ins Haus geschneit ist“, sagte Martha nach kurzer Zeit zu Heinrich. Sie ließen die junge Frau nach Gutdünken schalten und walten. Lene machte es Freude bei den beiden zu arbeiten. Sie genoss es, durch das Menschengetümmel in den Gassen und Märkten zu schlendern. Sie konnte sich vorstellen, hier zu leben. Doch das Ungeheuer tauchte immer wieder in ihren Träumen auf und raubte ihr den Frieden. Eines Tages stieß sie auf eine Waffenschmiede. Durch die offene Tür sah sie blitzende Schwerter und bedrohlich wirkende Dolche und Säbel. Eine gute Waffe wäre nützlich, dachte sie. Ein junger Waffenschmied bearbeitete ein Stück Eisen. Er hob den Blick, lächelte und unterbrach seine Arbeit.
„Komm herein und schau dich um, hier gibt es auch Messer für die Küche.“
Zögernd folgte Lene der Einladung.
„Für die Küche suche ich nichts“, erklärte sie. „Eher was zur Verteidigung.“

Peter zeigte ihr verschiedene Dolche und kleine und große Messer.
„Die beste Waffe verfehlt ihren Zweck, wenn du nicht damit umgehen kannst.“

Er bot ihr an, sie ein wenig im Kampf zu unterrichten. Lene fand ihn recht sympathisch. Sie nahm sein Angebot an und verbrachte einen Teil ihrer Freizeit in seiner Schmiede. Manchmal holte er sie zu einem Spaziergang oder einer Tanzveranstaltung ab. Er liebte Lene. Auch sie mochte ihn von Tag zu Tag mehr, doch sie verbarg ihre Gefühle, sie durfte sich ja nicht binden.

„Der junge Mann ist in Ordnung“, bemerkte Heinrich.
„Es wäre schön, wenn die beiden ein Paar würden. Lene ist für mich wie eine Tochter, und ich wünsche mir, sie bleibt“, gab Martha zuück.

Nach einem Jahr kehrte Lene der Stadt den Rücken. Sie war traurig, dass sie wieder Menschen verlassen musste, die sie liebte. An ihrem Gürtel hing ein langes, spitzes Messer.

Viele Jahre reiste sie in der Welt umher, lernte und erfuhr vieles, gewann Freunde. Doch das Heimweh ließ sie nicht los. Nun habe ich das Vagabundenleben genug ausgekostet. Ich möchte noch einmal den alten Hof sehen und über die grünen Hügel blicken! Ohne jemand Lebewohl zu sagen, wanderte sie los. An einem sonnigen Herbsttag erreichte sie das Dorf. Niemand erkannte sie. Sie machte in der Schenke Rast. Vorsichtig erkundigte sie sich über das einsame Gehöft auf dem grünen Hügel. Sie hörte, dass auf dem „Ungeheuerhof“, wie er inzwischen hieß, Menschen spurlos verschwanden, Soldaten, die vom Krieg zurückkehrten und sich auf dem verlassenen Anwesen einrichten wollten, Kinder, die in den verödeten Gebäuden herumgestreift waren. Eines kam zurück und behauptete, dort hause ein fürchterliches Ungeheuer.

Der Hof thronte in der Abendsonne auf dem grünen Hügel. Wie wunderbar und vertraut! Der Anblick erfüllte Lene mit Freude, gleichzeitig regte sich ein bisschen Angst. Mit klopfendem Herzen stieg sie den grasüberwucherten Weg hinauf. Grabesstille herrschte. Sie schritt durch Scheunen und Ställe, atmete den vertrauten Geruch nach Stroh und altem Holz ein und betrat schließlich das Haus. Sie öffnete Läden und Fenster. Die meisten Möbel standen noch da, vieles lag durcheinander auf den Dielen, als seien die Diebe in die Flucht gejagt worden. Lene entfachte ein Feuer im Herd und braute einen giftigen Sud aus Kräutern, die aus einem fernen Land stammten. Sorgfältig bestrich sie ihr langes Messer damit. Dann setzte sie sich auf die Küchenbank.

„Ich wusste, dass du zurückkehren würdest“, knurrte das Ungeheuer. „Wir werden sehen, ob du nun unseren Kontrakt einhältst.“
„Ich habe keinen Vertrag mit dir“, versetzte Lene. „Ich bin nicht die Bäuerin dieses Hofes. Ich habe ihn dir zurückgegeben. Ich besitze nichts, das ich dir zu verdanken habe.“
Das Ungeheuer fauchte. „Aber jetzt bist du wieder hier!“

Lene packte ihre Waffe. Blitzschnell sprang sie auf und stach in das aufgerissene Maul. Das Messer blieb in der riesigen Zunge stecken. Das Ungeheuer heulte auf, schlug blindwütig nach Lene. Sie kippte den schweren Tisch um und verschanzte sich dahinter. Das Monstrum versuchte vergeblich, mit seinen plumpen Krallen den Griff des Messers zu fassen und herauszuziehen. Sie fühlte trotz allem Abscheu Mitleid mit dem grässlichen Geschöpf.
„Hilf mir“, lallte es schließlich. „Ich tu dir kein Leid.“

Lene zögerte. Sie wollte nicht wankend in ihrem Entschluss werden, dem unseligen Treiben ein Ende zu bereiten. Endlich konnte sie es nicht mehr mit ansehen. Sie gab ihren Schutz auf und zog mit aller Kraft die Klinge heraus. Das Untier klappte seine Kiefer zu und legte sich auf die Erde. Lene hielt unschlüssig das Messer in der Hand. Ich darf diesem Wesen nicht trauen! Ich muss noch einmal zustechen! Doch ihre Entschlossenheit hatte sie verlassen.

„Ich kann dich nicht töten“, keuchte das Wesen, nachdem sie sich lange Zeit schweigend angestarrt hatten. „Du bist bereit dein Leben zu lassen, ohne selbst einen Nutzen davon zu haben. Du hast nicht einmal ein Kind oder einen Geliebten. – Jetzt ist unser Pakt hinfällig. Ich glaube nicht, dass ich an dieser Verletzung sterbe, wenngleich sie sehr schmerzhaft ist, ich werde gehen und du allein sollst Herrin des Hofes sein.“

„Warte. Ich will nicht, dass du wie ein räudiger Hund fort kriechst. Dies ist auch deine Heimat. Wir wollen einen neuen Vertrag schließen: Du lässt künftig Mensch und Tier unbehelligt und bekommst dafür Wohnung und Nahrung auf dem Hof“.

Und so geschah es.
Der Ungeheuerhof behielt seinen Namen bis auf den heutigen Tag

 

Hallo Rob,

"da hast du dir eine schöne Geschichte überlegt, ausführlich ausgearbeitet und durchgehend gut formuliert, was bei der Länge bestimmt nicht einfach ist."
freut mich :)

Dankbar bin ich für Deinen Kritik. Es ist super, eine Rückmeldung zu bekommen! Ich sehe die Geschichte bildlich vor mir, aber es gelingt mir offensichtlich nicht, sie für einen Leser so zu schildern, dass es "rüberkommt".
Ich werde mich noch mal an die Arbeit machen.

herzlichen Gruß und schönen Sommer
niebla

 

Hallo @niebla ,

ich hab deine Geschichte gerne gelesen, auch wenn ich sie insgesamt zu lang fand. Es ist ja doch ein wiederkehrendes Muster, dass das Monster alle sieben Jahre jemanden holen kommt, und Marie immer überlegen muss, wen sie ihm denn zum Fraß vorwerfen könnte, da sie aus dem Vertrag nicht rauskommt. Das hast du jeweils gut gelöst, aber wie gesagt, das könntest du auch noch kürzen.

Dass dein Schreibstil oftmals sehr beschreibend ist, empfinde ich auch so. Ich mein, natürlich kann man an ein Märchen (und du schreibst ja bewusst altertümlich) nicht die Kriterien einer modernen Kurzgeschichte anlegen. Und ich hab auch kein Problem mit Zeitsprüngen, bei denen die Zwischenzeit sehr knapp zusammengefasst wird. Aber es stimmt leider schon, dass man dadurch nicht so ganz ins Geschehen hineingezogen wird. Was ist zum Beispiel mit dem Waffenschmied aus der Stadt, den sie ja interessant findet? Würdest du mir noch mehr darüber erzählen, könnte ich ihren Konflikt und ihren Abschiedsschmerz noch viel besser nachempfinden. So bleibt das leider emotional sehr oberflächlich. Vielleicht versuchst du ja in deiner nächsten Geschichte, den Leser noch stärker ins Geschehen rein zu bringen, ihm die Gefühle und Konflikte deiner Figuren greifbar vor Augen zu führen. Das kriegst du hin, da bin ich sicher! :)

Offensichtlich brauchte es das Wasser für seine Existenz nicht.

Du kannst dem Leser ruhig zutrauen, diesen Schluss selbst zu ziehen. ;)

So sah sie nur eine Möglichkeit: Sie überließ ihre Heimat dem Ungeheuer.

Auch hier: Du erzählst im Folgenden ja, was sie konkret tut, nämlich das Gesinde verabschieden, die Tiere verschenken und schließlich selbst den Hof verlassen. Diese Zusammenfassung braucht es da vorher einfach nicht.

Ansonsten hier noch bisschen orthographisches Gedöns:

Die kleine Lene mochte ihn nicht, so sehr er sich auch um sie bemühte.

Er tat er ihr Gewalt an

Das sagst du auch mehrfach. Vielleicht mal konkret werden? Zumindest beim ersten Mal.

Hannes‘ Anweisungen

Geht, soweit ich weiß, auch ohne Apostroph. Aber ich kenn das Problem schon mein Leben lang, mein Name endet auch auf S. :D

bis sie wiederkäme

Würde ich persönlich zusammenschreiben.

Außerdem war dies wohl auch erst im Angesicht des Todes erlaubt.

kaum vermochte ihre zitternde Hand die Laterne zu halten

Konnte etwas an der haarsträubenden Geschichte der Mutter wahr sein?

Klingt für mich wie die Mischung aus zwei Konstruktionen. "Konnte etwas an der ... dran sein?" oder "Konnte die ... wahr sein?".

Sie ging nachts, wenn als alle schliefen, in die Scheune

"Wenn" würde sich hier eher auf die Zukunft beziehen, quasi so: "Wenn alle schlafen, gehe ich in die Scheune." Du könntest den ersten Teil aber auch ganz weglassen und einfach nur schreiben: "Als alle schliefen, ging sie in die Scheune." Meistens schläft man ja nachts. ;)

Viele Jahre reiste Lene in der Welt umher

Sie führte ein abenteuerliches, buntes Leben

das bunte Vagabundenleben

Bitte keinen Bindestrich verwenden, sondern einfach zusammenschreiben! Ich reagier da allergisch drauf! :D

Ohne jemandem Lebewohl zu sagen, wanderte sie nach Norden.

Entweder mit Dativ, oder ganz weglassen: "Ohne Lebewohl zu sagen..."

So, ich hoffe meine Korrekturvorschläge waren hilfreich und richtig. Viel Spaß noch! :)

LG
PtG

 

Hallo Rob,

ja, Du hast recht, ist schon einiges Überflüssige beschrieben! Danke, dass Du es so klar dargestellt hast! Deinen Kommentar habe ich mir zu Herzen genommen und angefangen, die Geschichte zu überarbeiten. Jedenfalls versuche ich, weniger langweilig zu sein.

herzliche Grüße
niebla


Hallo Pleasure toGrill,

auch Dir lieben Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast, mein langes Märchen zu lesen und zu kommentieren:)
Ja, Deine Korrekturvorschläge sind hilfreich!
Ich bin dabei, die Geschichte zu überarbeiten und zu versuchen sie für den Leser erlebbarer zu machen.

Du schreibst: "Es ist ja doch ein wiederkehrendes Muster, dass das Monster alle sieben Jahre jemanden holen kommt, und Marie immer überlegen muss, wen sie ihm denn zum Fraß vorwerfen könnte, da sie aus dem Vertrag nicht rauskommt..."
Mir fällt nicht ein, wie ich das ändern könnte :rolleyes:

"Was ist zum Beispiel mit dem Waffenschmied aus der Stadt, den sie ja interessant findet? Würdest du mir noch mehr darüber erzählen, könnte ich ihren Konflikt und ihren Abschiedsschmerz noch viel besser nachempfinden..."
Hm ja, da ist was dran.

Und ja, die Geschichte ist schon sehr lang. Ich tue mich mit dem Kürzen schwer :sconf:
versuchen werde ich es, aber . . .

herzliche Grüße
niebla

 

Hallo Rob F,
Hallo Pleasure toGrill,

inzwischen habe ich die Geschichte überarbeitet und versucht etwas weniger "nacherzählend" zu schreiben. Ich habe versucht, die unterschiedlichen Reaktionen von Mutter und Tochter auf den Vertrag mit dem Ungeheuer mehr herauszustellen. Sie erklären sich ja nicht nur durch den unterschiedlichen Charakter der beiden sondern auch den jeweiligen Lebensumständen (Marie erwartet ein Kind).

Leider ist es mit nicht gelungen, viel zu kürzen:hmm:
Ich hoffe aber, es liest sich nicht mehr so langatmig.

Jedenfalls habe ich durch Euere Kommentare viel gelernt!

Nochmals danke für Euere Mühe und die Anregungen!

Ich wünsche Euch einen schönen Spätsommer
niebla

 

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