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Die Krone

Mix

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18.03.2014
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Die Krone

Warum töte ich?, fragte sich Anzu, während er mit glasigem Blick beobachtete, wie sich die Blutlache immer weiter in seine Richtung ausbreitete. Er stand in einem abgedunkelten Raum, dem Inneren einer heruntergekommenen Hütte. Das einzige Fenster war mit Brettern vernagelt, zweifellos um die Kälte von draußen fernzuhalten, und das Kaminfeuer spendete nur spärliches Licht. Aber es reichte, um die Züge des kahlköpfigen Mannes zu erhellen, der mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden lag und in dessen Kehle eine Messerklinge steckte. Dort entsprang die rote Pfütze und quoll auf Anzu zu. So nah war sie ihm inzwischen gekommen, dass sie kurz davor stand, seine schmutzigen Stiefel zu beflecken. Umsichtig trat er daher zur Seite und richtete seine Augen dabei erstmals auf das Gesicht seines Opfers.
Wenige Minuten zuvor hatte ihn dieses Gesicht noch angefleht, hatte geweint und geschluchzt, die Stimme nurmehr ein schwaches Wimmern, die Miene zu einer angsterfüllten Grimasse verzogen. Im Tod war diese nun zu einer Maske erstarrt, die Augen leer und kalt, der Mund leicht geöffnet und voller Blut. Der Mann hatte Anzu überrascht, denn nicht um sein eigenes Leben hatte er gebettelt, sondern um das seines Neffen. In all den Jahren, denen Anzu nun schon seinem Beruf nachging, war ihm solche Selbstlosigkeit noch nicht begegnet. Seiner Erfahrung nach dachten die Menschen für gewöhnlich zuerst an sich selbst, vor allem im Angesicht des Todes.
Aber nicht dieser Mann, der schnell eingesehen hatte, dass er dem Eindringling in sein Haus nicht gewachsen war. Entschieden hatte er das Leben für seinen Neffen gefordert, hatte argumentiert, dass dieser ein Geschöpf Gottes sei, das noch eine Rolle zu spielen habe, und das, noch viel wichtiger, doch nur ein unschuldiges Kind sei, das noch zu jung war, um den Weg allen Fleisches zu gehen.
Anzu jedoch hatte damit nichts anfangen können. Weder glaubte er an Unschuld, noch interessierte er sich für irgendwelche möglichen Götter. Er war der Meinung, dass die Welt einfach jenen Weg ging, den die Menschen ihr vorgaben, und das bedeutete eine Welt voller Pein. Und warum auch nicht, dachte er, wo es doch solch ein großes Verlangen nach Dienstleistungen wie der meinen gibt?
Also hatte er den Mann ermordet, so wie es sein Vertrag von ihm verlangte. Denn Anzu war ein professioneller Attentäter. Er tötete für Geld, und er kannte keine Gnade. Aber ist das wirklich das „Warum“? Geht es mir nur um die bare Münze?
Er seufzte. Sein Vertrag war noch nicht erfüllt, erst eines seiner Ziele hatte er liquidiert. Langsam bückte er sich zu dem leblosen Körper herab, griff nach dem Messer in dessen Kehle und zog es mit einem Schmatzen heraus. Nachdem er einen Augenblick lang die blutverschmierte Klinge begutachtet hatte, wischte er sie an den Kleidern des toten Mannes sauber. „Dein Neffe ist nicht hier“, sprach er an das versteinerte Gesicht gewandt, „aber keine Sorge, ich werde ihn finden.“
Erst als er die Klinge für vollkommen rein befand, erhob er sich wieder und steckte sie in seinen Gürtel. Nachdem er noch einmal seine Augen durch den Raum hatte schweifen lassen, ging er zur Tür und trat hinaus. Nach der Zeit im abgedunkelten Inneren stach ihm nun das Tageslicht schmerzhaft in die Augen, und das umso heftiger, da der Boden mit Schnee bedeckt war, welcher die Sonnenstrahlen reflektierte. Außerdem drang eine Kälte auf ihn ein, die ihm unmenschlich vorkam nach der Wärme des Feuers, die er kurz zuvor noch gespürt hatte. Dennoch war er froh, die Hütte hinter sich zu lassen. Schon bald wäre sie mit einem grotesken Gestank gefüllt, und der Attentäter war nicht erpicht darauf, dann noch hier zu sein.
Den Jungen zu finden, würde ihn nicht vor große Probleme stellen. Schon bei seiner Ankunft hatte er die Fußspuren bemerkt, die von der Hütte fortführten, und die bedeutend kleiner waren als alle anderen, die hier kreuzten. Da die Hütte am Rand eines kleinen Dorfes stand und es in der Nacht neu geschneit hatte, waren dies nicht einmal viele. Die Spuren, die für ihn von Interesse waren, verliefen außerdem in eine Richtung, in die niemand sonst zu gehen schien. In die Wildnis führten sie, hin zu einem Wald, der in einiger Entfernung aus dem Boden spross und der, wie alles andere auch, in einen weißen Schleier getaucht war. Nun denn..., dachte Anzu, ...er kann rennen, aber er kann nicht entkommen.
Während seine langen, schwarzen Haare im Wind wehten, zog der Attentäter seinen Schal über Mund und Nase, um sich vor der beißenden Kälte zu schützen. Dann setzte er sich ruhigen Schrittes in Bewegung, ging fort von der Hütte und in Richtung des Waldes. Keiner der Dorfbewohner schien ihm Beachtung zu schenken, vielleicht weil sie alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Irgendwann jedoch würde der Gestank, der von der Hütte aufstieg, so stark werden, dass jemand etwes bemerkte. Wenn es endlich so weit war, würden sie den Attentäter nicht mehr einholen können.
Als er dem Waldrand langsam näher kam, schweiften Anzus Gedanken ab. Diese Mengen an Schnee waren fremd für ihn. Sein ganzes Leben hatte er in Regionen verbracht, in denen es nur selten oder gar nicht schneite, und mit einem Hauch Wehmut dachte er an die Wärme jener Orte zurück. Abgesehen davon vermisste er nichts. Sein Leben hatte unschön begonnen, und so hatte es sich auch fortgesetzt. Als abgemagerter Junge war er in seiner Kindheit stets auf sich allein gestellt gewesen, Tag für Tag nur darum bemüht, zu überleben. Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt, denn unmittelbar nach seiner Geburt hatten sie ihn an einen Fremden verkauft. Dieser Fremde hatte sich fortan um ihn gekümmert, aber nur bis zu Anzus fünftem Lebensjahr. Dann hatte er ihn verstoßen, hatte ihn im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße geworfen. Anzu konnte sich nicht mehr an vieles aus jener Zeit erinnern, aber die Worte, die der Fremde sprach, nachdem er seinen Schützling unsanft aus dem Haus befördert hatte, rangen selbst heute noch schmerzhaft in seinen Ohren: „Du bist nicht das, wofür ich dich gehalten habe.“ Danach hatte sich Anzu jahrelang allein durchgeschlagen, hatte an Essen und Wasser genommen, was er kriegen konnte, hatte gestohlen... und gelegentlich auch getötet. Damals nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Heute... Als er elf geworden war, waren schließlich die Kinder Sannleikurs auf ihn aufmerksam geworden, eine der undurchschaubarsten und tödlichsten Attentätergilden des südlichen Kontinents. Sie retteten sein Leben, und im Gegenzug tötetete er für sie. Also geht es nur darum, eine Schuld zu begleichen?
Inzwischen hatte er den Wald betreten, und damit eine dunklere Welt. Die Bäume standen so dicht, dass das Sonnenlicht kaum in der Lage war, den Boden zu berühren, und der Schnee bedeckte sämtliches Leben wie ein Leichentuch. Bis auf meine Wenigkeit natürlich..., dachte Anzu, ...und den Jungen...
Noch immer konnte er gut dessen Fußspuren erkennen. Nun jedoch lagen sie näher beeinander, was bedeutete, dass er aufgehört hatte zu rennen. Die Spuren schlängelten sich zwischen den Bäumen hindurch und führten tiefer in den Wald hinein. Anzu mutmaßte, dass der Onkel seinen Neffen zur Flucht gedrängt hatte. Irgendwie musste er vom Herannahen des Attentäters erfahren haben, vielleicht wusste er sogar, weshalb jemand ihn und seinen Neffen umbringen wollte. War dies der Fall, so hatte er über mehr Informationen verfügt als Anzu. Dieser war nur hier, um einen Vertrag zu erfüllen. Im Endeffekt war er lediglich eine Waffe. Und Waffen stellen keine Fragen...
Ob der Junge wohl begriffen hatte, in welcher Gefahr er sich befand? Ob er Angst hatte? Anzu selbst fürchtete sich, aber nicht vor dem Jungen oder diesem Wald oder gar dem Schnee. Es war eine Angst, die ihn stets begleitete. Er glaubte, dass irgendwo auf der Welt jemand auf ihn wartete, jemand, der sich nicht von ihm umbringen lassen würde, sondern der sich erheben und über ihn richten würde. Alles, was Anzu dann noch blieb, war, sich niederzuknien und das Urteil demütig in Empfang zu nehmen. Jeden Tag befürchtete er, dass er auf diesen Menschen treffen würde, seit er das erste mal ein Leben genommen hatte.
Er befand sich nun tief im Inneren des Waldes, und folgte nach wie vor den Fußspuren des Jungen. Gewiss war er schon eine halbe Stunde oder länger unterwegs. Mit Ausnahme seiner ruhigen Schritte, die den Schnee knirschen ließen, war alles still. Selbst der Wind schien nicht in der Lage zu sein, bis zu diesem Ort vorzudringen. Anzu mochte die Stille nicht, obwohl sie eigentlich sein Verbündeter sein sollte. Er verband sie mit dem einen Moment in seinem Leben, da er sich hatte gehen lassen, da er sich glücklich hatte zurückfallen lassen und in einen geruhsamen Schlaf gesunken war. Neben ihm hatte die einzige Frau gelegen, die ihm jemals Zuneigung entgegen gebracht hatte. Gewiss, er hatte sie dafür bezahlt, ihre Gefühle waren nur gespielt gewesen, aber es hatte ihm dennoch die Welt bedeutet. Am nächsten Morgen war er in einem blutgetränkten Bett erwacht. Jemand hatte der Frau an seiner Seite die Kehle durchgeschnitten und beide Hände abgetrennt, Anzu wusste bis heute nicht, was zuerst geschehen war. Auch über das Motiv konnte er nur mutmaßen. Womöglich hatte sie etwas gestohlen und ihr Opfer wollte sich rächen. Was auch immer der Fall war, ganz deutlich konnte er sich an die markerschütternde Stille erinnern, die in seinen Ohren gedröhnt hatte, während seine Augen all das erkannt hatten, was sein Verstand nicht wahrhaben wollte. Seither konnte er nicht mehr ruhig schlafen, und niemals mehr als ein paar Stunden am Stück. Und niemals mehr werde ich mir einen Moment des Glücks gönnen..., dachte er, ...denn im Glück bin ich unachtsam...
Plötzlich blieb er stehen. Die Stille war durchbrochen. Ein kaum vernehmbares Wimmern machte ihm deutlich, dass er seine Beute eingeholt hatte. Vorsichtig ging er noch ein Stück weiter, bis der Junge schließlich in sein Sichtfeld gelangte. Am Fuße einer besonders hoch aufragenden Eiche hatte er sich zusammen gekauert und hielt sich die rechte Schulter, das Gesicht schmerzverzerrt.
Behutsam näherte sich der Attentäter seinem Opfer. Erst als er nur noch wenige Fuß entfernt war, hielt er an. Fast schwerfällig wirkte es, als der Junge in jenem Moment seinen Kopf hob und ihrer beider Augen sich trafen. „Hallo“, sagte Anzu, ohne eine Miene zu verziehen.
Der Junge zögerte merklich, grüßte aber schließlich zurück. „Hallo.“
„Bist du der Neffe von Valur?“, wollte Anzu wissen.
Der Junge nickte.
„Dann ist dein Name Namtaru, nicht wahr?“, fuhr der Attentäter fort. Als sein Gegenüber abermals nickte, ging er in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. „Wer würde dir solch ein Namen geben, Junge? Er stinkt nacht Pest und Tod.“
„Meine Mutter“, antwortete Namtaru schlagfertig. „Sie war keine nette Frau.“
Offensichtlich nicht, dachte Anzu. Er deutete auf die Schulter des Jungen, die dieser immer noch umklammerte, und fragte: „Was ist passiert?“
Namtaru zögerte erneut, antwortete jedoch: „Ich habe versucht, auf den Baum zu klettern. Aber ich bin gefallen, und jetzt tut meine Schulter weh, und meinen Arm kann ich nicht mehr bewegen.“
Worauf warte ich?, fragte sich Anzu. Aufmerksam sah er in das unschuldig anmutende Gesicht des Jungen. Es war offensichtlich, dass dieser kein Urteil über ihn sprechen würde. Ich muss es zu Ende bringen. Wenigstens dieses unnütze Geplänkel sollte ich ihm ersparen... Aber diese grünen Augen schienen eine geradezu hypnotische Wirkung auf den Attentäter zu haben, und er zog sein Messer nicht. Lieber hakte er nach: „Wolltest du dich auf dem Baum verstecken?“
„Nein“, antwortete Namtaru schlicht.
Anzu bohrte weiter: „Wieso wolltest du dann hinaufklettern?“
Der Junge antwortete nicht sofort, sondern legte seinen Kopf in den Nacken und sah hinauf zu den verschneiten Ästen der Eiche. Erst als er seinen Blick wieder gesenkt hatte, sprach er: „Ich bin hier her gekommen, um mich meiner Angst zu stellen.“
„Hast du Höhenangst?“
„Nein.“
Namtaru war offensichtlich nicht sehr gesprächig. Fasziniert bemerkte Anzu jedoch, dass er sich nicht vor ihm zu fürchten schien. „Welcher Angst wolltest du dich stellen?“, fragte der Attentäter schließlich.
In der Zwischenzeit war der Junge ein Stück am Baumstamm hinab gerutscht und richtete sich nun wieder auf. Seine Schulter schien dagegen zu protestieren, denn bei der Bewegung ächzte er qualvoll auf. Dann antwortete er: „Früher habe ich immer mit meiner Schwester in diesem Wald gespielt, und irgendwann haben wir diesen Baum gefunden. Ich glaube, es ist der Höchste im ganzen Wald, das hat zumindest meine Schwester behauptet, nachdem sie rauf geklettert war. Sie hat es bis ganz nach oben geschafft, bis zur Krone, und auch wieder herab. Sie hat gesagt, ich solle es auch versuchen, von dort oben könne ich die ganze Welt sehen. Aber ich habe mich nicht getraut. Ich dachte, ich wäre nicht bereit für die Welt. Sie ist so groß, und ich bin so klein. Ich hatte Angst vor ihr.“ Namtaru schluckte hörbar und fuhr dann fort: „Ich habe noch immer Angst vor ihr. Aber ich dachte, wenn ich schon sterben muss, dann will ich meiner Schwester wenigstens sagen können, dass ich es doch noch gewagt habe. Ich dachte, bevor ich gehe, sollte ich wenigstens einen Blick auf die Welt geworfen haben.“ Für einen Moment hielt er inne, und seine Augen huschten zu dem Messer, das am Gürtel seines Gegenübers prangte. Dann fügte er hinzu: „Ich glaube nicht, dass es noch dazu kommen wird...“
Nachdem Anzu diese Geschichte hatte sacken lassen, stellte er fest, dass er immer noch in diese mysteriösen, grünen Augen starrte. Schließlich aber besann er sich und fragte: „Weißt du, wer ich bin?“
„Du bist der böse Mann“, antwortete Namtaru prompt. „Du bist der Mörder meines Onkels. Und meiner...“
„Wenn du das weißt, wieso hast du dann nicht versucht, zu fliehen?“, wollte der Attentäter wissen. „Hat dein Onkel dir nicht gesagt, dass du weglaufen sollst?“
„Hat er“, erwiderte der Junge, „aber er hat mir nicht gesagt wohin. Und ich wollte die Welt sehen...“
Anzu seufzte. Er hatte verstanden, weshalb er zögerte, weshalb er noch nicht sein Messer gezogen und es in den Körpers des Jungen gerammt hatte. Er erkannte sich selbst in ihm wieder. Auch er war einst ein Kind ohne Eltern und ohne Richtung gewesen.
Aber seine Finger zuckten. Sie schienen begriffen zu haben, womit sein Verstand noch zu kämpfen hatte. Der Junge musste sterben, und zwar durch seine Hand. Muss er das denn wirklich?, meldete sich eine Stimme in seinem Inneren. Muss er wirklich sterben? Was, wenn du es dem Jungen gleichtust? Was, wenn du dich deiner eigenen Angst stellst? Du könntest ihn laufen lassen und nach dem Menschen suchen, der über dich richten wird. Du könntest aufhören, zu töten... womöglich sogar Glück finden...
Könnte ich?, wunderte sich Anzu. Habe ich wirklich eine Wahl? Unentschlossen blickte er in das Gesicht Namtarus, welches stoisch zurückstarrte. In der Absicht, sich einen Moment der Ruhe zu gönnen, um sich dabei zu besinnen, schloss er die Augen und atmete tief durch. Dadurch musste er nicht mehr in diese grünen Augen sehen, die wie ein Spiegel waren, und schon hatte er das Gefühl, klarer denken zu können. Er horchte tief in sich hinein, auf der Suche nach einer Lösung, und was er vorfand, gefiel ihm nicht. Er stellte fest, dass seine Finger Recht hatten. Er wollte den Vertrag erfüllen, wissend, dass der Vertrag selbst längst keine Rolle mehr spielte. Da ist sie also..., dachte er, ...die Antwort...
Als er die Augen wieder öffnete, sagte er: „Du und ich, wir sind uns einander ähnlich, Junge. Als ich in deinem Alter war, war ich genauso allein wie du. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Und obwohl ich jeden Tag verzweifelt ums Überleben gekämpft habe, habe ich mir des Nachts vorgestellt, wie es wäre, wenn jemand kommen würde, um mich zu töten. Ich habe mich gefragt, ob ich mich tatsächlich wehren oder mich meinem Schicksal ergeben würde. Siehst du, von solchem Zwiespalt ist mein ganzes Leben geprägt. Aber jetzt nicht mehr. Ich habe begriffen, warum ich das hier tue. Und das verdanke ich dir.“
Der Junge nickte, schien Verständnis zu suggerieren.
Anzu zückte sein Messer. Mit einer raschen Bewegung schnitt er Namtaru die Kehle durch und befleckte dabei seine eigene Hand mit Blut. Der Junge röchelte qualvoll, aber schon bald verstummte er, und alles war wieder still. Jetzt war er nur noch ein lebloser Körper, einer von vielen in Anzus Vergangenheit. Aber wenigstens stehe ich jetzt dazu...
So rasch wie er seine Waffe gezogen hatte, ließ er sie auch wieder verschwinden. Sein Blick schwenkte gen Himmel, zu den kahlen Ästen der Eiche, die nun wie ein Mahnmal für den Jungen wirkte. Er zögerte kurz, aber dann begann er mit dem Aufstieg. Der Fremde hat erkannt, dass ich ein Niemand war..., dachte er, ...und deswegen wollte er mich nicht mehr. Immer näher kam er der Spitze des Baumes, während seine blutverschmierte Hand den Schnee rot färbte. Ich habe keine Angst mehr, der ich mich stellen müsste, denn ich habe verstanden, habe akzeptiert... Und schließlich erreichte er die Krone, und als sich vor seinen Augen die Welt offenbarte, da sah er die Dinge so klar wie nie zuvor. Ich töte, weil ich kein Niemand sein will. Ich töte, weil ich nichts anderes kann.

 

Hallo Mix!
Deine Geschichte hat mich fasziniert. Ich finde, dass Du den Charakter von Anzu gut herausgearbeitet hast. Er war für mich greifbar und sein Handeln nachvollziehbar. Allerdings könntest Du klarer machen, wieso er sich auf dem Weg in den Wald an seine eigene Kindheit erinnert. Ohne Bezug zur aktuellen Situation wirkte der Part auf mich wie künstlich eingefügt, damit der Leser etwas über Anzu erfährt. Verbindet ihn zum Beispiel etwas mit dem Jungen, den er verfolgt? Sieht er sich selbst in ihm? Oder ruft der winterliche Wald alte Erinnerungen wach? Ein Bezug wäre schön.
Der Pedant in mir schreit nach Korrektur eines Flüchtigkeitsfehlers:

Warum töte ich?, fragte sich Anzu, während er mit glasigem Blick beobachtete, wie sich die Blutlache immer weiter in seine Richtung aubreitete.
ausbreitete

Deine Sprache empfinde ich zweigeteilt. Mal fließen die Sätze geschmeidig dahin und sind wunderbar zu lesen, mal kommen Ausdrücke recht gestelzt daher. Hier ein paar Beispiele:

Dort hatte die Pfütze aus rotem Lebenssaft ihren Ursprung und von dort war sie Anzu inzwischen so nahe gekommen, dass sie drauf und dran war, seine schmutzigen Stiefel zu beflecken. Umsichtig trat er daher zur Seite und löste seine Augen dabei erstmals von der Lache und richtete sie stattdessen auf das Gesicht seines Opfers.
Formulierung etwas staksig, fließt nicht so schön wie die meisten anderen Sätze. Zum Beispiel eher:
Dort entsprang die Pfütze aus rotem Lebenssaft und quoll auf Anzu zu, sodass sie schon fast seine schmutzigen Stiefel befleckte. Umsichtig trat er daher zur Seite, löste seine Augen dabei erstmals von der Lache und richtete sie stattdessen auf das erstarrte Gesicht.

Erst als er die Klinge für vollkommen rein befand, erhob er sich wieder und steckte sie in seinen Gürtel.
…und steckte sie weg?

Nachdem er noch einmal seine Augen durch den Raum hatte schweifen lassen, drehte er sich um, ging zur Tür und trat nach draußen.
…und trat hinaus? (glättet die Satzmelodie für mich)

Außerdem drang eine Kälte auf ihn ein, die ihm unmenschlich vorkam nach der Wärme des Feuers, die er kurz zuvor noch gespürt hatte.
…nach der Wärme des Feuers im Innern?

Einzig seine Nase atmete erleichtert auf, sog gierig die frische Luft ein, welche das genaue Gegenteil war zu den übel riechenden Gasen, die der tote Onkel absonderte.
Finde ich sprachlich holperig. Aber viel mehr ist mir hier aufgefallen: Wieso riecht die Leiche übel, wenn der Tod doch gerade erst eintrat? Ist das Absicht? Z.B. ein Hinweis auf „Nicht menschlich“? Dann bräuchte ich allerdings mehr Infos dazu.

Schon bei seiner Ankunft hatte er die Fußspuren bemerkt, die von der Hütte fortführten, und die bedeutend kleiner waren als alle anderen, die hier kreuzten. Da die Hütte am Rand eines kleinen Dorfes stand und es in der Nacht neu geschneit hatte, waren dies nicht einmal viele. Die Spuren, die für ihn von Interesse waren, verliefen außerdem in eine Richtung, in die niemand sonst zu gehen schien. In die Wildnis führten sie, hin zu einem Wald, der in einiger Entfernung aus dem Boden spross und der, wie alles andere auch, in einen weißen Schleier getaucht war. Nun denn..., dachte Anzu, ...er kann rennen, aber er kann nicht entkommen.
Diesen Absatz finde ich sprachlich sehr elegant! Die Sprache fließt. Und davon hast Du noch mehr. Schön!

Ein kleiner Zeitfehler:

Und Waffen stellen keine Fragen...
…stellten keine Fragen

Und noch mal Satzmeldodie:

Noch immer folgte er den Fußspuren des Jungen, immer tiefer ging er in den Wald hinein.
„ging er“ finde ich überflüssig. Ohne ließt sich´s meiner Meinung nach schöner.

Den Dialog zwischen Anzu und Namtaru finde ich gut. Er wirkt natürlich.
Das Ende war für mich spannend, weil ich bis zuletzt nicht wusste, für welche Zukunft Anzu sich entscheidet. Seine Zweifel und die daraus entstehenden Implikationen für sein weiteres Handeln waren schlüssig, würden sich aber noch einen Tick mehr abrunden, wenn Du am Anfang eine emotionale Bindung zwischen Beiden herstellst (in Anzu´s Erinnerungen an seine Kindheit). Dann hätte die aktuelle Entscheidung noch mehr Gewicht. Mir kam der Gedanke, dass er mit der eigenen Kindheit Frieden schließen könnte, wenn er den Jungen laufen lässt. Oder aber die Unabänderlichkeit des Elends akzeptiert und durch den Tod des Jungen erneut legitimisiert.
Bin gespannt auf mehr! 
Viele Grüße,
Saugnapf

 

Hej Mix,

herzlich willkommen bei den Wortkriegern.

Mir hat Deine Geschichte ganz gut gefallen. Eigentlich passiert nicht viel, trotzdem fand ich's nicht langweilig, sondern angenehm zu lesen. Der angedeutete Gewissenskonflikt, die Vergangenheit des Attentäters und des Opfers und auch ein ganz vager Ausblick in die Zukunft, das bildet einen roten Faden, dem ich relativ mühelos folgen kann.

Sprachlich fand ich es noch etwas unausgegoren, ich hab mal für den Anfang raus gepickt, was mir aufgefallen ist, vllt kannst Du ja was damit anfangen.

Dort hatte die Pfütze aus rotem Lebenssaft
Mit dieser Formulierung betonst Du dessen Kostbarkeit. So nimmt es der Mörder bestimmt nicht wahr. Aber es geht hier doch um seine Sichtweise, die wird hier geschildert.

die Miene zu einer angsterfüllten Maske verzogen
Warum eine Maske (ist 'ne rethorische Frage, weil sich das so ausgeluscht anhört)?
Masken sind starr, anflehen und weinen erfordert eine gewiss Mimik.

schon in so jungen Jahren dem Tod dargereicht zu werden.
Blumige Formulierung, im Angesicht des Todes.

Der Neffe blieb ihm noch verborgen.
Er war ihm noch verborgen, das Bleiben macht da keinen Sinn, oder?

Dein Neffe ist nicht hier“, sprach er währenddessen an das versteinerte Gesicht gewandt,
kann weg

drehte er sich um, ging zur Tür und trat nach draußen.
Mögliche Variante: drehte er sich um und trat nach draußen.

Einzig seine Nase atmete erleichtert auf,
Ich seh das anders: Die Nase atmet nicht (man atmet mit der Nase), sondern die Lunge. Aber vllt reicht es, wenn Du schreibst, dass er erleichtert aufatmete.

Das Ende der Geschichte find ich nicht ganz rund, es wirkt auf mich willkürlich, als hättest oder hast Du vor noch weiter zu schreiben oder als gäbe es schon eine Fortsetzung.

LG und viel Spaß noch hier,
Ane

 

Hey,

danke für eure Antworten. Das freut mich ja schonmal, dass die Geschichte in ihrer Gesamtheit offenbar gut bei euch ankommt. Im Moment bin ich dabei, den Text unter Berücksichtigung eures Feedbacks zu überarbeiten.

An Saugnapf: Ich fand vor allem deinen ersten und deinen letzten Hinweis sehr hilfreich. Dass Anzus Erinnerungen an seine Kindheit womöglich künstlich wirken, weil es keinen offensichtlichen Grund dafür gibt, dass er daran zurückdenkt, war mir gar nicht aufgefallen. Aber ich finde, dass du Recht hast. Ich werde versuchen, dafür eine Lösung zu finden. Auch der Hinweis auf die mangelnde emotionale Bindung zwischen Anzu und dem Jungen scheint mir gerechtfertigt. Dort werde ich ebenfalls versuchen, Entsprechendes in die Wege zu leiten. An den sprachlichen Kritikpunkten, die du genannt hast, habe ich bereits etwas herumgewerkelt - hoffentlich mit positivem Ergebnis.

An Ane: Auch dein Feedback fand ich hilfreich. Die von dir genannten Stellen habe ich daher bereits verändert. Mich würde allerdings interessieren, inwiefern dir das Ende der Geschichte nicht rund erscheint. Es gibt nämlich keine Fortsetzung und ich habe auch nicht vor, eine zu schreiben.

Ich hoffe, dass ich es schaffe, euch in den kommenden Tagen die überarbeitete Fassung zu präsentieren.

Bis dahin!

 

Hallo Mix, sehr gute Geschichte und ein toller Charakter, der eigentlich - auch wenn Du nicht weiterschreiben willst - doch viel Potential bietet, um ihn weiterzuentwickeln und seine Geschichte weiterzuerzählen.

Mir ist aufgefallen, dass Du öfter sehr lange Sätze machst. Ein Beispiel:

Entschieden hatte er das Leben für seinen Neffen gefordert, hatte argumentiert, dass dieser ein Geschöpf Gottes sei, das noch eine Rolle zu spielen habe, und das, noch viel wichtiger, doch nur ein unschuldiges Kind sei, das es nicht verdient hatte, schon in so jungen Jahren dem Tod dargereicht zu werden.

Der Satz fliesst gut aber hat meiner Meinung nach zu viele Kommas und sehr viele Relativbezüge (das, das, das). Als Leser mag solche langen Sätze nicht so, irgendwann verliere ich den Überblick, was jetzt genau auf was bezogen ist. Als Schreiberling kranke ich aber oft auch an der gleichen Krankheit. Wie viele von uns glaube ich :)

Ebenfalls musst Du darauf achten, dass Du die Abschnitte etwas unterschiedlicher beginnst.

Beispiel aus der Mitte des Textes innerhalb drei Absätze:

Während seine langen, schwarzen Haare...
Während er sich dem Waldrand immer weiter näherte...

Und dann ein weiterer, der sogar praktisch dieselbe Informationen enthält
Noch immer konnte er gut dessen Fußspuren...
Noch immer folgte er den Fußspuren des Jungen...

Das Problem mit solchen Dubletten ist, dass man sie einfach sofort sieht. Sie stechen regelrecht ins Auge und stören den Lesefluss.

Das sind aber alles Details und Motzen auf hohem Niveau. Der Text ist spannend, super geschrieben, toller Charakter und gute Ausarbeitung der Szenen.

Was mich allerdings doch relativ stark irritiert hat ist der abrupte Schluss. Zuerst baust Du quasi den Gewissenskonflikt auf, lässt ihn überlegen und innehalten, ihn mit sich selber kämpfen und am Schluss tötet er den Jungen dann mit einer saloppen und "pseudo-bad-guy" Bemerkung. Das passt irgendwie nicht zusammen.

Aber nochmal, wirklich gut geschrieben und bin gespannt, da mehr von Dir zu lesen!

Gruss
madcybi

 

So, ich habe den Text jetzt also überarbeitet und oben entsprechend verändert.

Hallo madcybi und danke für dein feedback!

Ich habe deine Bemerkungen bei der Überarbeitung berücksichtigt, vor allem hinsichtlich der Abwechslung beim Beginn von neuen Absätzen. Außerdem habe ich nochmal am Ende herumgeschraubt. Die "pseudo-bad-guy" Bemerkung hat das ganze nicht überlebt ;) Womöglich sagt dir das Ende nun etwas mehr zu.

Es freut mich natürlich, dass dir der Text insgesamt so gut gefällt. Gerade, dass du den Charakter des Anzu als gelungen empfindest, werte ich als großes Kompliment. Also, danke nochmal, und ich würde mich natürlich freuen, wenn du dir den nun überarbeiteten Text nochmal anschaust.

Gruß
Mix

 

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