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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [3]
Der dritte Tod
Bonatti sitzt und blickt auf all das Essen. Entenbrüste, Hähnchenkeulen, Filets von Rind, Schwein und Schaf. Rehrücken und Wildspieße, Schinken aus aller Herren Länder, dazwischen gedämpfte Kartoffeln, geröstetes Gemüse, umrahmt von ziselierten Obstschalen, duftender Käse unter schimmernden Trauben nebst Ananasscheiben und zwischen allem eine große Schüssel Erdbeerbowle. Bonatti schmatzt, pickt sich eine weitere Roastbeefscheibe und steckt sie in den Mund. Er ist glücklich und rülpst wie ein röhrender Hirsch in der Brunft. Als Bonatti tief ein- und ausatmet, spürt er ein Ziehen im Nacken. Er hebt seinen Kopf und von der Decke senkt sich milchiges Weiß auf ihn herab, das alle Düfte aus Bonattis Nase raubt und ein Nichts hinterlässt. Das Ziehen wird zu einem glühenden Pfad, der sich einen Weg durch seinen Körper bahnt. Langsam rutscht Bonatti vom Stuhl unter das lange, holzgetäfelte Bankett. Seine Hose ist zum Platzen gedehnt, der Gürtel im letzten Loch. Bonattis dritter Tod kommt durch die Flügeltür und sieht ihn auf dem Boden liegen, die Beine leicht angewinkelt.
»Bonatti!«, ruft er. »Du fette Sau!«
Er geht auf das Bankett zu, hebt Bonatti hoch, als gäbe es in diesem Universum weder Masse noch Gewicht, schiebt mit ihm achtlos die kulinarischen Köstlichkeiten beiseite und legt ihn ab.
»Du bist einfach zu fett, Bonatti. Wäre ich nicht der, der ich bin, bräuchte es vier Mann, um dich hochzuheben. Hast du mal daran gedacht? An die Bandscheiben dieser armen Kreaturen?«
Bonatti stöhnt.
»Was?«, fragt er. »Leck mich doch am Arsch.«
»Du bist und bleibst ein Mann der Obszönitäten.«
»Na, und wer sind Sie? Der große Zampano? Ich kenne Sie nicht. Also helfen Sie mir auf. Ich will noch was essen und trinken.«
»Es ist aber noch niemand da, Bonatti. Du bist zu früh.«
Mit unbeholfenen Bewegungen versucht sich Bonatti hochzustemmen. Er greift in die Schinkenplatte, stützt sich ab, ist jedoch zu schwach und sinkt wieder zurück, nicht ohne einige Scheiben vom Prosciutto San Daniele zu greifen und sich in den Mund zu stopfen. Er schmatzt genüsslich.
»Aus dem Friaul«, belehrt er den Mann und blickt kauend zur Decke. »Warum ist die Decke so weiß? Sie wird immer größer. Und dieser Schmerz …«
Bonatti verzieht das Gesicht und dreht den Kopf.
»Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Sie sind aber fein angezogen.«
»Das ist meine Art.«
»Aha«, bringt Bonatti noch heraus, dann übergibt er sich in den Tomaten-Mozzarella-Salat, hustet die letzten Brocken heraus und keucht wie ein gestrandetes Walross.
»Mir ist kotzschlecht. Ich weiß gar nicht, warum? Der gute Schinken …«
»Dir ist schlecht, weil du einen Herzinfarkt hast.«
»Herzinfarkt? Sind Sie Arzt, oder was? Dann helfen Sie mir doch!«
»Nein, Bonatti, ich bin kein Arzt. Aber ich habe schon viele wie dich gesehen.«, erwidert der Mann und streicht sich eine kleine Fluse von der Schulter.
»Dann holen Sie jedenfalls Hilfe. Bald kommen die Kollegen vom Betriebsrat, die …«, Bonatti stutzt, »… Sie sind nicht vom Betriebsrat. Ich werde jetzt aufstehen und die Polizei rufen!«
Er stemmt sich erneut hoch, auf die Ellenbogen, versucht ein Bein zu heben und über die Kante des Banketts zu schwingen. Die Platte mit den Hähnchenkeulen fällt auf den Boden.
»Scheiße … «, flucht Bonatti und ein zweiter mächtiger Schmerz presst ihn zurück. Reflexartig greift er mit der Hand an seine Brust und klammert sich an das stark gespannte Hemd. Zwei Knöpfe reißen ab und Bonattis behaarter Oberbauch quillt hervor.
»Du bist zu fett, Bonatti. Und das schon seit langer Zeit.«
»Ach nee, du Klugscheißer! Lass mich hochkommen, dann werden wir sehen, ob du eine fette Gerade abkannst!«
»Obszönitäten, Drohungen, dich vollfressen, das kannst du, Bonatti. Zu mehr hat es nicht gereicht …«
Bonatti greift nach rechts, packt irgendetwas Erreichbares, egal was, und schleudert es dem Mann entgegen. Der duckt sich weg, kommt milde lächelnd wieder hoch.
»Das gefällt mir an dir, Bonatti. Keine Einsicht. Stur bis zum Jüngsten Gericht.«
Bonatti stöhnt. Jetzt fühlt er deutlich das krampfende Pochen in seinem Inneren.
»Sieh auf die Wände, du armer Kerl. Siehst du das Weiß näher kommen? Es rückt an dich heran und wird in dich eindringen, wie all die Pizzen, die Schinken, Schweinefilets, die Zwiebelspieße, Klöße, all der Ramazotti, Rotwein und Spumante …«
Bonatti röchelt. Der Mann nimmt einen Hähnchenschlegel vom Boden, beißt hinein und genießt jede Kaubewegung. Für einen Moment schließt er die Augen, kaut noch langsamer und legt Bonatti den angebissenen Schlegel auf die behaarte Brust.
»Niemand wird kommen, Bonatti. Solange ich hier bin, wird niemand kommen. Nur das Weiß. Es wird dich bald umschließen und Licht werden.«
Bonatti krächzt, hebt mühevoll eine Hand, einen Finger, gibt kraftlos auf.
»Siehst du? Du kannst nur noch zuhören. Das gefällt mir. Denkst du manchmal an deine Frau? Als ich sie holen musste – und das fiel mir nicht leicht, das kannst du mir glauben – bat sie mich darum, es schnell zu tun. Aber ich war zum Warten verdammt …«
Das Gesicht des Mannes rückt näher an das Bankett, näher an Bonattis Kopf. Dazwischen nur noch der mit Bonattis Erbrochenem belegte Tomaten-Mozzarella-Salat.
»… zum Warten verdammt. Ja, das war auch für mich nicht schön. Denn ich hatte sie gern, deine Frau. Du hast ihr buchstäblich die Seele aus dem Leib gefressen. Du hast überall gefressen. Nicht wahr? Egal wo. Rücksichtslos. Bonatti …«
Durch Bonattis Körper läuft ein Zittern und Zucken.
»Möchtest du noch ein wenig vom Wildschweinbraten? Oder von der Entenbrust? Moment …«
Der Mann erhebt sich, sammelt von jeder Köstlichkeit kleine Happen ein und drapiert sie vorsichtig auf Bonattis Körper.
»Vom spanischen Senf etwas auf deine Eier, oder, Bonatti? Eier in Senf. Köstlich. Die Ente auf deine fette, behaarte Brust. Das passt. Und Wildschwein auf die Stirn. Ananasscheiben an die Ohren … das gefällt mir.«
Bonatti kommen die Tränen.
»Tränen? Bonatti? Du weinst? Weintest du nicht immer, wenn andere vor dir den Teller leer hatten? Und schon wieder auf dem Weg zum Buffet waren? Für was Tränen? Moment …«, sagt der Mann und schnippt mit den Fingern, »etwas für den persönlichen Stil.«
Er nimmt zwei frittierte Kartoffelsticks und steckt sie in Bonattis Mund.
»Hat was von einem Walross«, sagt er und nickt anerkennend. Bonatti versucht sie auszuspucken, aber es gelingt ihm nicht. Der Mann lacht.
»Dich als Mensch zu bezeichnen, Bonatti, ist eine Beleidigung für die meisten anderen Menschen.« Der Mann wiegt seinen Kopf hin und her. »Na gut, es gibt wesentlich schlimmere als dich.«
Bonatti hört nichts mehr. Er sieht ein Stück vom Wildschwein über das rechte Auge lugen und möchte hineinbeißen, dann drückt sich das Weiß in seinen Körper und wird zu Licht.
Die erste Person vom Betriebsrat, die den Sitzungsraum betritt, ist Frau Thönnes. Eine Platte mit Käsekuchen vor sich her tragend, sieht sie Bonatti und der Kuchen fällt. Frau Thönnes denkt unwillkürlich an ein Walross. Inmitten eines Meeres aus Köstlichkeiten aller Herren Länder. Sie schreit.