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Serie Die neun Tode des Raffaele Bonatti [2]

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10.02.2000
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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [2]

Der zweite Tod

Wenn er am Bahnsteig steht und auf die Straßenbahn wartet, hört er immer Vivaldi und lässt Vergangenes an seinen geschlossenen Augen vorüberziehen. In diesem Moment kommt Bonattis zweiter Tod und nimmt ihn an die Hand. Wie eine Mutter ihr Kind am Fußgängerüberweg. Doch Bonatti zieht in einem Reflex die Hand zurück und öffnet seine Augen. Er schaut nach rechts und entdeckt ein Mädchen, das ihn anlächelt. Bonatti stutzt.
»Hast du gerade …«
Es nickt und er sieht sich nervös um. Nur Menschen. Wie immer. Viele davon sieht er täglich. Schichtende bei Ford in Niehl und große Teile der Belegschaft warten zusammen mit ihm am Haltepunkt Fordwerke Mitte auf die Bahn. Es ist kurz nach zwanzig Uhr. Die Hand greift erneut nach ihm. Umschließt seine Finger. Die Haut ist kühl und zart, das Greifen so vorsichtig. In Bonattis Kopf entsteht das Bild einer göttlichen Hand, die das umschließt, was mit purer Gewalt an ihm wächst, und er empfindet ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Unterleib. Bonatti hat einen Steifen, schließt erneut die Augen, um nicht zu sehen, was so penetrant auf ihn einstürmt. Dieses Mädchen. Wie ein goldenroter Apfel an einem prächtigen Baum. So reif und fest. Ich muss dieses Mädchen anschauen, denkt er und öffnet die Lider. Da sieht er es direkt vor sich, seinen Scheitel mit den links und rechts sanft fallenden Haaren unter seiner Nase. Er zieht dessen bittersüßen Mandelduft in sich hinein, als wäre es sein allerletzter Atemzug und spürt augenblicklich Furcht heranrollen, die sogleich in all seine Glieder fährt, jeden Muskel spannt. Es klingelt zwei Mal. Die Bahn. Bonatti stößt das Mädchen von sich, die wenigen Zentimeter bis zur Bahnsteigkante. Mit aller Kraft. Doch es steht wie ein Baum und sein Stoß drückt ihn mit aller Macht rückwärts, gegen einen Mann, der in Bonattis Kleiderschrank nur wenig Platz fände. Ein heftiger Schlag folgt und Bonatti sieht sich an diesem Mandelmädchen vorbeifliegen. Auf die Gleise. Es klingelt endlos und dann ist da ein Kreischen. Etwas trifft Bonatti.

Der Mandelduft ist nicht verflogen.
»Öffne deine Augen, Bonatti«, sagt eine bezaubernde Stimme.
Bonatti tut ihr den Gefallen und sieht über sich ein schwarzes Ungetüm. Bestehend aus Kabeln, Schläuchen und Stahl.
»Ich höre Schreie«, wundert sich Bonatti, »aber so weit entfernt … was ist da los?«
»Nichts«, antwortet die Stimme, »die Menschen haben Angst und sind entsetzt. Sie wissen nicht, was sie tun sollen.«
»Wer bist du? Warum kann ich dich nicht sehen?«
»Sieh nach rechts.«
Bonatti dreht seinen Kopf. Das schwarze Stahlungetüm verblasst langsam und weicht einem weißen Licht. Langsam schälen sich die Umrisse des Mädchens daraus hervor. Ihr Kopf auf den gefalteten Händen liegend. Bonatti staunt.
»Wie schön du bist. Niemals habe ich so eine Schönheit gesehen.«
»Du hast die Schönheit sehr oft gesehen, Bonatti, aber du konntest sie nicht ertragen.«
Bonatti möchte nach ihr greifen. Aber da ist nichts, mit was er greifen kann.
»Ich habe keinen Arm?«
»Und keine Beine.«
»Aber …«
»Du wirst sterben.«
Bonatti schweigt und genießt das weiße Licht. Es ist so warm. Als läge er auf dem Rücken im Toten Meer, in den tiefblauen Himmel starrend, an die Schönheit denkend, die er in der Nacht zuvor mit all dem Hass so tief verletzte, dass sie unter ihm starb.
»Warum musste sie sterben?«, hört er das Mandelmädchen fragen.
»Weil sie so schön war.«
»Du hasst alles Schöne?«
Bonatti sieht sie an und riecht. Mandeln, bitter und süß, Vergängliches neben dem Neuerschaffenen.
»Nein, ich hasse es nicht. Es hasst mich. Ich verehre das Schöne.«
Das Mandelmädchen zieht eine Hand unter dem Kopf hervor und legt sie Bonatti auf die Wange. Eine sanfte Kühle, wie abendlicher Wind über schließenden Blüten.
»Ist es das, was du vermisst hast?«
»Was?«
»Eine Hand auf deiner Wange. Den warmen Wind um deine karge Existenz.«
Bonatti sieht mit einem Mal all die roten Inseln im wachsenden Weiß. Sein Blick wird ein anderer, ein saugender, heftet sich an das Mandelmädchen. Erst jetzt fallen ihm Details auf. Sommersprossen links und rechts der Nase, die mit geradem Rücken zwischen exakt gezeichneten Augenbrauen endet. Große Haselnuss-Augen wie Saturn in seinen Ringen. Da ist es wieder, das schmerzhafte Ziehen.

»Ich will dich«, sagt er.
»Du hast mich schon«, flüstert sie und lächelt.
»Wie sich deine Lippen kräuseln, wenn du lächelst. Das ist wie ein Schnitt in tiefrotes Fleisch. Als öffnete sich der Schlund der Hölle.«
»So hast du getötet, nicht wahr, Bonatti?«
Er denkt nach.
»Ja, so habe ich getötet. Das Ziehen meines Unterleibes in den tiefroten Schlund gestoßen und das Kräuseln der Münder beobachtet.«
»Nun bist du hier.«
»Ja. Aber wo?«
Das Mandelmädchen legt ihre Hand auf Bonattis Brust.
»Siehst du das Weiß? Wie es wächst?«
»Ja. Ich kenne das Weiß. Das habe ich schon einmal geträumt.«
Bonatti denkt an seinen Sohn. An den Namen seiner Frau, ihr Gesicht hat er schon lange vergessen. Ihm kommt ein Gedanke.
»Sehe ich etwa meine Frau wieder?«
»Nein, Bonatti. Du wirst alleine sein.«
»Das war ich schon immer.«
»Nein. Du warst nie alleine. Die Finsternis in dir hat dich das glauben lassen«, sagt das Mandelmädchen.
Bonatti spürt das Weiß in seinen Kopf eindringen. Darin rote Inseln, wie Brandwunden im Fleisch der Schönheiten. Dann rollt das Ziehen vom Unterleib in seinen Kopf und wird glühende Wut.
»Wenn ich könnte, würde ich dich töten«, presst Bonatti hervor, »dir deinen wundervollen, fleischigen Mund stopfen mit meinem Pfahl der Verehrung. Deine Schönheit aus deiner Haut kratzen, aus deiner Seele.«
Bonatti kommen die Tränen. Das Weiß ist da und alles Schwarze ist verblichen.
»Ja, das würdest du, Bonatti. Ich lasse dich nun allein.«

Die Menschen auf dem Bahnsteig wenden sich entsetzt ab. Für einen langen Moment steht die Zeit.

 

Hallo Morphin
Erst Mal gefällt mir die Idee der neun Tode sehr gut und wie du Schritt für Schritt die Facetten von Raffael Bonatti enthüllst.
Diese Geschichte wirkt etwas weniger tief, so kann ich seine Leidenschaft weniger stark mitfühlen. Vielleicht fällt dir ja noch etwas ein, wie du die Gefühle stärker reinbringen kannst. Etwas unsicher bin ich mit der Tatsache, dass er vermutlich Hände und Beine verloren hat, weil:

»Ich habe keinen Arm?«
»Und keine Beine.«
Sie sehen Bonatti in Einzelteilen auf den Gleisen liegen, seinen Korpus unter der Bahn.
Einmal denke ich, dass - angenommen, die Bahn hätte ihm Beine und Arme abgetrennt, diese nicht davor liegen, sondern daneben und schwer einsehbar, weil 2 Teile ja auf der anderen Seite hätten sein müssen und 2 im Spalt zwischen Bahn und Bahnsteig, der ja nicht groß ist und den Torso könnten sie sowieso nicht sehen -> so wie du es beschrieben hast, sieht es eher so aus, als wären Teile von ihm nach vorne vor die U-Bahn geschleudert worden, dort könnte sie jemand sehen -> jedenfalls eine unschöne Sache und ich denke, du solltest hier nochmals in dich gehen wegen der passenden Perspektive und überhaupt, sollte das natürlich nicht die Hauptsache sein, sondern der Dialog mit dem Mädchen- Die Idee, das der Tot als vollendete Schönheit daherkommt finde ich übrigens toll.

Das hier wirkt unrund: Einmal gehört vermutlich Vergangenheit, weil er sich ja in der Vergangenheit ereignet hat und dann verstehe ich hier die Metapher nicht - Nadeln (Schmerz) und dann Zigarettenstummeln (Schmutz)

Darin die roten Inseln, wie Nadeln in seinem Fleisch, im Fleisch der Schönheiten, die ausgetretenen Zigarettenstummeln gleich auf Bonattis Weg liegen

Das finde ich ebenfalls nicht so gut: Vulkan, gleich Ausbruch, aber nicht rot sondern gelb und ich denke, hier gäbe es ein besseres Bild:
Als öffne sich der Krater eines Vulkans.«
Hier würde er den Namen seiner Frau erwähnen:
»Sehe ich meine Frau wieder?«

lg
Bernhard

 

Hi @Bernhard,
hab dies und das noch abgeändert, noch mal ein wenig kompakter, von deinen Vorschlägen ausgehend. Das mit der Frau ist deshalb so, weil sie sich wieder nähert. Aber es ist noch ein Wort dazugekommen, was es andeutet. Meinen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Sodele @Rob F,
noch ein wenig verändert. Wie bei Bernhard etwas kompakter. Aber wie bei Bernhards Frage nach dem name der Frau, ist Niehl und das Drumherum dort ein Baustein, deswegen ist es exakt verortet. Besten Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Allen einen guten ersten Restsonntag in diesem neuen Jahr. Mit fällt grad ein, nächstes Jahr ist ja 2022 ...

Griasle
Morphin

 

Hat Bonatti überhaupt Freunde?, oder hab ich was nicht mitgekriegt. Aber bei neun Toden sollte doch eine Freundschaft nebst Vertrauen mit Gevatter wachsen,

böser Morphin.

Richtig gespannt bin ich auf den Gifttod – ob genüsslich durch eine Frau oder das eigenzubereitete Essen, aber bis dahin haben wir jetzt ein grammatisches Problem mit „dem Mädchen“. Ich breit’s mal aus

Dieses Mädchen. ... Ich muss dieses Mädchen anschauen, denkt er und öffnet die Lider. Da sieht er es direkt vor sich, ihren* Scheitel mit den links und rechts sanft fallenden Haaren unter seiner Nase. Er zieht ihren* bittersüßen Mandelduft in sich hinein, als wäre es sein allerletzter AtemzugKOMMA und spürt augenblicklich Furcht heranrollen, die sogleich in all seine Glieder fährt, jeden Muskel spannt. Es klingelt zwei Mal. Die Bahn. Bonatti stößt das Mädchen von sich, die wenigen Zentimeter bis zur Bahnsteigkante. Mit aller Kraft. Doch es steht wie ein Baum und sein Stoß drückt ihn mit aller Macht rückwärts, …
*korrekt: das Mädchen, sein Scheitel, sein Duft -
zur Vermeidung der Verwechselung mit „seiner Nase“ statt des Possessivpronomens biete sich an der besitzanzeigenden Artikel, der Genitiv „dessen“
das
Komma, weil der vergleichende Nebensatz (als wäre …) zu Ende ist; die Konjunktion und setzt den Hauptsatz („er zieht …“) fort

Sonstiges

In Bonattis Kopf entsteht das Bild einer göttlichen Hand, die das umschließt, was mit purer Gewalt an ihm wächstKOMMA und er empfindet ein schmerzhaftes Ziehen in seinem Unterleib.

»Wie sich deine Lippen kräuseln, wenn du lächelst. Das ist wie ein Schnitt in tiefrotes Fleisch. Als öffne sich der Schlund der Hölle.«
Konjunktiv irrealis! - „als öffnete sich ...“

So - Abendbrot hält Wagen rot

Tschüss und bis bald

Friedel

 

Sodele @Friedrichard,

du hast recht. Und ich merke, wie ich durcheinander komme ... so langsam. Zu viele Baustellen, mir purzeln die Worte durcheinander. Aber das Zeug muss raus aus dem Kopf. Grad schreibe ich an vier Sachen gleichzeitig. Gut, dass es hier zur Korrektur liegt. Danke.

Aber Gifttod? Hm, nein, den gibt es nicht. Ich sehe, es arbeitet in dir. Das Ding liegt eigentlich schon lange auf der Platte, als Roman, aber ich war unzufrieden und habe das meiste terminiert. So gefällt es mir besser. Als neun kurze Geschichten plus Epilog.

Was könnte ich für einen Tipp geben? Sie gehen durch ein Tor ...

Griasle
Morphin

 

Aber Gifttod? Hm, nein, den gibt es nicht. ....

Was könnte ich für einen Tipp geben? Sie gehen durch ein Tor ...

Wie Gerüche uns’rer Küche unter Türen, die verschlossen, unverdrossen sich verlieren,
Nasen schmeicheln, Gaumen streicheln, somit Kopf und Bauch erweichen -
so die Würze uns’rer Fürze unter Türen, die verschlossen, unverdrossen sich verlieren,
Riecher plagen, Mägen schlagen - bräunen schnelle Hemd & Kragen - nehmen Ohren,
was verloren durch geschloss’ne Tür’ dem Toren sich verirret, flüsternd schwirret und wir verschwommen als nicht mal halbe Wahrheit mitbekommen, doch erhaschet ists vernommen
und so auf die Welt gekommen! Weiter plappern, weitergeben, Zähne klappernd - Überleben …
aus: Ela

Moin & Tschüss

 

Hallo @Morphin, mir hat Bonatti's erster Tot etwas besser gefallen als sein zweiter, weil mir seinen Leidenschaft wohl abstoßt ... böse Bonatti!
Dafür darf er von mir aus tatsächlich 9 Mal sterben ;).

Herzliche Grüße,
Schwerhörig

 

Hi @Schwerhörig,

nimm ein anderes Wort für Leidenschaft, dann kommst du allmählich auf die richtige Fährte. Wir sind gespannt, was noch alles passiert. Dangschee fürs Lesen und Kommentieren.

Griasle
Morphin

 

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