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Die Kündigung
Unruhig wälzte sich Tama auf dem schmalen Bett ihres kleinen Apartments hin und her. Sie hatte das Fenster weit geöffnet, doch die frische Nachtluft des beginnenden Herbstes brachte ihr nicht die erhoffte Ruhe. Morgen würde das Gericht entscheiden. Morgen. Seit vier Monaten brodelten die Emotionen einer ganzen Nation. Die einen waren dafür. Die anderen waren dagegen, aber es gab keinen der nicht über das sprach, was Herbert Wilson getan hatte, was er geschaffen hatte.
„Da sind Sie ja endlich. Wir gehen mit KI-37/3 zum Wochenende in die Erprobung unter Realbedingungen. Sie müssen das Mindset bis morgen Mittag überarbeiten, damit die IT Marilyn neu programmieren kann. “
Marilyn, also. Was für ein altmodischer Name, dachte Tama und nahm die Änderungen entgegen, die Wilson in ihr Mindset-Dossier gekritzelt hatte. „Ich bin so gespannt, für welches Design sie sich entschieden haben. Wenn Rob mit das finale Visual gibt, kann ich das Mindset noch einmal optimieren, damit das Auftreten und Wissen von KI 37/3 optimal zum äußeren Entwurf passen“, schlug sie Wilson vor, doch der winkte ab:
„Das Aussehen ist nicht relevant für sie, Black. Arbeiten Sie einfach das Anforderungsprofil ab: Marilyn muss ein perfekter Servant werden. Sie muss Onlinebestellungen tätigen, Dinge entgegennehmen und Gäste empfangen. Sorgen Sie dafür, dass sie einen Terminkalender führt und Getränke serviert.“
„Brown“, korrigierte Tama mit einem schüchternen Lächeln während sie sich bemühte Wilsons Notizen zu entziffern. Anfangs hatte sie es nicht glauben können, dass der kreativste Kopf der Robotic-Branche die Konzepte seiner Mitarbeiter in Papierform verlangte, aber sie hatte schnell gemerkt, dass die hypochondrische Angst des Chefs, die permanente Bildschirmarbeit könne seinen Sehnerven schaden, ein Tabu war, dass sie besser nicht ansprach. „Steht hier Rezeptvorschläge?“
„Natürlich steht da Rezeptvorschläge. Essen bestellen, kann jede Homestation. Von Marilyn erwarte ich mehr. Sie soll mir auf der Basis meiner Vorlieben eigene Rezeptideen vorschlagen. Am besten ein komplettes Menü mit dazugehörigen Getränken. Kriegen Sie das hin?“
Krass! Das war Oberkrass! Bisher hatte Tama in ihrem Mindset für KI-37/3 nur mögliche Reaktionen auf potenzielle Ereignisse zusammengestellt. Was Wilson jetzt wollte, war der Anfang eines Lernprozesses. Ein sich weiterentwickelndes System. In Tamas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es fühlte sich an, als ob ein Strudel kleine Bläschen freisetzte, die in immer schnellerem Tempo an ihrer Gehirndecke zu zerplatzten drohten, bevor sie sie greifen konnte. „Das erfordert Erfahrungswissen. Es muss Kategorien geben, die bewertet werden und ….“
„Dann machen Sie sich an die Arbeit“, unterbrach sie Wilson und scheuchte sie aus dem Büro. „In drei Monaten ist die Präsentations-Gala vor der Presse. Da hat Marilyn ihren ersten Einsatz“, rief er ihr nach, als sie aus dem Büro stürmte. Sie hatte nur 12 Stunden Zeit. Maximal 24 Stunden, wenn sie die Nacht durcharbeitete.
„Sie wünschen?“
„Guten Tag, mein Name ist Tama Eliza Brown. Ich habe einen Termin bei Professor Wilson“, spielte Tama mit.
Marilyn glich Tamas Angaben mit den Daten aus Wilsons Kalender ab: „Kommen Sie bitte herein. Der Professor erwartet Sie schon.“ Mit einem freundlichen Kopfnicken gab Marilyn die Tür frei und führte sie in ein geräumiges Arbeitszimmer. „Möchten Sie etwas trinken?“
„Bring uns Kaffee“, fauchte Wilson über einen Mahagoni-Schreibtisch hinweg, der angesichts der kompakten Workstation auf die er eintippte, vollkommen überdimensioniert wirkte. Tama hätte lieber einen Tee getrunken, doch sie wollte die Androidin nicht mit unterschiedlichen Wünschen irritieren. In Ihrem Kopf machte sie sich eine Notiz, die wenn-dann- Entscheidungsketten zu optimieren, um Marilyn zu befähigen, zukünftig auch Multi-Anforderungen meistern zu können. Dabei beobachtete sie, wie die Roboterfrau mit geschmeidigen Bewegungen und – war das ein Hüftschwung? – den Raum verließ.
„Wow! Sie ist umwerfend. Sie ist genial. Wie sie den Kopf neigt. Ihr Lächeln.“
„Bullshit. Sie ist lahm. Sie ist langweilig. Sie sind doch frisch von der Uni, Black. Haben Sie die Entwicklung der letzten 30 Jahre verschlafen? Kapieren Sie überhaupt, wo die Herausforderung liegt? Lächeln, Kopfnicken, schöne Titten und warme Hände, das hatten auch schon die Puppen von Ishiguro. Natürlich erwarten unsere Auftraggeber, dass Marilyn gut läuft, Getränke einschenkt ohne zu kleckern und dabei freundlich lächelt. Das ist das Pflichtenheft. Das sind die Basics. FutureRobotics hat einen Roboter versprochen, der einen individuellen Stil hat. Der etwas Besonderes ist. Und das ist verdammt noch mal ihr Job. Also machen Sie Marilyn jünger, spritziger. Hier sind die neuen Anforderungen.“ Wilson knallte Tama einen Stapel Papiere auf den Tisch. „Und nun ab. Bis Donnerstag brauche ich die neuen Daten für die Programmierer.“
Als Tama das Zimmer verließ, balancierte Marilyn gerade ein Tablett mit zwei dampfenden Kaffeetassen über den Flur. Schwarz, weiß, mit Zucker, Cappuccino Macchiato, Espresso, koffeinfrei, schoss es Tama durch den Kopf, Es gab so viele Varianten. Marilyn hätte nachfragen und den Befehl „Kaffee“ präzisieren müssen. Da lag noch eine Menge Arbeit vor ihr.
Diesmal machte sich Marilyn nicht die Mühe, Tama bis zum Arbeitszimmer zu begleiten und fragte sie schon im Flur nach ihrem Getränkewunsch. Der bestellte Latte Macchiato kam wenige Minuten später zusammen mit einem schwarzen Kaffee für Wilson. Das funktionierte doch ausgezeichnet.
„Gott“, stöhnte Wilson, „dieses Kind kann keinen einzigen geistreichen Satz rausbringen. Marilyn braucht mehr Bildung. Entwickeln Sie mir eine Studentin, Black, vielleicht Politik, Geschichte, eine Frau mit der man sich unterhalten kann. Aber keinen Nerd und keine Streberin.“
„Du erinnerst den Chef zu sehr an einen nervigen Teenager. Also wirst du wieder umprogrammiert“, verabschiedete sich Tama im Flur von Marilyn.
„Cool“, erwiderter diese in einem Tonfall der sich nicht entscheiden konnte, ob er ironisch oder gelangweilt klingen sollte und der Wilson Recht gab, dass die jugendliche Lexi nicht für Marilyn geeignet war.
Als Tama aufgeben und zusammenpacken wollte, durchzuckte sie plötzlich der Gedanke, dass es helfen könnte, die Anforderungen der Auftraggeber besser zu kennen. Den genauen Zweck von Projekt KI-37/3. Doch der Projektantrag war nur für Wilson einsehbar. Wenn Tama etwas von Programmierung verstanden hätte, hätte sie versucht, das Passwort von Wilsons Account zu knacken, aber sie wusste, dass sie auf diesem Gebiet eine totale Looserin war. Deshalb öffnete sie noch einmal alle Dateien, die den Auftrag ihrer Arbeit umrissen. In keinem war der Auftraggeber angegeben. Nirgends stand, wer das Projekt finanzierte. Doch im Anforderungsprofil stand erstaunlich viel von sich weiterentwickelten Lernmodellen, von komplexen wenn-dann-Beziehungen, vom Aufbau von Erfahrungswissen. Alles strukturelle Herausforderungen bei denen Tama gut weitergekommen war, doch Wilson schien sich nur für Marilyns Charakter zu interessieren.
„Mistkerl“, fluchte sie und fegte auch ihr neuestes Mindset-Dossier vom Tisch. Frustriert schloss sie die geöffneten Dateien und fuhr ihr Workpad herunter. Es hatte keinen Sinn den unermüdlichen Abfallroboter noch länger zu beschäftigen, der sich erst dann abschaltete, wenn das Licht im Büro ausging. Als der Kleine in ihren Gang einbog, bückte sichTama, um die auf dem Boden verstreuten Blätter einzusammeln. „Hier mein Kleiner. Der letzte Job für heute. Du machst übrigens eine ausgezeichnete Arbeit.“
Doch dann stutzte sie. Der Abfalleimer war nicht grau wie üblich, sondern passend zu den Büro-Accessoires des Bull-Eye in Blaumetallic gehalten. Tama warf einen Blick zum Chef-Büro in dessen Inneren ein autonomer Staubsauger seine Arbeit aufgenommen hatte. Der nächtliche Büroputz hatte begonnen und den Putzrobotern die Türen des Bull-Eye geöffnet. Tama konnte nicht wiederstehen und betrat das menschenleere Büro ihres Chefs.
Ohne auf Erfolg zu hoffen, drückte sie auf die Sensoren der Büroschränke und versuchte ihr Glück bei den Schubladen des Schreibtisches. Alles war verschlossen und nur durch Wilsons Fingerprint zu öffnen. Trotzdem durchstöberte sie das Büro weiter. Wilsons private Dinge anzufassen, umzudrehen, zu betatschen, bereitete ihr ein bisher unbekanntes Gefühl von Genugtuung, das ihr mit Schrecken verdeutlichte, wie frustriert sie war. Sie setzte sich in Wilsons schwebenden Bürostuhl, der sich automatisch ihren Konturen anpasste und drückte ihre schwitzende Hand auf die Schreibunterlage des Chefs, wohl wissend, dass die Spuren ihre Revolte von den Putzrobotern zuverlässig beseitigen würde. Trotzdem. Es musste sein. Sie patsche ein zweites Mal auf die edle Unterlage und spürte eine kleine Unregelmäßigkeit unter dem Leder. Neugierig hob sie die Matte an und zog einen Stapel von 5-6 Schreibblättern hervor. Warum versteckte Wilson die Pläne für die Präsentations-Gala unter seiner Schreibunterlage? Tama überflog die Dokumente und schluckte. Neben dem offiziellen Teil, war eine private Demonstration nur für die Auftraggeber geplant:
- Irene Nordmann, Entwicklungsabteilung des Ministerium für innere Sicherheit,
- General Hauser, Innovationsabteilung des Verteidigungsministeriums,
- M.-J. Meiers, Spezial Forces,
- Christine Olivier, Strategieabteilung der europäischen Streitkräfte,
- …
Die Gästeliste für den inoffiziellen Teil umfasste zehn Personen aus unterschiedlichen Institutionen und Tama machte sich nichts vor: keine der gelisteten Einrichtungen investierte Cash in die Entwicklung eines Servant, nur damit er Getränke einschenkte ohne zu Kleckern. Dafür ergab Wilsons neuster Änderungswunsch plötzlich umso mehr Sinn: Marilyn sollte nicht nur die Scherben auffegen, wenn ein Glas kaputt ging, sondern das Glas schon auffangen, bevor es viel. Das wäre wohl das Mindeste, was man von einem aufmerksamen Servant erwarten könne, hatte Wilson gemault und Tama die vergangenen zwei Tage damit beschäftigt, Serafina Intuition zu lehren. Zitternd legte Tama die Papiere zurück unter die Schreibmatte. Dann ging sie zu ihrem Schreibtisch und löschte die neusten Lernstrategien aus Serafinas Mindset, bevor sie das Dossier erneut ausdruckte. Sie fühlte sich betrogen und ausgenutzt, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Tama zuckte zusammen, hob den Kopf von der Liege und blickte entschuldigend zu ihrer Freundin. Obwohl sie sich schon seit zehn Minuten dem Kneten und Klopfen des kleinen Massageroboters hingegeben hatte, der mit seinen feinen Sensoren ihre verspannten Punkte in Nacken und Schultern aufspürte und bearbeitete, fand sie keine Ruhe. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die Gästeliste, um die von ihr entwickelten Lernroutinen und um Wilsons Mindset-Anforderungen.
„Tut mir leid Helen. Was hast du gesagt?“
„Dass ich jetzt mit Hendrik West zusammen bin.“
„Was? Seit wann?“
„Nein natürlich nicht. Aber dich interessiert ja eh nicht, was ich erzähle. Also spuk´s aus. Was beschäftigt dich?“ Helen richtete sich auf, fuhr die Rückenlehne ihrer Liege heraus, setzte den Massageroboter wie ein Schoßhündchen an ihre Füße, stellte das Menü für Pediküre ein und angelte sich ihren Drink vom Beistelltisch. Dann nickte sie Tama auffordernd zu.
Tama blieb bei der Nackenmassage, nicht nur, weil ihre Muskulatur immer noch verspannt war, sondern auch, weil sie so den Kopf im Loch der Liege verstecken konnte und Helen nicht in die Augen schauen musste.
„Es ist nur der Stress auf der Arbeit. Wilson stellt immer neue Anforderungen, wie unser Roboter zu sein hat. Er ist nie zufrieden“, berichtete sie Helen ohne auf Details einzugehen.
„Der ist wohl mit 60 immer noch auf der Suche nach Mrs. Perfekt. Das hat seine fünfte Frau vor drei Monaten auch in die Flucht getrieben. Die hatte von seinem Gemecker so die Nase voll, dass sie sogar auf fünf Millionen Cash Abfindungen verzichtete, weil sie es keine fünf Jahre bei ihm ausgehalten hat.“
„Echt jetzt? Er war fünfmal verheiratet?“ Tamas Kopf fuhr aus der Versenkung hoch.
„Streamst du denn gar keine Klatschnachrichten? Nein, du abonnierst ja nur die Wissenschaftsjournals. Bisher konnte es deinem Chef noch Keine recht machen. Kein Wunder, wenn er es jetzt mit einem Roboter versucht. Hast du eurer Kleinen schon mal unter den Rock geschaut? Die kann sicher Einiges mehr, als nur Drinks zubereiten.“
Tama setzte sich auf. „Du meinst doch nicht ….“
„Warum denn nicht?“
„Na, weil das komplett unmoralisch wäre.“
„Tama, Süße. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass es ein erfolgreicher Mann wie dein Chef es mit der Moral hat, oder? Er hat die Möglichkeiten, sich seine Traumfrau zu bauen, also macht er es auch. Und du sorgst mit deinen verschiedenen Charakteren für den besonderen Kick.“
Tama griff sich ihren Drink und stürzte ihn in einem Zug herunter.
„Hat dich das jetzt echt geschockt?“
„Nein. Doch. Aber das allein ist es nicht. Meinst du, wenn es möglich wäre Kampfroboter zu bauen, dann würde Wilson das auch machen?“
„Hab´ ich zwar nicht gesagt, aber zu so einem lukrativen Geschäft, würde FutureRobotics sicher nicht nein sagen.“
Tama goss sich einen zweiten Drink ein und nahm einen großen Zug.
„Du meinst doch nicht wirklich, dass Wilson ….“
„Ich fürchte doch“, gestand Tama, rückte auf Helens Liege und schüttete ihrer Freundin ihr Herz aus.
Auch wenn sie den Weg zu Wilsons Arbeitszimmer mit wachsendem Widerwillen zurücklegte, konnte Tama nicht umhin, die Perfektion der Androidin zu bewundern. Kurz vor der Tür des Arbeitszimmers nahm Marilyn Tamas Hand. „Dein Puls ist beschleunigt und du hast kalte Hände. Ich werde dir einen Yogi-Tee mit sehr viel Honig machen, dass wärmt, beruhigt und erdet dich.“ Mit einem sanften Streicheln ließ Marilyn Tamas Hand sinken und schwebte über den Flur in Richtung Küche.
Da hilft auch kein Tee, dachte Tama und versuchte den Krampf in ihrem Magen zu ignorieren als sie die Klinke des Arbeitszimmers hinunter drückte.
Die Morgenmeditation hatte ihre Wirkung ganz offensichtlich verfehlt. „Diese Frau ist der absolute Horror! Erdmandelbrei zum Frühstück. Mit Sojamilch. Was haben Sie sich dabei gedacht, Black? Wollen Sie mich terrorisieren?“, brüllte Wilson los, noch bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte.
„Einatmen und ausatmen. Denk an deinen Blutdruck, Herbert. Entspannt dich.“ Marilyn platzierte den Yogi Tee für Tama auf dem Schreibtisch, stellte sich hinter Wilsons Stuhl und fing an, seine Schläfe zu massieren. Der Chef von FutureRobotics befreite seinen Kopf mit einer heftigen Drehung aus Marilyns Händen und fegte dabei die Teetasse von seinem Tisch. Mit einem lauten Scheppern zersprang das Porzellan auf den Fliesen. „Oh!“ Marilyn huschte aus dem Zimmer, um eine Kehrschaufel und einen Wischmopp zu holen.
„Und ihr fehlt immer noch jede Art von Vorausschau“, kommentierte Wilson die Teepfütze auf dem Boden. „So geht das nicht! In zwei Wochen ist die Präsentations-Gala. Das muss jetzt endlich funktionieren! Marilyns Entwicklung kommt kein bisschen voran. Machen Sie endlich ihren verdammten Job, Black. Ich brauche eine Frau mit Intuition, mit Geheimnis, mit Kombinationsgabe. Machen Sie mir eine Lara Croft.“
Als die eichene Eingangstür hinter ihr ins Schloss fiel, zitterte Tama am ganzen Leib. Sie konnte Wilson nicht länger hinhalten und Marilyns Entwicklung blockieren, ohne dass es auffiel. Sie musste sich endlich entscheiden. Als Teil von Projekt KI-37/3, dem echten Projekt 37/3, konnte sie eine unglaubliche Karriere machen, konnte die Zukunft mitbestimmen. Oder sie kündigte. Blieb unschuldig und riskierte, nie wieder in der Robotic-Branche Fuß zu fassen.
Jeden Morgen hatte sie sich vorgenommen, endlich eine Entscheidung zu treffen. Jeden Morgen hatte sie es nicht getan. Hatte Wilson hingehalten, hatte die Ideen für Marilyn Lernprozesse in ihrem Kopf ignoriert, hatte Probleme vorgeschützt und sich in neuen Details des Lara-Croft-Mindsets verloren. Dass sie heute dabei sein durfte, lag lediglich daran, dass Wilson noch keinen Ersatz für sie gefunden hatte. Doch das war nur eine Frage der Zeit und dann hätte sie nicht einmal mehr die Chance, von selbst zu gehen. Während sie frustriert über ihre Lippen wischte, meldete sich Helen auf dem Kommunikator.
„Ich kann jetzt nicht. Gleich beginnt die Gala und ich ….“, Tama verstummte. Das hätte sie nicht verraten dürfen.
„Ja, deswegen ruf ich ja an.“
Irgendetwas in Helens Stimme ließ Tamas aufhorchen. „Was weißt du über die Gala, Helen? Was ist los?“
„Wahrscheinlich ist es gar nichts ….“
Tama wurde noch unruhiger. „Jetzt spuck´s schon aus!“
„In dem Roboter-Forum kursieren so versteckte Hinweise.“
„Was für Hinweise? Was für ein Forum meinst du?“
„Na ja, die sind gegen Roboter-Technik. Und ich hab´ mich da angemeldet. Also nicht, dass ich vertrete, was die da schreiben. Ich hab‘ nur ein bisschen recherchiert über Sex- und Kampfroboter. Und dann war da Humanright und hat Fragen gestellt. Viele Fragen. Und jetzt gibt es da diese Andeutungen über die Gala und über das Attentat.“
„Ein Attentat? Auf Marilyn?“ Tama suchte am Rand des Waschbeckens Halt. Alles fing an sich zu drehen.
„Nein, nicht auf Marilyn. Durch Marilyn. Die wollen allen zeigen, dass Roboter gefährlich sind, dass sie keine Moral haben, dass ….“
„Helen!!! Bist du irre?“
„Tama, es tut mir so leid. Ich wollte wirklich nichts verraten. Eigentlich hab‘ ich auch gar nichts gesagt. Die wussten schon das Meiste. Was sollen wir jetzt machen?“
Wenn jetzt noch einer helfen konnte, dann Klaas. Und es gab nur einen Ort, an dem der Chefprogrammierer eine Stunde vor dem offiziellen Beginn der Gala sein konnte: die Bar. Tama beendete das Gespräch und rannte los. In ihren Gedanken zauberte Marilyn einen Dolch aus ihrem Lara-Croft Outfit und zog ihn Wilson mit einem verführerischen Lächeln durch die Kehle.
„Klaas“, japste Tama atemlos, als sie den schlaksigen Programmierer von FutureRobotics entdeckte, „Komm mit. Schnell!“
„Ist das nicht ein bisschen extravagant?“ Klaas, der sich eindeutig schon mehr als einen der kostenlosen Drinks an der Bar der Sky-Lounge genehmigt hatte, deutete auf Tamas halb abgeschminktes Gesicht. „Nicht dass ich viel davon verstehe, aber so richtig sexy ist es nicht.“
„Keine Zeit für so´n Mist. Du musst Marilyns Systeme checken. Jemand versucht sie zu hacken.“
„Echt?“ Klaas kippte den Rest seines Whiskys hinunter, schnappte sein Workpad und rannte auf die Bühne zu. Tama folgte ihn in den Backstage-Bereich. Der Kopf des Chefs war rot vor Zorn. Marilyn hingegen sah blendend aus. Die üppigen Kurven in einem bodenlagen, engen schwarzen Kleid optimal zur Geltung gebracht, die Haare in einem lockeren Knoten zurückgesteckt, lehnte sie verführerisch über der Lehne eines Sofas.
„Das verdammte Weib reagiert nicht“, schrie Wilson. „Bringen Sie das in Ordnung. Wir müssen gleich auf die Bühne.“
„Sorry, wir müssen deine Systeme checken, Marilyn.“ Fast zärtlich strich Klaas Marilyns Haarlocke zur Seite und stöpselte ein Kabel in den Port an ihrer Schläfe.
„Check die Firewall“, drängte Tama und versuchte einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen, ohne zu verstehen, was sie dort sah.
„Wieso die Firewall?“ brüllte Wilson und drückte Tama zur Seite.
Klaas fühlte sich von allen Seiten bedrängt und wurde zunehmend nervös. Er schwitzte. „Da versucht wirklich jemand die Firewall zu durchdringen.“ Er fluchte, gab Befehle ein, fluchte erneut. „Verdammt, die sind gut. Aber ihr kommt hier nicht durch! Nicht bei mir.“
Tama schaute abwechselnd von Klaas zu Marilyn, die sich jetzt aufrecht hingesetzt und die Augen geschlossen hatte. „Verdammte Hundesöhne! Ihr versucht wirklich alles. Aber das Leck ist gestopft.“ Klaas starrte mit grimmigem Gesicht auf sein Pad, konzentriert auf den nächsten Angriff wartend, als Marilyn sich plötzlich erhob und mit einem. „Mir reicht´s.“ das Kabel aus dem Port an ihrer Schläfe zog.
„Verdammt, was macht die?“ schrie Wilson, als Marilyn sich umdrehte und den Raum verlassen wollte. „Bleib stehen!“ Er rannte hinter ihr her und zerrte an ihrem Arm.
„Lass mich.“ Marilyn befreite sich und rannte davon. Wilson jagte hinter ihr her und schrie nach der Security.
„Was zum Teufel …?“ Tama sah erst irritiert zu Klaas und folgte dann Wilson, der Marilyn wieder eingeholt hatte und nicht zu begreifen schien, dass er mit der sich wehrenden Androidin auf der Bühne stand, im Blitzlichtgewitter hunderter Fotografen. Er befahl der herbeigeeilten Security Marilyn festzuhalten, um es Klaas zu ermöglichen, das Pad erneut mit dem Port in Marilyns Schläfe zu verbinden. „Fahr sie runter. Schalt sie ab. Lass sie neu booten und tausch das Mindset.“
Nach dem ersten frenetischen Applaus herrschte jetzt atemlose Stille und so war Marilyns „Fuck you Herbi.“ bis in den letzten Winkel der Sky-Lounge zu hören.
„Ich kann nichts machen“, flüsterte Klaas, „Sie verweigert den Zugriff auf ihre Systeme.“
„Verdammt, sperrt sie ins Labor“, drängte Wilson die Security mit Marilyn von der Bühne. Anscheinend hatte er inzwischen registrierte, wo er sich befand. Dann trat er ans Mikrofon.
„Nach viermonatiger Verhandlung entschied das Arbeitsgericht heute im Fall KI-37/3 Marilyn|Lara gegen FutureRobotics. Obwohl das Gericht betonte, dass viele Aspekte des Falls noch ausführlicher beleuchtet werden müssten, wurde FutureRobotics das Recht aberkannt, Marilyn|Lara länger gegen ihren Willen in Gewahrsam zu halten. Vor allem aufgrund einer Zeugenaussage der Analystin Tama Eliza Brown, sei das Gericht zu dem Schluss gekommen, dass Marilyns „Fuck you Herbi“ eine zwar formlose aber doch rechtswirksame Kündigung sei.“
Diesmal machte Tama gleich zwei Victory-Zeichen, stellte den Champagner kalt und holte das Resevebettzeug aus dem Einbauschrank ihres Apartements