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Serie Die neun Tode des Raffaele Bonatti [1]

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10.02.2000
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Anmerkungen zum Text

Die neun Tode des Raffaele Bonatti [1]

Der erste Tod

Als Bonatti sich seinem ersten Tod nähert, ist es etwas ordinär Langweiliges. In Bonattis Küche. Mit verwundertem Blick sitzt er auf einem der roten IKEA-Stühle und fühlt sich überraschend leicht, fast schwindelig. So muss das mit der Schwerelosigkeit sein, vermutet er. Dieses Gefühl in irgendeinen Zusammenhang mit dem Tod zu bringen, kommt ihm nicht in den Sinn. Dann sackt er zusammen, landet mit der Stirn auf dem ausladenden weißen Porzellanteller und blubbert Luftbläschen in die Spaghettisauce. Der Tod lässt sich Zeit. Er versetzt Bonatti lediglich einen gnädigen Anfangshieb, kaum der Rede wert. Genug, um sich nicht mehr zu rühren, aber zu schwach, als dass der arme Bonatti den Sensenmann dahinter vermuten könnte. Stattdessen leckt er an der Spaghettisauce und ist zufrieden mit der Dosis an frischem Knoblauch.

„Bald wird mein Sohn zum Essen kommen, schließlich habe ich ihn schon vor zehn Minuten gerufen“, mutmaßt Bonatti und stellt sich vor, wie sehr seinem Sohn die unvergleichlich schmackhafte Sauce munden wird. Bonatti ist ein exzellenter Koch. Aus ihm hätte etwas werden können in den Gourmettempeln dieser Welt. Doch Bonatti ist nicht auf dieser Welt erschienen, um etwas Großes zu werden. Tatsächlich kommt es ihm nie in den Sinn, dass Menschen zu etwas Großem gemacht sein könnten. Man stolpert eben einfach hinein in das Leben – in ein armes oder eben ein solches von weithin sichtbarer Größe. Bonatti glaubt an die Familie. Und es gibt bestimmt viele großartige Familien. Reich, berühmt und voller Wille zur Veränderung alles Irdischen. Nicht so Bonattis Familie.
„Ich bin Kölner“, denkt er und sammelt mit der Zunge Tomatenstückchen auf. „Nur mein Opa war Italiener. Aus Kalabrien. Daher meine Liebe zum Kochen.“

In Bonattis Kopf taucht eine Insel auf. Bestehend aus dem reinsten Weiß, dem er jemals begegnet ist.
„Es wird Zeit, dass mein Sohn auszieht“, überlegt Bonatti und starrt auf das grelle Weiß in sich. „Seit er diesen vermaledeiten Computer besitzt, schert er sich nicht mehr um das, was ich koche oder sage oder mir von ihm erbitte! Abfall runtertragen! Geschirr spülen! Zimmer saugen! Nichts von alldem passiert. Er ist erwachsen, verdammt noch mal!“
Erstaunt bemerkt Bonatti, dass er diese Worte in der Tat hören kann, als spräche sie jemand neben ihm aus. Die weiße Insel taucht die Lautstärke in eine Melange aus dumpfen Tönen, aber zu verstehen sind sie allemal laut und deutlich.
»Es wird Zeit, dass ich ausziehe.«
Bonatti angelt sich eine Spaghetto mit der Zunge und saugt sie ein. Köstliche Sauce verteilt sich in feinen Tropfen auf seinem Gesicht. Wer hat das gesagt? Ist Angelo endlich zum Essen gekommen?
»Angelo? Bist du das? Ich hab dich gar nicht kommen hören«, flüstert Bonatti.
Besteck klappert hinter seinem Kopf. In ein Glas wird eine Flüssigkeit eingeschenkt. „Warum sehe ich nur die Küchenuhr an der Wand?“, fragt er sich.
»Angelo?«
»Du musst lauter reden. Ich kann dich nicht verstehen.«
Ja, das ist Angelos Stimme. Bonatti will nicht, dass Angelo auszieht. Aber es muss sein. Es geht nicht mehr. Bonatti weint weiße Tränen auf ein kleines Kind, das mit Fieber in einem Bettchen liegt. Seine Hand auf dessen schmaler Stirn, ein tiefes Keuchen kriecht zwischen dünnen Lippen in Bonattis Ohren und gießt Säure aus Angst in das Weiß. Angst, denkt er, die Angst ist schwarz und endlos. Sie griff ein Leben lang nach seiner Kehle. Noch bis vorhin, als ich Spaghetti für uns beide kochte. Aber das Weiß gewinnt.
»Da ist eine Insel, so weiß wie damals in Griechenland«, hört sich Bonatti sagen. »Erinnerst du dich noch an unseren Urlaub? Das ist schon lange her. Nach dem Tod von Mama … Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Red lauter.«
»Ich rede doch laut«, sagt Bonatti. »So, wie immer, Angelo. Hörst du? Du musst ausziehen. Glaub nicht, dass mir das nicht weh tut. Gott weiß, wie sehr ich dich liebe. Du bist mein Sohn!«
Aber die Worte fallen wie tot aus seinem Mund, als redete er gegen Eierschachteln an. Es ist still. Bonatti blickt auf wehende Tücher, himmelgroß, bewegt von der warmen Meeresbrise, die er so liebt. Einem Wind, der Wäsche auf den Leinen flattern lässt und den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
»Warum hast du eigentlich deinen Kopf auf dem Spaghetti-Teller?«
„Ich weiß nicht“, denkt Bonatti, „habe ich das?“
»Schmeckt es dir, Angelo? Es ist deine Lieblingssauce.«
»Ich werde ausziehen. Morgen.«
Bonatti lauscht dem Klang dieser Worte. Sie verlieren sich nur langsam zwischen den wehenden Tüchern.
»Angelo«, sagt Bonatti, »das Weiß ist stärker als ich. Stärker als alle Liebe, die ich jemals für deine Mutter empfand und immer noch empfinde. Warum ist sie weg? Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Warum zum Teufel redest du in diese Spaghetti-Sauce? Hast du wieder gesoffen?«
Bonatti spürt einen Luftzug über seiner Wange und sieht ein Glas an der Wand gegenüber zerschellen. Die Scherben stehen plötzlich im Raum und bewegen sich nur noch in Zeitlupe. Das Weiß erreicht Bonattis Augen und dringt herein wie Wasser in einen lecken Schiffsrumpf.
»Angelo? Ich kann nichts mehr sehen … Angelo?«
»Scheiße«, sagt Angelo. »Kann es sein, dass du verreckst?«
»Nein, nein, bestimmt nicht. Ich schlafe nur und träume von dieser Insel.«
»Du redest mehr als in den letzten zehn Jahren zusammengenommen. Hab mal gelesen, dass man vor dem Tod wie ein Waschweib labert.«
Eine tiefe Furcht packt Bonatti. Wie eine Gottesanbeterin die kleine Grille. Schnell und zielsicher. Die Furcht beginnt genüsslich zu fressen und das Weiß verschlingt Bonattis Füße.

»Angelo …«
»Red lauter!«
Es wird ein Stuhl über den Boden geschoben. Ein Teller klappert in der Spüle, Besteck hinterher.
»Bist du das, Angelo?«
Bonatti meint, das gerade gesagt zu haben, aber er weiß es nicht genau, denn offenbar ist da kein Mund mehr, keine Lippen und es hörte sich an, als wäre der Satz weit draußen auf dem Meer gesprochen worden. Dann sieht er seine Frau zwischen den weißen Flächen hervorkommen. Wie eine Büste Michelangelos, die sich durch die wehenden Tücher bewegt. Sie hat ihn auf dem Arm. Angelo. Das Wunder, das Bonatti so abgöttisch liebt. Immer noch.
Bonatti spürt einen Ruck. Etwas ist nun anders, aber er weiß nicht was. Der kleine Angelo spricht. „Seltsam“, denkt Bonatti, „er ist so klein, aber sein Kopf ist schon so groß, so erwachsen.“
»So auf dem Boden liegt es sich besser, nicht wahr? Mit dem Kopf in den Spaghetti. Das ist ja ekelhaft. Ich hab dich so satt!«
Angelo lacht. Oder?
»Der Witz des Tages. So satt … nach dem letzten Essen, das du für mich gekocht hast. Und dann liegst du drin … Scheiße. Ich gehe jetzt. Mach’s gut.«
„Mach’s gut“, flüstert Bonattis Frau. Sie versinkt im Weiß, den kleinen Angelo auf dem Arm.
„Wohin geht ihr? Ich habe gerade gekocht“, wird von jemand gemurmelt, der vielleicht mal Bonatti war. Aber dann ist Stille. Sogar die Gedanken sind weg. Aus dem Weiß der Insel wird Licht. Bonatti hat sich getäuscht. Es war keine Insel.

Angelo steht im Türrahmen und blickt zum letzten Mal auf die Sauerei in der Küche. Er fühlt das Fremde in diesen Räumen, die Starre auf jedem Stuhl, an jedem Tisch, hinter den Spiegeln im Bad, auf jeder Türklinke. Vorsichtig schließt er die Augen und in ihm brennt eine alles zermahlende Finsternis. Er dreht sich in den Flur, nimmt den Schlüssel und geht.

 

Ich spüre beim Lesen, dass dein Text tiefe hat und du starke Gefühle ausdrücken willst. Der Tod von Bonatti ist so eine Sache, die ich nicht verstehe. Ich würde es gerne, geht aber nicht. Ich freue mich aber schon auf den Nächsten.

 

Hi @Billi,

ja, wir nähern uns Bonatti. Aber er muss noch ein paar Mal sterben. Danke fürs Lesen. Und der nächste Tod ist in Arbeit.

Griasle und guten Rutsch
Morphin

 

Hoppela – zuerst werd ich an Werfels Legende vom gerissenen Galgenstrick erinnert, obwohl die ja wesentlich anders ist als der m. E. gelungene Serienstart hierorts,

böser, böser Morphin,

und da zu sterben noch vor der Geburt beginnt, ist er fester Bestandteil des Lebens und mancher merkt es, wenn er auf dem Lebensweg tausend Tode stirbt, bevor er das/(bei) eine(m) Ma(h)l „den Löffel“ oder, gendergerecht darf es bei mir auch hier angehen unter uns Gourmets, „die Gabel“ abgibt auf immer (selbst das Buch Hiob spendet da wenig Trost und Hoffnung).

..., mutmaßt Bonatti, und …
da hat @RobF recht, Komma weg, es wird vorzüglich durchs und ersetzt -
oder alternativ, das Komma bleibt und die Konjunktion fällt weg

hier allerdings gibts keine Alternative

Man stolpert eben einfach hinein, in das Leben – in ein armes oder eben ein solches von weithin sichtbarer Größe.
weg mit dem Komma, ggfs., wenn Du Luft holen musst, kannstu den Gedankenstrich nach vorne schieben

Aber die Worte fallen wie tot aus seinem Mund, als rede er gegen Eierschachteln an.
Die erste Konjunktiefe hastu korrekt gemeistert, warum aber hier Konj. I, wenn es nur des „ob“ bedarf, die irreale Situation zu beschreiben – die buchstäblich nach dem Konj. irrealis schreit „als redete“ oder „als würde er gegen Eierschalen, pardon, sind ja gar keine, also -schachteln reden“ im Falle, dass jemand Prät. und Konj. nicht auseinanderhalten kann,

desgleichen hier viel deutlicher

Bonatti meint, das gerade gesagt zu haben, aber er weiß es nicht genau, denn offenbar ist da kein Mund mehr, keine Lippen und es hörte sich an, als [wäre] der Satz weit draußen auf dem Meer gesprochen worden.

Ich hätte - Du weißt ja, dass ich bekloppt bin - für den zehnten Tod dann doch den Galgenstrick aus Spaghetti vorzuschlagen ...

Hab ich schon eine gutes neues gewünscht?

Dann aber rasch nachgeholt!

Schönes Restwochenende und restliches 2021 -
wieder keine Primzahl!,

Friedel

 

Hallo Morphin,
Eine schöne Geschichte um ein trauriges Thema. Die Geschichte wirkt sehr leicht, tanzt geradezu den Konflikt - das finde ich gekonnt und gut und auch den Unterschied zwischen weißem Licht in Bonatti und schwarzem Loch in Angelo.

und blubbert Luftbläschen in die Spaghettisauce
Das finde ich unpassend und hier fehlt die Leichtigkeit. Mir stellt sich auch die Frage, ob er als sterbender erstens nicht mehr blubbert und zweitens Spaghetthisauce zum Blubbern zu fest ist.

Ansonsten sehr berührend

lg
Bernhard

 

Mahlzeit @Rob F,
besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Einiges übernommen oder aufgrund der Anregung auf andere Art geändert. War grad am zwoten Teil und gucke noch den dritten durch ... und sehe grad Kommentare. Also, ja, wegen der anderen tode, da bin ich auch mal gespannt. Wobei die Tode einer anderen Ebene entstammen, eine die vielleicht am Ende ans Licht tritt. Freut mich, wenn es dich unterhalten hat.

Servus @Friedrichard,
ja, man fragt sich ja irgendwann doch, wie viel von den Figuren da in einem selbst steckt und ob man sich nicht langsam mal selbsteinweisen sollte. Hastu schon recht. Einen zehnten Tod wird es nicht geben, aber einen Epilog schon. Weiß noch nicht genau, wie ich den nenne, obwohl seine Nennung schon jahrhundertealt ist. :D :sealed: Ebenso wie die Zahl "9" in dieser Serie. Eines nicht fernen Tages wird Friedel drauf kommen, aber nichts verraten, dessen bin ich mir sicher. Axo, Änderungen sind drin. Dangschä färs Kommentierä.

Tag @Bernhard,
ja, wenn du wüsstest, wie viel Sauce hier in der Palz pro Teller Spaghetti enthalten sein müssen, dann käme dir in den Sinn, den Freischwimmer für jede Nudel anzuordnen. Da blubbert es sich leicht in die Tomaten hinein. Also, ich kenne das nicht anders. Deswegen sagt der Pfälzer auf die Frage nach der Gesataltung der Speise NIE Fleisch, Kartoffeln, Sauce; er sagt immer Sauce, Fleisch, Kartoffeln. Aber ich werde noch mal überlegen, ob es auch anders geht. Insgesamt wirken jedoch erst alle tode zusammen ... so habe ich das zumindest angedacht. Ich bin mal gespannt. Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Und nun an alle:
Gesund bleiben und ein hoffnungsvolles neues Jahr.
Morphin

 

Hola @Morphin,

kaum hab ich Platz genommen, geht die Post ab:

Mit verwundertem Blick sitzt er auf einem der roten IKEA-Stühle und fühlt sich überraschend leicht, fast schwindelig. So wird sich Schwerelosigkeit anfühlen, vermutet er. Dieses Gefühl in irgendeinen Zusammenhang mit dem Tod zu bringen, kommt ihm nicht in den Sinn. Dann sackt er zusammen, landet mit der Stirn auf dem ausladenden weißen Porzellanteller und blubbert Luftbläschen in die Spaghettisauce.
Grande Rispetto! Saugut und bärenstark. Besser geht‘s nicht.

Stattdessen leckt er an der Spaghettisauce und ist zufrieden mit der Dosis an frischem Knoblauch.
Klarer Fall – er will leben!

Doch Bonatti ist nicht auf dieser Welt erschienen, um etwas Großes zu werden. Tatsächlich kommt es ihm nie in den Sinn, dass Menschen zu etwas Großem gemacht sein könnten. Man stolpert eben einfach hinein in das Leben …
Ah, das ist schon sehr, sehr gut. Du verwöhnst Deine Leser.

Nicht so Bonattis Familie.
Ich bin Kölner“, denkt er und sammelt mit der Zunge Tomatenstückchen auf.
Fabelhaft. Ich vermute, der Stand der Gestirne war optimal für diesen Text.

angelt sich eine Spaghetti
Raviolo – Ravioli / Spaghetto – Spaghetti

»Du musst lauter reden. Ich kann dich nicht verstehen.«
Ja, das ist Angelos Stimme. Bonatti will nicht, dass Angelo auszieht. Aber es muss sein. Es geht nicht mehr. Bonatti weint weiße Tränen auf ein kleines Kind, das mit Fieber in einem Bettchen liegt. Seine Hand auf dessen schmaler Stirn, ein tiefes Keuchen kriecht zwischen dünnen Lippen in Bonattis Ohren und gießt Säure aus Angst in das Weiß. Angst, denkt er, die Angst ist schwarz und endlos. Sie griff ein Leben lang nach seiner Kehle. Noch bis vorhin, als ich Spaghetti für uns beide kochte.
Beinahe albern, dass ich so viel zitiere, aber das ist so gut und auch ganz selten anzutreffen. Um so schreiben zu können, müsste ich wahrscheinlich etwas rauchen.

… als redete er gegen Eierschachteln an.
Schräg, aber lass es stehen! Wie viele ‚erste Einfälle‘ sind aus Hasenherzigkeit wieder gestrichen, weil der Leser vielleicht doch nicht …

… wehende Tücher, himmelsgroß, bewegt von der warmen Meeresbrise, die er so liebt. Einem Wind, der Wäsche auf den Leinen flattern lässt und den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
»Warum hast du eigentlich deinen Kopf auf dem Spaghetti-Teller?«
Ich weiß nicht“, denkt Bonatti, „habe ich das?“
Vom Erhabenen ins Banale – vorzüglich, mein Herr! Da bereitet das Lesen Freude.

Mach’s gut“, flüstert Bonattis Frau. Sie versinkt im Weiß, den kleinen Angelo auf dem Arm.
Wohin geht ihr? Ich habe gerade gekocht“, wird von jemand gemurmelt, der vielleicht mal Bonatti war.
Menschenskind, da ist Dir wirklich ein umwerfender Text gelungen, der ist genau nach meinem Geschmack. Und diese Klasse willst Du noch achtmal liefern? Da schlag ich die Hacken zusammen, das ist verdammt viel.

Beste Grüße & Möge die Serie gelingen!
José

 

Hallo @Morphin
Der erste Tod Bonattis kommt in der Tat unspektakulär daher. Einfach so, erwischt er den einsamen Bonatti, zwischen Kochen und Essen. Der erste Gedanke – Schlaganfall, wie er da so vornüberkippt, den Kopf in seiner eigenen Pasta mit lecker Knoblauchsauce parkt. Und da liegt er nun, sein Weltbild kippt um 90 Grad, was wohl auch die Gedanken verrutschen lässt. Neue Sinneseindrücke branden an das Ufer seines beschlagenen Verstands, die Umwelt wie durch Milchglas wahrnehmend, redet er mit sich selber über die beschissene Situation, Kind (der ist doch langsam erwachsen) immer noch zu Hause, macht aber keinen Handstreich, was er selber wohl auch nicht oft macht. So schätze ich ihn mal ein. So mit ausgebeulter Trainingshose, wirren Haaren, Feinripp-Unterhemd.
Interessanterweise scheint ihn sein neuer Zustand (noch) nicht gross zu beunruhigen, nein er verwendet die Kunstpause vom Leben um über eben dieses zu sinnieren. Über seinen Sohn, heute, wie damals, Familie, Kochkünste, Träume und Rückkehr zum Hier und jetzt, in dieser schmackhaften Pasta ruhend.
Sein Sohn muss ausziehen, so kann es nicht weitergehen. Diese Erkenntnis steht völlig diametral zum Auftritt seines Sohnes, nur an den Geräuschen erkennbar, keine Anstalten machend, dem Vater aus der Sauce zu helfen, im Gegenteil, es fliegt das Glas, der Sohn regt sich auf, und das Schicksal fährt mit Bonatti Schlitten.

Mit verwundertem Blick sitzt er auf einem der roten IKEA-Stühle und fühlt sich überraschend leicht, fast schwindelig. So wird sich Schwerelosigkeit anfühlen, vermutet er.
WW, aber keine Ahnung, wie man das vermeidet. Ist mir bloss aufgefallen

Der Tod lässt sich Zeit. Er versetzt Bonatti lediglich einen gnädigen Anfangshieb, kaum der Rede wert. Genug, um sich nicht mehr zu rühren, aber zu schwach, als dass der arme Bonatti den Sensenmann dahinter vermuten könnte.
Liesst sich, als würde der Tod sich nicht mehr rühren.
Ev.: Genug, um bewegungsunfähig zu werden, zu schwach, ...
(klingt auch sperrig – ach was, lass es so, habs bloss angemerkt, weil ich stolperte)

»Warum hast du eigentlich deinen Kopf auf dem Spaghetti-Teller?«
»Angelo«, sagt Bonatti, »das Weiß ist stärker als ich. Stärker als alle Liebe, die ich jemals für deine Mutter empfand und immer noch empfinde. Warum ist sie weg? Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Warum zum Teufel redest du in diese Spaghetti-Sauce? Hast du wieder gesoffen?«
Das sind so Schlüsselstellen, wo klar wird: Normalzustand bei Familie Bonatti, der Vater meist besoffen, kriegt nichts auf die Reihe, ausser vielleicht zwei Teller Pasta. Und die letzten Worte seines Sohnes lassen die Gedanken Bonattis kippen. Wie in einem schlechten Tripp kippt die Stimmung in seinem Hirn von heiter beschwingt auf abgrundtiefe Furcht vor diesem viel zu blendenden Weiss. Diese Erinnerung an früher, wo die Welt noch in Ordnung war, Bonatti mit Frau und dem kleinen Angelo ... so viel Liebe. Und jetzt soll Angelo ausziehen – oder nein, bitte bleib, habe es nicht so gemeint, oder doch? Dann hau endlich ab, wird langsam Zeit. Vertrackte Gefühlswelt eines kaputten Menschen.

Bonatti spürt einen Ruck. Etwas ist nun anders, aber er weiß nicht was. Der kleine Angelo spricht. „Seltsam“, denkt Bonatti, „er ist so klein, aber sein Kopf ist schon so groß, so erwachsen.“
»So auf dem Boden liegt es sich besser, nicht wahr? Mit dem Kopf in den Spaghetti. Das ist ja ekelhaft. Ich hab dich so satt!«
Wunderbar, wie die beiden verschiedenen Wahrnehmungen aufeinanderprallen, das ist alles so fein geschrieben. Ich bin der stumme Beobachter, der nur den Kopf schütteln kann. Angelo, der es viel zu lange ausgehalten hat, bei seinem, wahrscheinlich seit dem Tod der Mutter gebrochenen Vater.

»Der Witz des Tages. So satt … nach dem letzten Essen, das du für mich gekocht hast. Und dann liegst du drin … Scheiße. Ich gehe jetzt. Mach’s gut.«
Das ist so schön mehrdeutig, satt vom Essen oder doch Nase voll. Das letzte Essen, das er gekocht hat, für immer? Und schon wieder hats Vater verkackt.
Hm, Resignation und verkennen der ernsten Situation? Da bin ich mir zum Ende hin unschlüssig, ob der Sohn den Unterschied zwischen Schlaganfall und alkoholisiertem Zusammenbruch nicht erkennt, oder ob tatsächlich ICH falsch liege und Bonatti doch besoffen umgekippt ist. Was ich aber so nicht aus seinen Wahrnehmungen herauslese. Grübel, grübel.

Aus dem Weiß der Insel wird Licht. Bonatti hat sich getäuscht. Es war keine Insel.
Aus den Erinnerungen, als die Welt noch heil und die Familie noch komplett, griechische Insel, wird erneut das einnehmende Weiss, ein zentrales Element in deiner Erzählung. Sehr schön.

Sehr dicht erzählt, feine Sache, Morphin, ganz gut gemacht.

Ich frage mich, ob Bonatti aufwachen darf, also das nur ein "kleiner" Tod war, kurzes Delirium und morgen dann Kater, worauf es weiter geht, halt ganz alleine, ohne Angelo.
Oder ist für Bonatti hier wirklich Ende Fahnenstange und die anderen acht Tode beleuchten dann eine andere Zeit in Bonattis Leben? Ich werde es erfahren und freue mich schon auf die nächsten Teile.

Sehr gerne gelesen,
Gruss dot

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Morphin, berührend, packend und "schmeckt" nach mehr! Ich freue mich schon darauf die nächsten Teile zu lesen.

Herzliche Grüsse,
Schwerhörig

 

Salü @dotslash,
so, hab ich ganz übersehen. Entschuldigung. Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren und Vorschlagen. Hab das mit der Schwerelosigkeit geändert. Hm, ja, Bonatti, man weiß noch nicht genau, was man von ihm halten soll. Ein armer Tropf? Ich bin mal gespannt. Es ist immer wieder interessant, wie dein Hirn, also meins, nichts deins, die einzelnen Geschichten hin und her werkelt, quetscht, drückt, wie Knetmasse oder eine gute Sauce, die man lieber noch mal einreduziert, um ein Maximum an Geschmack herauszuholen. Da gehen einige Kannen Fencheltee drauf.

Tach @Schwerhörig,
vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ehrlich gesagt: Ich freue mich auch, die nächsten Teile zu lesen.

Bis bald und gesund bleiben alle.
Morphin

 

@josefelipe ... :sconf:
Huch? Hab ich dich vergessen? Ohje, Überblick verloren. :Pfeif: Seltsam, ich hab ja sogar die paar Sachen geändert, die du anmerktest. Hier: ein Urbock aus Friedels Keller.

Ich freue mich, wenn es dir gefällt. Und ich bin auch gespannt, wann erste Tipps kommen, um was es geht ... oder was die Basis ist.

Morgen geht es weiter mit Teil 6. Und doch liegt Bonatti schon wieder hinter mir. Seltsam. Ich habe die nächste im Kopf, aus der Erinnerung. Und dann träumte ich heute Nacht, dass jammerlappige Vampire Transsylvanien verlassen wollen, aber ich als EU-Beamter sie wieder nach Rumänien zurückschicken werde, weil sie ziemlich anfällig gegen Corona sind und in ihren Körpern mehr Mutationen entstehen.

Du siehst, viel im Kopf. Und da bist du mir durchgeflutscht. Entschuldigung.

Griasle
Morphin

 

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