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- Anmerkungen zum Text
Die neun Tode des Raffaele Bonatti [1]
Der erste Tod
Als Bonatti sich seinem ersten Tod nähert, ist es etwas ordinär Langweiliges. In Bonattis Küche. Mit verwundertem Blick sitzt er auf einem der roten IKEA-Stühle und fühlt sich überraschend leicht, fast schwindelig. So muss das mit der Schwerelosigkeit sein, vermutet er. Dieses Gefühl in irgendeinen Zusammenhang mit dem Tod zu bringen, kommt ihm nicht in den Sinn. Dann sackt er zusammen, landet mit der Stirn auf dem ausladenden weißen Porzellanteller und blubbert Luftbläschen in die Spaghettisauce. Der Tod lässt sich Zeit. Er versetzt Bonatti lediglich einen gnädigen Anfangshieb, kaum der Rede wert. Genug, um sich nicht mehr zu rühren, aber zu schwach, als dass der arme Bonatti den Sensenmann dahinter vermuten könnte. Stattdessen leckt er an der Spaghettisauce und ist zufrieden mit der Dosis an frischem Knoblauch.
„Bald wird mein Sohn zum Essen kommen, schließlich habe ich ihn schon vor zehn Minuten gerufen“, mutmaßt Bonatti und stellt sich vor, wie sehr seinem Sohn die unvergleichlich schmackhafte Sauce munden wird. Bonatti ist ein exzellenter Koch. Aus ihm hätte etwas werden können in den Gourmettempeln dieser Welt. Doch Bonatti ist nicht auf dieser Welt erschienen, um etwas Großes zu werden. Tatsächlich kommt es ihm nie in den Sinn, dass Menschen zu etwas Großem gemacht sein könnten. Man stolpert eben einfach hinein in das Leben – in ein armes oder eben ein solches von weithin sichtbarer Größe. Bonatti glaubt an die Familie. Und es gibt bestimmt viele großartige Familien. Reich, berühmt und voller Wille zur Veränderung alles Irdischen. Nicht so Bonattis Familie.
„Ich bin Kölner“, denkt er und sammelt mit der Zunge Tomatenstückchen auf. „Nur mein Opa war Italiener. Aus Kalabrien. Daher meine Liebe zum Kochen.“
In Bonattis Kopf taucht eine Insel auf. Bestehend aus dem reinsten Weiß, dem er jemals begegnet ist.
„Es wird Zeit, dass mein Sohn auszieht“, überlegt Bonatti und starrt auf das grelle Weiß in sich. „Seit er diesen vermaledeiten Computer besitzt, schert er sich nicht mehr um das, was ich koche oder sage oder mir von ihm erbitte! Abfall runtertragen! Geschirr spülen! Zimmer saugen! Nichts von alldem passiert. Er ist erwachsen, verdammt noch mal!“
Erstaunt bemerkt Bonatti, dass er diese Worte in der Tat hören kann, als spräche sie jemand neben ihm aus. Die weiße Insel taucht die Lautstärke in eine Melange aus dumpfen Tönen, aber zu verstehen sind sie allemal laut und deutlich.
»Es wird Zeit, dass ich ausziehe.«
Bonatti angelt sich eine Spaghetto mit der Zunge und saugt sie ein. Köstliche Sauce verteilt sich in feinen Tropfen auf seinem Gesicht. Wer hat das gesagt? Ist Angelo endlich zum Essen gekommen?
»Angelo? Bist du das? Ich hab dich gar nicht kommen hören«, flüstert Bonatti.
Besteck klappert hinter seinem Kopf. In ein Glas wird eine Flüssigkeit eingeschenkt. „Warum sehe ich nur die Küchenuhr an der Wand?“, fragt er sich.
»Angelo?«
»Du musst lauter reden. Ich kann dich nicht verstehen.«
Ja, das ist Angelos Stimme. Bonatti will nicht, dass Angelo auszieht. Aber es muss sein. Es geht nicht mehr. Bonatti weint weiße Tränen auf ein kleines Kind, das mit Fieber in einem Bettchen liegt. Seine Hand auf dessen schmaler Stirn, ein tiefes Keuchen kriecht zwischen dünnen Lippen in Bonattis Ohren und gießt Säure aus Angst in das Weiß. Angst, denkt er, die Angst ist schwarz und endlos. Sie griff ein Leben lang nach seiner Kehle. Noch bis vorhin, als ich Spaghetti für uns beide kochte. Aber das Weiß gewinnt.
»Da ist eine Insel, so weiß wie damals in Griechenland«, hört sich Bonatti sagen. »Erinnerst du dich noch an unseren Urlaub? Das ist schon lange her. Nach dem Tod von Mama … Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Red lauter.«
»Ich rede doch laut«, sagt Bonatti. »So, wie immer, Angelo. Hörst du? Du musst ausziehen. Glaub nicht, dass mir das nicht weh tut. Gott weiß, wie sehr ich dich liebe. Du bist mein Sohn!«
Aber die Worte fallen wie tot aus seinem Mund, als redete er gegen Eierschachteln an. Es ist still. Bonatti blickt auf wehende Tücher, himmelgroß, bewegt von der warmen Meeresbrise, die er so liebt. Einem Wind, der Wäsche auf den Leinen flattern lässt und den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubert.
»Warum hast du eigentlich deinen Kopf auf dem Spaghetti-Teller?«
„Ich weiß nicht“, denkt Bonatti, „habe ich das?“
»Schmeckt es dir, Angelo? Es ist deine Lieblingssauce.«
»Ich werde ausziehen. Morgen.«
Bonatti lauscht dem Klang dieser Worte. Sie verlieren sich nur langsam zwischen den wehenden Tüchern.
»Angelo«, sagt Bonatti, »das Weiß ist stärker als ich. Stärker als alle Liebe, die ich jemals für deine Mutter empfand und immer noch empfinde. Warum ist sie weg? Ich kann mich nicht mehr erinnern.«
»Warum zum Teufel redest du in diese Spaghetti-Sauce? Hast du wieder gesoffen?«
Bonatti spürt einen Luftzug über seiner Wange und sieht ein Glas an der Wand gegenüber zerschellen. Die Scherben stehen plötzlich im Raum und bewegen sich nur noch in Zeitlupe. Das Weiß erreicht Bonattis Augen und dringt herein wie Wasser in einen lecken Schiffsrumpf.
»Angelo? Ich kann nichts mehr sehen … Angelo?«
»Scheiße«, sagt Angelo. »Kann es sein, dass du verreckst?«
»Nein, nein, bestimmt nicht. Ich schlafe nur und träume von dieser Insel.«
»Du redest mehr als in den letzten zehn Jahren zusammengenommen. Hab mal gelesen, dass man vor dem Tod wie ein Waschweib labert.«
Eine tiefe Furcht packt Bonatti. Wie eine Gottesanbeterin die kleine Grille. Schnell und zielsicher. Die Furcht beginnt genüsslich zu fressen und das Weiß verschlingt Bonattis Füße.
»Angelo …«
»Red lauter!«
Es wird ein Stuhl über den Boden geschoben. Ein Teller klappert in der Spüle, Besteck hinterher.
»Bist du das, Angelo?«
Bonatti meint, das gerade gesagt zu haben, aber er weiß es nicht genau, denn offenbar ist da kein Mund mehr, keine Lippen und es hörte sich an, als wäre der Satz weit draußen auf dem Meer gesprochen worden. Dann sieht er seine Frau zwischen den weißen Flächen hervorkommen. Wie eine Büste Michelangelos, die sich durch die wehenden Tücher bewegt. Sie hat ihn auf dem Arm. Angelo. Das Wunder, das Bonatti so abgöttisch liebt. Immer noch.
Bonatti spürt einen Ruck. Etwas ist nun anders, aber er weiß nicht was. Der kleine Angelo spricht. „Seltsam“, denkt Bonatti, „er ist so klein, aber sein Kopf ist schon so groß, so erwachsen.“
»So auf dem Boden liegt es sich besser, nicht wahr? Mit dem Kopf in den Spaghetti. Das ist ja ekelhaft. Ich hab dich so satt!«
Angelo lacht. Oder?
»Der Witz des Tages. So satt … nach dem letzten Essen, das du für mich gekocht hast. Und dann liegst du drin … Scheiße. Ich gehe jetzt. Mach’s gut.«
„Mach’s gut“, flüstert Bonattis Frau. Sie versinkt im Weiß, den kleinen Angelo auf dem Arm.
„Wohin geht ihr? Ich habe gerade gekocht“, wird von jemand gemurmelt, der vielleicht mal Bonatti war. Aber dann ist Stille. Sogar die Gedanken sind weg. Aus dem Weiß der Insel wird Licht. Bonatti hat sich getäuscht. Es war keine Insel.
Angelo steht im Türrahmen und blickt zum letzten Mal auf die Sauerei in der Küche. Er fühlt das Fremde in diesen Räumen, die Starre auf jedem Stuhl, an jedem Tisch, hinter den Spiegeln im Bad, auf jeder Türklinke. Vorsichtig schließt er die Augen und in ihm brennt eine alles zermahlende Finsternis. Er dreht sich in den Flur, nimmt den Schlüssel und geht.