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Die große Halle von Bejdraa
Die große Halle von Bejdraa
Die Legenden sagen, es führen viele Wege nach Bejdraa, doch nur einer ist der richtige. Hat man den gefunden, begegnet man der Hohen Priesterin der Halle und ist gesegnet bis ans Ende seiner Tage ...
Sie saß auf den Stufen am Brunnen und wartete. Sie wusste nicht, worauf genau. Nur, dass es Änderungen geben musste. Bald. Alle hundert bis zweihundert Jahre, so sagten es die Legenden, bekam Bejdraa eine neue Priesterin. Wie und auf welche Art, verschwiegen die Legenden. Also wartete die schmale, schwarzhaarige Frau geduldig im lichten Zentrum der Halle auf die neue Zeit. Doch nichts geschah.
Sie wsste nicht, wie lange sie schon wartete. Wochen? Jahre? Manchmal erhob sie sich und ging durch die Halle. Jedes einzelne Detail kannte sie im Traume, ohne zu stolpern, würde sie blind durch die Gänge laufen können, sie wsste genau, wie sich welches Dekor anfühlte. Und immer wieder verharrte sie mehrere Augenblicke lang im Bogen des weit geöffneten güldenen Tores, sah hinaus auf die Wiesen und die Bäume. Wann hatte sie Bejdraa das letzte Mal verlassen? Sie wusste es nicht mehr.
Und so erschrak sie ein winziges bisschen vor sich selber, als sie eines Tages auf die Schwelle des Tores trat, sich einen weiteren Schritt hinaus wagte und noch einen. Gras. So fühlt sich also Gras an? Hatte sie das je gewusst? Noch ein Schritt und noch einer... und ehe es ihr wirklich bewusst geworden war, stand sie am Rand der Lichtung, auf der die große Halle stand. Bäume ragten über ihr in den Himmel, höher noch als die Kuppelspitze der Halle. Staunend sah sie nach oben. Noch ein Schritt. Und noch einer ...
Sie wandte sich nicht um, spürte, dass dies die Änderung war, auf die sie gewartet hatte. Sie selber war die Veränderung.
Früher waren oft Leute zu ihr gekommen. Sie hatten gelacht und geschwatzt miteinander. Doch seit langer Zeit kam niemand mehr. Also ging sie zu ihnen. Zu den Leuten, die hier irgendwo sein mussten.
Sie ging lange, quälend schwer wurden ihre Schritte, aber sie ging immer weiter. Und dann wurde sie belohnt: Menschen. Ein paar Bauern, gebückt in einem Feld, sie rafften Getreide-Halme zusammen und stellten sie zu seltsamen kleinen Hütten auf. Ordentlich aufgereiht standen die goldgelben Halme. Sie sah eine Weile zu, ehe sie einer der Männer bemerkte. Freundlich winkte er sie herbei und sie trat ohne Furcht zu ihnen. Sie wurde gefragt, nach ihrem Woher und Wohin. Doch sie hatte das Gefühl, die Bauern verstanden sie nicht. Als sie von der Halle von Bejdraa sprach, blickten die Männer nur ratlos. Diese Ratlosigkeit gab ihr das Gefühl, als falle ein großer Zauber von ihrer Halle. Die Männer kannten den Bau nicht. Sie hatte geglaubt, jeder im Lande wüsste davon und würde davon träumen. Und nun dies...
Eilig verabschiedete sie sich und ging weiter. Irgendwo, das war sicher, gab es Menschen, die sich an Bejdraa erinnerten, sich danach sehnten und es suchten.
Sie traf noch viele Leute. Arme und Reiche, Dumme und Schlaue, Liebenswerte und weniger Liebenswerte. Aber keiner, nicht einer von ihnen, wusste, wovon die junge Frau sprach. Eine Halle? Mitten im Wald? Was war das denn für ein Märchen?
Sie versuchte, zu erklären, zu beschreiben, den Zauber von Bejdraa in die Herzen der Leute zu legen, doch die wandten sich nur achselzuckend ab. Und mit Schrecken stellte sie fest, dass mit jeder Erklärung, jedem Wort das Bild in ihrem eigenen Kopf blasser wurde, durchsichtiger, fader. So, als ob jede Erklärung ein Teil des Bildes verwischen würde. Und wenn sie noch gar viel redete, würde das Bild vollends aus ihr gelöscht werden und sie wäre wie die Menschen hier.
Also schwieg sie fortan auf die Fragen und ging weiter, nicht wissend, wohin sie sollte und nicht wissend, wie sie den Rückweg finden sollte. Große Sorge machte sich in ihrem Herzen breit und sie ging gesenkten Hauptes vor sich hin. Tagelang. Und irgendwann war sie einfach nur noch müde. Der Wald, durch den sie gerade ging, war anders als der in Bejdraa, aber es war ein Wald. Ein kleiner tröstlicher Gedanke. Auf einer Lichtung mit einem kleinen lehmigen Tümpel ließ sie sich nieder.
Träumend und sehnend blickte sie in das klare Wasser, als sich ihr Schritte näherten. Ein Mädchen, sechs oder sieben Jahre alt, trat auf die Lichtung. Es lächelte unsicher, kam vorsichtig näher und hockte sich dann, die Frau beobachtend, an die andere Seite des Wassers.
Nach einer ganzen Weile des stummen Hin-und Herblickens begann das Mädchen, im Lehm des Ufers zu buddeln. Sie häufte ihn auf, strich ihn glatt, gab mehr dazu und formte das Material mit geschickten Händen. Eine kleine Figur entstand, eine Frau, die mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden hockte. Selbst über den Teich hinweg konnte die Frau sehen, dass sie selbst das war, die dort aus Lehm geformt am Wasser saß.
Ohne zu wissen, warum, begann die Frau, dem kleinen Mädchen von Bejdraa zu erzählen. Jedes Wort, das sie aussprach, löschte das zugehörige Bild in ihrer Erinnerung, aber sie sprach und sprach und sprach. Denn das Mädchen hatte begonnen, die Worte in Lehm zu formen, jedes Einzelne erwuchs am Tümpelufer. Und je prachtvoller die Frau ihre Worte setzte, um so prachtvoller wurde der Lehmbau des Mädchens. Als es dunkelte, erhob sich ein dreistufiges Podest mit grazilen Verzierungen, auf dem ein achteckiges Brunnenbecken stand.
Das Mädchen erhob sich, kam um den Teich herumgelaufen und umarmte die Frau. "Ich bin morgen wieder hier!" sagte es "Du auch?" Die Frau legte sanft die Arme um das Kind und nickte.
Tatsächlich war das Kind am nächsten Tag wieder da, früh schon, die Sonne stieg gerade erst über den Horizont. Die Frau hatte nicht schlafen können, die ganze Nacht hatte sie das Brunnenpodest betrachtet und dabei abwechseld das Gefühl unsagbaren Verlustes gehabt und auch des Feuers unbändiger Freude.
Und wieder erzählte die Frau, sorgsam ihre Worte wählend, und das Kind baute. Mit großem Eifer errichtete es rund um den Brunnensockel halbhohe Säulen, fertigte kunstvolle Krüge, die sie auf den Säulen ausrichtete, begradigte den Boden zwischen den Säulen und ritzte komplizierte Muster in den feuchten Lehm …
... und so erschufen sie ein Bauwerk aus dem Lehm des Tümpels, dessen Vorrat unerschöpflich schien. Mit großem Geschick errichtete das Mädchen Gerüste aus Ästen und Zweigen, um die Mauern hochziehen zu können, nutzte Stämmchen, um Fensterbögen abzustützen.
Was immer das Mädchen auch errichtete, war zu klein, als das ein Erwachsener darin hätte stehen können, doch jedes Mal über Nacht schien sich das Lehmwerk zu bewegen und auszudehnen und am Morgen danach war alles gewaltig und groß. Nicht mal ein Riese könnte noch die hohen Kanten des Dachaufbaues berühren.
Die Frau war nicht darüber verwundert und auch das Kind schien diese Tatsache als völlig normal zu empfinden. Sie arbeiteten zusammen, die Frau erzählte und das Kind baute. Über Wochen und Monate. Oft wollte die Frau helfend zugreifen, doch das Kind wehrte sie lächelnd ab. Sie solle erzählen, das andre werde von selbst. Tatsächlich erwuchs auf der Waldlichtung eine große Palasthalle, mit Wandelgängen, kunstvollen Säulen und Wandstelen und lauter kleinen Skulpturen entlang der Wände.
Die Erinnerungen der Frau jedoch wurden immer leerer und trostloser. Das einzige, was sie dazu brachte, weiter und weiter zu erzählen, war der Bau vor ihren Augen. Was aus ihrem Geist entschwand, wogte über die Augen als wahrhaftiges Bild zurück in ihren Kopf. Sie entdeckte jeden Tag neu, was ihre Worte sie vergessen gemacht hatten. Und dann, eines Tages, hatte die Frau nur noch zwei Worte im Kopf. Mehr war nicht übrig geblieben von den prachtvollen Bildern ihrer Erinnerung. Die Worte waren "leer" und "staubig". Die Frau sprach auch diese Worte aus und Bejdraa hörte auf zu existieren.
Das Mädchen jedoch nahm auch diese zwei Worte. Sie formte leere ungeschmückte Wandflächen zwischen die prunkvollen Säulen, dann nahm sie das "staubig" und warf es hoch in die Luft. Dort löste sich das Wort auf, fiel sacht wie Schnee auf den gesamten Innenraum nieder und bedeckte alles mit einem samtigen Glanz.
Die Frau, die nicht mehr wusste, wer sie war und woher sie gekommen war, betrachtete die Pracht um sich herum mit staunenden Augen. "Wie schön das alles ist hier!", sagte sie ehrfürchtig. "Wie heißt dieser Ort?"
Das Mädchen sah sich um, als prüfe sie abschließend ihre Arbeit, dann nahm sie die Frau in den Arm: "Das ist die große Halle von Bejdraa, Mütterchen!"
Die Legenden sagen, es gibt nur einen richtigen Weg nach Bejdraa. Doch das stimmt nicht. Kein Weg ist richtig oder falsch.
Die einen suchen Bejdraa und laufen blinden Auges daran vorbei.
Die anderen suchen etwas ganz anderes und stehen dann staunend vor den güldenen Toren.
Und wieder andre suchen gar nicht und gehen um des Gehens willen, ohne zu ahnen, dass sie schon da sind.
Manchmal sehen wir Wunder und erkennen sie nicht.
Manchmal sehen wir Alltägliches und begreifen beglückt das Wunderbare dahinter.
... und manchmal führt uns unser Weg auf eine Waldlichtung mit einem kleinen lehmigen Tümpel.