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Serie Die neun Tode des Raffaele Bonatti [5]

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10.02.2000
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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [5]

Der fünfte Tod

Bonatti beobachtet, wie Argenti aufsteht und Richtung Toilette verschwindet. Er wartet einen Moment, dann erhebt er sich ebenfalls.
»Ich muss mal pissen«, sagt er zu niemand am Tisch, denn es wird ihn niemand hören. Die Flaschen sind schon viel zu leer und das Gebrülle ist groß. Männer in Latzhosen, blauen Arbeitskitteln; manche haben ihren Kopf schon auf den zusammengestellten Tischen abgelegt. Bonatti ist froh drum und geht zur Toilette, die hinter dem großen Frachtaufzug liegt. Es ist dunkel in der Fertigungshalle und je weiter er sich von der Weihnachtsfeier der Karosseriegruppe IV entfernt, desto stiller wird es.

Vor der Toilette angekommen, bleibt er stehen und zählt bis drei, öffnet dann die Tür und tritt in den halbdunklen Raum. Die Neonröhren im Vorraum sind immer noch kaputt. Eine Angelegenheit für den Betriebsrat, denkt er und geht ums Eck in den Bereich mit den Urinalen. Argenti steht dort vor dem rechten Becken, in der Hüfte schon etwas eingeknickt. Mit der Stirn an die Wand gelehnt, singt er ein altes, kalabrisches Volkslied. Kaum ein Tropfen trifft. Das Meiste landet auf den gebrochenen Fliesen, läuft an Argentis Hosenbeinen hinab. Bonatti genießt den Anblick. Dann löst er sich aus dem Halbdunkel, geht zielstrebig auf den singenden Kollegen zu und schlägt ihm mit aller Kraft die Faust in die rechte Niere. Argenti knickt ein. Kein Wort kommt aus seinem Mund, doch er fällt nicht zu Boden. Bonatti ist verwundert. Nein, enttäuscht. Von sich und seinem Schlag. Er hätte tot sein dürfen, Nierenriss, denkt er und beginnt auf Argenti einzuschlagen. Seine Kraft wächst in Sekunden und nichts kann ihr widerstehen. Nicht mal das Urinal, das er mit Argentis Kopf zerbricht. Bonatti weiß nicht, wie lange er seinen Kollegen mit Fäusten und Tritten traktiert. Er ist nicht mehr hier in der Toilette. Nicht mehr bei sich. Nichts mehr ist Realität. Durch sein heftiges Atmen hört er eine Tür schlagen und ein lautes Räuspern.

»Komm wieder zurück«, hört Bonatti eine brüchige, alte Stimme. Im Hals spürt er das Pochen des Pulses, seine Brust schmerzt vor heftiger Atmung. Schweiß bricht aus all seinen Poren. Ich muss mich ausruhen, sagt sich Bonatti. Die Hand auf den Boden gestützt, fällt er beinahe und schafft es, sich neben den zerschmetterten Kopf von Argenti zu setzen. Jetzt erst sieht er die kleine, alte Frau vor sich stehen, eine große Stofftasche in der rechten Hand.
»Sie dürfen hier nicht rein«, sagt Bonatti mit erschöpfter Stimme. »Männertoilette.«
»Oh, ich kenne diese Toilette. War schon ein paar Mal hier«, erwidert sie lächelnd und noch bevor Bonatti antworten kann, nimmt sie einen Campingstuhl aus der Stofftasche, klappt ihn auseinander, stellt ihn vor den beiden Männern auf den Boden. Behutsam legt sie die Tasche auf die Sitzfläche und setzt sich drauf. Bonatti wird schlecht. Er übergibt sich auf seine Hose. Sein Blick fällt auf Argenti, dessen Blut sich mehr und mehr auf den Fliesen verteilt.
»Scheiße«, sagt er und rutscht mit dem Hintern zur Wand. Vorsichtig lehnt er sich an.
»Das kann man wohl sagen …«
»Warum hauen Sie nicht ab?«, unterbricht Bonatti sie. »Noch ist Zeit. Ich muss das hier irgendwie verschwinden lassen.«
Sie schüttelt den Kopf und Bonatti erbricht sich ein zweites Mal. Der Raum verschwimmt für einige Sekunden vor seinen Augen.
»Ich habe mal einen berühmten Mann geholt, der hätte all das hier für große Kunst gehalten«, erklärt sie.
»Hä? Was für Kunst? Das ist ein Klo.«
»Na, schau dich um. Grüne Wandkacheln, weiße Bodenfliesen. Kaputt, zerbrochen. Urinflecken überall, dreckige Pissbecken, gelbe Pfützen auf dem Boden, ein matschiger Schädel und überall rotes Blut.« Sie schweigt und schaut Bonatti herausfordernd an. »Das ist wie ein Gemälde, oder? Ich finde es wunderbar. Joseph Beuys hätte das nicht besser hinbekommen.«
»Wer ist Joseph Beuys?«
Die alte Frau verdreht die Augen, richtet den Blick nach oben. Bonatti tut es ihr nach, entdeckt aber nur eine teilweise herabhängende Neonröhre.
»Wer sind sie?«, fragt er unvermittelt.
»Du bist schon vier Mal gestorben. Erinnerst du dich nicht? Ich weiß, dass du davon träumst. Wieder und wieder. Ich weiß von deinen Schweißausbrüchen in diesen Nächten.«
»Blödsinn«, erwidert er schroff.
Sie lehnt sich zurück und lächelt mit ihrem ganzen Gesicht. Der gegerbte Mund, die Falten, der gütige Blick. So eine Oma hätte ich gerne gehabt, denkt Bonatti. Dann fährt ihm die Furcht tief ins Herz, denn aus der Güte wird das Dunkle. Das Schwarz aller Nächte sammelt sich in den alten Augen und dringt in Bonattis Verstand.
»Ich bin die Nummer fünf«, sagt die Alte tonlos.
»Sie wollen mich töten?«
»Aber nein. Ich töte nicht. Das kriegen die Menschen schon alleine hin …«, sie deutet mit einer Hand auf Argenti, »… wie man sieht. Ich hole nur ab.«
Bonattis Übelkeit kehrt zurück. Ihm wird schwindelig. Das Schwarze in den Augen der alten Frau zieht sich zurück und macht Platz für ein helles Weiß. Bonatti versucht sich hochzustemmen, scheitert kläglich. Jetzt spürt er den Stich in seiner Schulter. Ein Schmerz auf Wanderschaft. Den linken Oberarm entlang, bis in seine Finger. Er zittert.
»Warum muss ich sterben?«, fragt er die alte Frau.
»Das weiß ich nicht. Es sieht aus, als hättest du einen Herzinfarkt. Schließlich bist du keine zwanzig mehr und in deinem furiosen Zorn hast du wohl dein Herz ein wenig überlastet.« Sie beugt sich nach vorne und mustert ihn genau. »Zudem bist du übergewichtig, nicht sehr sportlich, trinkst Unmengen Alkohol, schläfst nicht richtig …«, sie haut mit den Händen auf ihre Oberschenkel, »… wen wundert es, dass es da zu einem Herzinfarkt kommt.«
Bonatti hört nur mit halbem Ohr, was sie sagt. Das Weiß verdrängt seine Gedanken. Sie lösen sich auf wie Salz im Spaghettiwasser. Er sieht zu Argenti.
»Das Arschloch hat mir meine Stelle im Betriebsrat geklaut. Ich wollte den Posten. Und ich habe schließlich auch ne Menge Leute dafür bezahlt …«
Er stockt und nickt zu Argentis leblosem Körper.
»Ist er tot?«
»Das ist er«, bestätigt die Alte. »Ihn habe ich schon mitgenommen.«
»Aber wie? Du bist noch hier.«
Sie faltet die Tasche auseinander und steht auf.
»Es lohnt sich nicht, darüber nachzudenken«, erklärt sie und klappt den Stuhl zusammen. »Nicht als Mensch. Nicht als Bonatti.«
»Aber …«
Ein zweiter Schmerz macht sich auf den Weg. Von der Mitte seiner Brust in die Beine. Bonatti stöhnt und kippt nach vorne.
»Oh Gott …«, presst er mühsam hervor.
Die Alte lacht herzlich und Bonatti stirbt.

Die herbeigerufenen Sanitäter lassen auf sich warten. Der Weg zur Karosseriegruppe IV in Montagehalle Y ist weit. Als sie endlich in der Toilette stehen, wissen sie sofort, dass es hier nichts mehr zu tun gibt.
»Findest du nicht, dass das hier wie ein Gemälde aussieht?«
»Ja«, gibt ihm sein Kollege recht, »so was sieht man nicht alle Tage.«

 

Hallo @Morphin, dieser 5. Bonatti liest sich tatsächlich wie ein Gemälde!
Finde sie gut gelungen.

Liebe Grüße aus einer weißen Schweiz,
Schwerhörig

 

Nabend @Schwerhörig,
ich würde schon gerne mal wieder viel Schnee sehen, wenn ich morgens den Rollo hochziehe. Aber erst mal Danke fürs Lesen und den Kommentar. Die Szene mit der Toilette gibt es wirklich. Mit allem drum und dran. Auch dem Blut. Hab mal im Schlachthof gearbeitet, und auf dem riesigen Klo sah es genau so aus; daher stammt das "Gemälde".

Hi @Rob F,
hm, also hier ist ein Hinweis drin. Fällt kaum auf. Oder fällt dem auf, der sich mit der Sache schon mal befasst hat. Auch dir besten Dank fürs Lesen und Kommentieren. Habe viel umgesetzt. 'Hä' entstammt einem ehemaligen italienischen Kollegen im Schlachthof, der auf alles erst mal mit "Hä?" reagierte; egal ob oberster Boss oder Kollege. :D Das fand ich einfach zu köstlich. Morgen fange ich mal mit dem 6ten Teil an.

Ich grüße euch.
Morphin

 

Er ist nicht mehr hier in der Toilette. Nicht mehr bei sich.

»Warum verschwinden sie* nicht?«, unterbricht Bonatti sie. »Noch haben sie* Zeit. Ich muss das hier irgendwie verschwinden lassen.«

Der fünfte Tod, Abteilung Fluxus & co und natürlich Beuys (vor Kurzem ist übrigens sein Kumpel Panamarenko auf dem Ikaross ihm gefolgt) und hier beim andern B. obsiegt Könich Allohol in all seiner Kunstfertigkeit und Gevatter als Gevetterin, also eigentlich „Ge“base (Gecousine wäre auch hübsch nahe als Wortspiel bei der guten frz. “cuisine“), aber ein paar

Flüskes

Bonatti beobachtetKOMMA wie Argenti aufsteht und Richtung Toilette verschwindet.
„wie“ leitet einen vollständigen Satz ein

»Ich muss mal pissen«, sagt er zu niemandem am Tisch, denn es wird ihn niemand hören.
Nix falsch, aber der Information halber der Hinweis, dass „niemand“ ausgenommen beim Genitiv (der ja Besitz ankündigt) endungslos bleiben darf

Schließlich bist du keine Zwanzig mehr und in deinem furiosen Zorn hast du wohl dein Herz ein wenig überlastet.
Analog der Uhrzeit „ist gleich zehn (Uhr)“ auch beim Alter als Attribut und Adjektiv, „keine zwanzig (Jahre) mehr“

»Es lohnt sich nicht darüber nachzudenken«, erklärt sie und klappt den Stuhl zusammen.
Komma – vor oder nach der Negation

Der feine Schluss

»Findest du nicht, dass das hier wie ein Gemälde aussieht?«
erinnert mich an meinen experimentellen Beginn hierorts an die Passage
… daneben liegt eine männliche Leiche mit eingeschlagenem Schädel, in geronnenem Blute und ergrauter Hirnmasse badend, dass die Hütte innen wie außen durch ein sattes Rostbraun harmonisch abgestimmt wirkt und die drei Kommissare von den ästhetischen Reizen überflutet und überwältigt nicht wahrnehmen, dass sie in der Inflation der zuletzt bekanntgewordenen Kriminalfälle die letzten ihrer Art sein müssen nebst dem Hause Bernadotte: alte Schweden!
(aus: Einsatzgeschichte im globalen Knæckebrœdkrimi), ein Kommentator verglich sie schon mit Rubens ... und das soll dann nicht das Ende sein:
»Ja«, gibt ihm sein Kollege recht, »so was sieht man nicht alle Tage.«
gelungener Fluxus!

Friedel

 

Salü @Friedrichard,

die Sonne scheint, der Himmel ist hellblau ... und du hast den 5ten Teil gelesen. Was will man mehr? Danke. Und die Sachen - plus noch zwei selbst entdeckte Unebenheiten - habe ich gerade geändert. Aber mir fällt auf, wie schnell man sich einer Geschichte, für die man noch Tage zuvor brannte, emotional entledigen kann. Komme ich etwa in eine Art Fließband-Mentalität? Das täte mir gar nicht gefallen.

Das Springen zwischen schreiben, hier lesen, kommentieren und wieder schreiben, ist ganz schön anstrengend ... mein Kaffeekonsum ist gestiegen.

Und das mit den Schweden, eigentlich mit allen Skandinaviern, ist schon auffällig. Deren Krimis und Morde erinnern immer gleich an eine verunglückte Hausschlachtung. Ob das mit der 6monatigen Dauerdunkelheit zu tun hat? Mal so ne Kugel in die Brust genügt halt nicht mehr. Da muss es schon die Kettensäge sein.

Ich sende Grüße in den Pott. Gesund bleiben.
Morphin

 

Ja - ist schlimm, die Arbeit am Fließband, immer wieder aktuell zur Routine "Modern Times" -
aber noch schlimmer ist - während der Semesterferien - nachdem die relativ feste Stellung im ehemaligen Ausbildungsbetrieb (Schwerindustrie, sechs MOnate arbeiten, sieben bezahlt bekommen, kein Mitleid für Thyssen!) futsch war aufgrund einer Arbeit über "Monopolpreisbidung" - in einer Schnapsfabrik (passend zu meinem Namen das damalige Produkt schlechthin beim "sauren Fritz") gearbeitet. Da ist der Suff vorprogrammiert ...

Bis gleich (werden wir ja gesund überstehen soweit wirs noch sind, jetzt)

Friedel

 

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