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Die Murmel

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10.02.2015
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Die Murmel

Herr Gründler trat fest auf sein Gaspedal. Er war bereits achtunddreißig Sekunden zu spät
und wurde ungeduldig. Während er über eine Landstraße raste, stellte er sein Autoradio auf
die Frequenz zweiundneunzig Komma zwei. In zweihundertundachtundzwanzig Sekunden
sollten die Radionachrichten beginnen.
Der Abteilungsleiter des Controllings eines Industrieunternehmens fuhr bereits
fünfundfünfzig Kilometerprostunde und sollte in diesem Tempo in dreiundzwanzig Minuten
pünktlich wie jeden Morgen um acht Uhr fünfzehn auf der Arbeit erscheinen.
Er atmete tief durch und griff zu seiner einhundertundzehn Euro teuren Aktentasche auf
dem Beifahrersitz. Hektisch öffnete er die Ledertasche und griff hinein. Nervös zählte er:
Zwei rote Äpfel, drei Brote (zwei mit Wurst, eins mit Frischkäse), zwei Joghurts, einen Liter
Mineralwasser. Alles in Ordnung.
In fünf Minuten würde es acht Uhr werden und er hatte immer noch keinen Blick in die
Tageszeitung geworfen. Das war ihm noch nie passiert! Er war enttäuscht über seine eigene
Nachlässigkeit und griff in die Seitentasche der Fahrertür, zückte das Tageblatt und breitete
es vor sich aus: „Wieder eine Steigerung des Benzinpreises um zwei Prozent“. Herr Gründler
schüttelte verärgert seinen Kopf. „Borussia Dortmund verlor mit fünf zu drei gegen den
FC Köln.“ Er stöhnte laut auf und blätterte weiter. „Elf Enten flogen durch die offenen
Fenster eines Hochhausappartements.“ Mit der Stirn runzelnd legte er die Zeitung beiseite
und erlebte dabei einen Schock: Auf Zeigefinger und Daumen war schwarze Druckerfarbe.
Seufzend ärgerte er sich über seine Dummheit und schüttelte dabei seinen ganzen Körper.
Warum musste das gerade jetzt passieren? Er verzog sein Gesicht angewidert zu einer
Grimasse, zog vorsichtig aus dem Handschuhfach ein Taschentuch und wischte sich die
Finger sauber. Wieder stöhnte er vor Ärger über seine Schlamperei und legte das Tuch
beiseite. Dabei begann sein Mobiltelefon zu klingeln. Wie immer, hob er nach dem dritten
Klingeln ab: „Gründler? ... Ja..... Meeting vorverlegt? ... Um zwei Stunden? ... Neun Uhr? ... In
Raum drei? ... Unverschämtheit! ... Unannehmbar! ... Frechheit! ...“
Er legte das Telefon beiseite und wurde rot vor Zorn. Das Meeting um zwei
Stunden vorverlegt! Das waren einhundertzwanzig Minuten! Das waren ganze
siebentausendzweihundert Sekunden! Somit hatte er noch eine Stunde und einundsechzig
Sekunden Zeit die Unterlagen vorzubereiten. Schnell griff er in seine einhundertzehn Euro
teure Aktentasche und suchte die Soll- und Ist-Aufstellungen für das laufende Quartal.
Vorher tastete er sich noch einmal durch den Inhalt der Tasche: Zwei rote Äpfel, drei Brote
(zwei mit Wurst, eins mit Frischkäse), zwei Joghurts, einen Liter Mineralwasser. Korrekt!
Er zog die beiden Liste aus der Aktentasche und hielt seinen Marker bereit. Noch
einunddreißig Werte mussten verglichen werden. Er hatte jetzt noch genau sechzig Minuten
Zeit.
Zwölftausend Euro Hilfslöhne. Unverständlich! Im letzten Quartal waren es nur
sechstausend! Wie konnte das nur passieren? Er schlug mit seiner flachen Hand auf die
Dokumente und fing an, mit seinem gelben Marker über die Zahlen zu streichen.
Aus den Lautsprechern ertönten die Radionachrichten. („Hier ist Radio zweiundneunzig
komma zwei mit den Nachrichten.“...)
Herr Gründler rutsche zur Zeile neunzehn auf seiner Liste.
Neunzigtausendvierhundertdreiunddreißig Euro für Gehälter. In Quartal „drei“ waren
es genau zehntausend! Vor Wut fuhr er fast zwei Kilometerprostunde zu schnell. Was
war denn nur dieses Quartal los? Er überprüfte Zeile für Zeile: Zweihunderttausend Euro
Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung. Fünf Millionen und neunzigtausend Euro für
Sachanlagen. (...„Schon wieder eine Steigerung des Benzinpreises um zwei Prozent.“...)
Achtzigtausend Euro für Zinsaufwendungen. Mit einem Tuch wischte sich den Schweiß
von der Stirn. Siebentausend Euro für Steuern. (...„Borussia Dortmund mit drei zu fünf
verloren“...) Fast vierzigtausend Euro für Fremdinstandhaltungen! Vierzigtausend! Das
konnte doch nicht sein!
Seine Hände zitterten vor Aufregung. (...„Zehn Enten in einem Hochhausappartement“...)
Waren es nicht vorhin noch elf? Neuntausend Euro Abschreibungen auf Forderungen.
Sein Mobiltelefon ertönte wieder. Es klingelte einmal. Neunundreißigtausend Euro für
sonstige Aufwendungen. Unfassbar! Es klingelte zweimal. (...„Und jetzt das Wetter!“...)
Achtzigtausend Euro für Betriebsstoffe. Es klingelte dreimal: „Gründler, Hallo? ... Ja, das
Meeting ... Um was geht es? ... Um weitere fünfzehn Minuten vorverschoben? ... Unmöglich!
... Eine Unverschämtheit, eine absolute Unverschämtheit!“. Er legte wieder auf und war
endgültig kurz davor laut zu schreien, als er erschrocken auf die Fahrbahn schaute und mit
ganzer Kraft auf die Bremse trat.
Als er zum Stillstand gekommen war, atmete er schnell. Beinahe hätte er drei Personen auf
einem Fußgängerüberweg übergefahren. Zwei davon waren kleine Mädchen, worunter
eines vor Schreck ein Bündel mit kleinen gläsernen Murmeln mitten auf dem Zebrastreifen
fallen ließ. Sie kullerten in alle Richtungen. Schnell kniete sich das Mädchen auf die
Straße und versuchte die Murmeln wieder einzusammeln. Ihre Freundin stand schon bereits
auf der anderen Straßenseite und rief laut: „Komm jetzt! Bitte!“ Das Mädchen auf dem
Fußgängerüberweg lachte und versuchte sich zu beeilen. Nach wenigen Sekunden hatte sie
fast alle Murmeln wieder beisammen. Alle bis auf eine. Sie versuchte sich noch mit ihrem
kleinen Arm nach ihr zu strecken, überlegte es sich im letzten Moment dann doch anders
und hüpfte dann kichernd zu ihrer Freundin. Dann nahmen sich beide bei der Hand und
rannten davon.
Herr Gründler saß mit großen Augen da und starrte auf die letzte Murmel. Sie lag einfach
nur da. Mitten auf dem Zebrastreifen. Sie lachte? Hinter ihm hupten verärgerte wartende
Autofahrer, die nach wenigen Sekunden an Herrn Gründler mit ihren Wagen vorbeirollten
und ihn wild gestikulierend beschimpften. Warum hatte sie gelacht? Er stand noch einige
Sekunden sprachlos auf der Straße und blickte auf die Murmel. Wie lange wusste er später
nicht mehr.

 

Hallo, das ist mein erster Eintrag hier im Forum. :) Freue mich über harte und konstruktive Kritik. Die Geschichte habe ich im Rahmen eines Seminars geschrieben.

Viele Grüße, Pierre

 

Servus PierreHeum, willkommen hier.

Die Geschichte habe ich im Rahmen eines Seminars geschrieben.
Und als Belohnung für eure Teilnahme hat der Seminarleiter jedem von euch einen Sack mit Leerzeilen geschenkt? Oder musstet sie ihr ihm gar abkaufen? Und jetzt wisst ihr nicht wohin damit, stimmt's? :confused:

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich habe sie gelöscht. :)

 

Hallo Pierre,

da ich nicht weiß, wie deine Geschichte vorher formatiert war, fange ich nun einmal optisch unbefangen mit Kritik an. :)

Also die Grundidee deiner Geschichte finde ich ganz witzig:
Penetranter Bürokraten-Korinthen-Zähler wird von unschuldigem Kind aus der Bahn seines Zahlenwahns geworfen.
Stellenweise kommt es durchaus gut rüber, wie du dir das vorstellst bzw. was du dir dabei gedacht hast. An anderen Stellen funktioniert es aber nicht ganz so, nach meinem Dafürhalten.
So konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie er Auto fährt und dabei gleichzeitig alle diese Dinge tut, die du beschreibst. Vor allem weil du darauf auch überhaupt nicht näher eingehst, z.B. durch Differenzierung der Hände “Während er mit links mühsam das Lenkrad hielt nahm recht einen Stift aus dem Handschuhfach“ oder so ähnlich oder durch die Erwähnung, dass er einen Automatik fährt – irgendwas. So hatte ich ständig ein Bild vor meinem inneren Auge, wie von einem diese amerikanischen Veräppelungs-Filme, wo sich jemand beim Autofahren im Rückspiegel rasiert oder gleichzeitig Pfannkuchen bäckt oder sowas …

Auch die Reaktion der Personen auf dem Zebrastreifen erschienen mir nicht plausibel: Ein Mädchen erschreckt sich, eins geht einfach weiter, dann ruft das eine, das andere lacht und die dritte Person ist gar nicht mehr da … ?

Darüber hinaus sind viele Wortwiederholungen, Füllwörter und einige merkwürdige Sätze enthalten.

Fazit: Gute Idee, ausbaufähig! :)

Die sonnigsten Grüße sendet
heiterbiswolkig

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Pierre,

ich gehe ab morgen nicht mehr auf die Straße!

Ja, ich finde die Idee auch nicht schlecht, allerdings hatte ich beim Lesen nicht die rechte Freude, weil da nicht so richtig ein Lesefluss entstehen wollte. Aber der Typ ist schon ätzend mit seinem Sekundenzählen. Am Anfang finde ich die Ironie witzig:

Herr Gründler trat fest auf sein Gaspedal. Er war bereits achtunddreißig Sekunden zu spät und wurde ungeduldig. Während er über eine Landstraße raste [...] fuhr bereits
fünfundfünfzig Kilometerprostunde und sollte in diesem Tempo in dreiundzwanzig Minuten
pünktlich wie jeden Morgen um acht Uhr fünfzehn auf der Arbeit erscheinen.

Fährt der im ersten Gang?

Ansonsten gilt das selbe, das heiterbiswolkig schon angemerkt hat. Ich hatte eigentlich bis dahin, wo er auf die Bremse tritt Zweifel, ob er wirklich selbst fährt. Das kommt zu wenig rüber.

Die ausgeschriebenen Zahlen, vor allem die großen, wirken als Ziffern in diesem Text sicher nicht. Aber solche Wortschöpfungen: Kilometerprostunde bremsen den Lesefluss zusätzlich aus.

Also, ich denke, da geht noch was. Viel Spaß dabei.:)

Schönen Gruß
khnebel

 

Hallo PierreHeum,

zuerst einmal auch von mir ein "Herzliches Willkommen" und viel Spaß und Engagement hier im Forum!

Tja, was soll ich schreiben? Deine Geschichte ist schwierig zu beurteilen. Leider muß ich sagen, dass ich ob all der vielen Zahlen Mitte der Geschichte anfing, quer zu lesen. Deine Intention verstehe ich schon, aber man ermüdet schnell. Controller ... lebt von Zahlen, soweit nicht unlogisch. Aber irgendwann wurde es dann wirklich zuviel.

Mir wäre es lieber gewesen, du hättest ein, besser zwei, skurille Szenen aus dem Büro eingebaut. Vielleicht hätte das mehr Spannung gebracht.

Gruß, Freegrazer

 

Hallo zusammen,

erstmal herzlichen Dank für Eure Nachrichten! Und das ehrliche Feedback! Ich kann alle Punkte sehr gut nachvollziehen. Freunde von mir haben vieles ähnlich bewertet.
heiterbiswolkig: Meine merkwürdigen Sätze hat bereits ein Prof. bei einer Hausarbeit angemerkt. Ich versuche noch stärker dran zu arbeiten :D
khnebel: Auch den Lesefluss werde ich das nächste mal noch stärker berücksichtigen.
Freegrazer: Danke auch Dir. Ich denke die ein oder andere Wende tut dem Text tatsächlich ganz gut.

Ich hab mich jetzt dafür entschieden, den Text nicht mehr zu bearbeiten. Ich hab noch andere Ideen, an denen ich selbst auch sicher mehr Freude haben werde.

Nochmal danke!

Liebe Grüße

Pierre

 

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