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Serie Die neun Tode des Raffaele Bonatti [7]

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10.02.2000
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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [7]

Der siebte Tod

Bonattis siebter Tod wartet geduldig. Wäre das Warten nicht ein natürliches Element, so dürfte man den Tod getrost als denjenigen anführen, der das Warten in die Welt brachte; und nur wenige Menschen warten auf den Tod. Meist ist es der Tod, der auf die Menschen wartet. Doch manchmal geht es schneller, als zu erwarten wäre. Etwa als Bonatti seinen Vater packt und ihn mit Wucht durch die geschlossenen Fensterflügel im dritten Stock drückt, diesen für ihn doch recht leichten Körper hält, bis seine Kräfte endgültig versagen. Dann lässt er ihn los. Ein Stück Hemdkragen noch in der linken Hand. Die schreckgeweiteten Augen fallen hinab, Bonatti nie aus dem Blick verlierend. Ein ungewohntes, hässliches Geräusch markiert den Aufschlag. Gott sei Dank nicht so viel Blut, denkt Raffaele Bonatti und dreht sich um. An der Wand hängen Fotos. Hier die ganze Familie, dort die Großeltern, darunter die hügelige kalabrische Landschaft, Schwarzweiß-Fotos amerikanischer Soldaten, Bonattis Opa auf dem Stuhl, der Capobastone inmitten seiner Locali. Nun bin ich wieder zurück, denkt er und setzt sich auf das alte Canapé, dessen arabisch anmutendes Stoffmuster er schon als Kind bewunderte. Bonatti atmet tief ein und meint die salzige Luft des nahenden Meeres zu schmecken. Viel besser als in Köln, murmelt er. Aber in Köln werde ich bald zum Betriebsrat gewählt werden. Ich werde der Capo Provincia sein. Auch nicht schlecht.

Das Wimmern aus der Besenkammer im Flur holt ihn zurück. Er steht auf und bricht einen der alten Stühle entzwei, dreht ein Stuhlbein ab und geht aus dem Zimmer. Im Halbdunkel mustert er die Besenkammertür. Bonatti kennt sie auswendig. Von innen. Er sieht sich im Zwielicht der Kammer, zwischen Spinnen und Käfern, die Furcht so tief in den Knochen, dass er noch zitterte, als er längst wieder draußen war. Die Schwärze war mein Zuhause, denkt er und öffnet die Tür. Spärlich fällt Licht auf seine Mutter. Zusammengekauert kniet sie auf dem Ziegelboden, den Rücken der Tür zugewandt. Wie schmal sie ist, wundert Bonatti sich und zieht sie an den Haaren aus dem dunklen Loch, das in vielen Urlauben sein tägliches Zuhause war. Ihren leichten Körper hinter sich her schleifend, erreicht er die Küche und legt ihn ab. Vor dem alten Tisch der Großeltern. Dann schlägt er zu und ein gepresster Laut ist die Antwort.
»Scheiße«, sagt er, »nicht richtig getroffen.«
Er tritt den Körper. Einmal, ein zweites Mal, solange, bis er auf dem Rücken liegt. Bonatti setzt sich und beugt sich vor. Seiner Mutter entgegen, die mehr als schweigt. Die erträgt.
»Du hast immer noch ein schönes Gesicht. Und du bist meine Mutter geworden. Warum, weiß ich nicht.«
Mit einem weiteren Schlag zertrümmert er ihr Nasenbein und wartet auf einen Schmerzenslaut. Nichts. Also lehnt sich Bonatti zurück und trinkt einen Schluck vom frisch gepressten Orangensaft. Die Orangenbäume, denkt er, sie waren mein einziges Glück in all den Urlauben. Und zurückzukommen, nach Köln.

»Papa ist tot. Sie werden ihn wohl gerade auf die Seite schaffen. Und du wirst jetzt auch sterben.«
Mit dem Finger kratzt er einen Streifen Blut von der Stuhlbeinkante. Er weiß, dass er im Sitzen nur wenig Kraft hat und kniet sich vor den Körper seiner Mutter. Was hätte wohl Opa gemacht?, fragt er sich, den Kopf in den Nacken gelegt. Über der Tür hängt das Kreuz der Chiesa di Santa Maria della Pietà in San Luca. Bonatti bekreuzigt sich, holt aus bis weit hinter den Rücken, schlägt zu und hört nicht eher auf, bis nichts mehr von der Schönheit und dem Kopf seiner Mutter übrig ist. Außer Atem schmeißt er das Stuhlbein weg, steht auf und geht hinunter vor die Tür. Sein Vater ist verschwunden. Nichts als ein kleiner roter Fleck ist zu sehen. Bonatti setzt sich auf die Bank, die sein Urgroßvater aus dem Holz alter Olivenbäume gebaut hat. Der Wind kommt vom Ionischen Meer und bringt kühle Luft mit sich. Er lehnt sich zurück und beobachtet mit einem Auge ein kleines Mädchen, das die steile Straße heraufkommt. Es setzt sich neben ihn.

»Guten Tag, mein kleines Fräulein«, begrüßt Bonatti sie.
»Guten Tag.«
»Wie ist dein Name?«
»Ich weiß es nicht«, antwortet die Kleine schulterzuckend.
Bonatti lacht.
»Du weißt es nicht? Das ist aber seltsam. Jedes Mädchen hat einen Namen, oder?«
»Ich habe viele Namen. In allen Sprachen dieser Welt habe ich einen oder mehrere Namen. Such dir also einen aus.«
Bonatti mustert die Kleine von der Seite. Dann dreht sie ihren Kopf und er blickt in die dunkelsten aller Augen. Ihre Schwärze verschluckt jedwedes Licht. Mehr noch. Bonatti fühlt einen Sog, der an seinem Körper zieht, hin zu dieser Finsternis. Er rückt unwillkürlich einige Zentimeter ab.
»Wer bist du?«, fragt er ängstlich.
»Wer die Familie verlässt, muss sterben. Nicht wahr?«
Bonatti zuckt zusammen.
»Hä? Von was redest du?«
»Von deinen Eltern. Sie haben bereut. Alt geworden und bereut. Das ist nicht selten bei euch Menschen.«
»Sie haben sich des Verrats schuldig gemacht«, erwidert Bonatti trotzig und setzt sich aufrecht. »Es gibt keinen Verrat in der Familie. Was weißt denn du schon? Kleine Rotznase …«
»Wen haben sie verraten? Dich? Oder wen sonst?«, unterbricht das Mädchen ihn.
Zorn kocht in Bonatti hoch. Alter Zorn. Er schlägt sich auf die Brust.
»Die Familie!«, schreit er, »den Clan! Sie waren nicht mehr demütig. Haben die Ehrenwerten beschmutzt! Sie werden in der Hölle …«
Der Seewind wird weiß, die Luft um Bonatti wird weiß. Seine Stimme versagt und das Atmen fällt ihm schwer. Ächzend lehnt er sich zurück.
»Wer … bist … du?«, bringt er gerade noch heraus.
»Ich bin der Alte, das Mädchen, die Oma aus deinen Träumen, in denen du bald gestorben sein wirst. Dein siebter Tod. Und ich habe lange auf dich gewartet.«
Wie die Marionette an der Schnur kippt Raffaele Bonatti langsam vornüber, rutscht von der Bank und landet im hellen Staub der alten Straße. Er röchelt. Mit den Fingern kratzt er Figuren in die Via San Sebastiano.
»Ich urteile nicht, Bonatti. Ich hole nur ab. Aber ich kann dir versichern, dass du in Gewalt geboren wurdest, in Gewalt aufgewachsen und Gewalt dein Innerstes war. So gesehen, hast du es jetzt schon besser.«
Das Weiß wird vollkommen und Bonatti stirbt.

Als die jungen ’Ndranghetisti Bonattis Mutter holen wollen, um sie zu entsorgen, finden sie Raffaele tot vor der alten Holzbank liegend. Überrascht und verunsichert rufen sie den Capo Crimine. Zwei Fliegen mit einer Klappe, sagt der und vergibt das Haus per Telefon an eine junge Familie.

 

Salü @Rob F,
meinen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Am Anfang habe ich was angepasst, nach deinem Vorschlag. Beide "wird weiß" war Absicht. Den Futur II habe ich ja schon letztens eingebaut, denn diese Träume/Tode liegen noch in der Zukunft.

Jetzt spekuliere ich auch nicht mehr, das Ende, der letzte Tod ist ja nicht mehr weit
Vielleicht hab ich zu wenig Hinweise eingebaut. Konzentrier dich nicht auf den Tod. Es liegt ganz woanders. Es gibt Schlüsselwörter im Text. Am Ende wird es noch einen Epilog geben. Dort werden sich beide noch einmal begegnen.

Bis morgen und Grüße.
Morphin

 

Bonatti setzt sich und beugt sich vor. Seiner Mutter entgegen, die mehr als schweigt. Die erträgt.

»Wer die Familie verlässt, muss sterben. Nicht wahr?«

Das vorweg, nun kenn ich einen zweiten neben @Proof , den ich unaufgefordert im Genre „Horror“ besuchen würde, selbst wenn es für einen Mythensammler an der heiligen Zahl sieben liegen mag von Theben bis gegen Chicago, aber wenn es ein Meisterstück (ich hab ja noch was vor mir in der Serie) bisher gibt, dann hier im Aufstand gegen die Familie(n), kurz: Ältern und vor allem Vormünder sollte man verbieten! Da bin ich ganz in Summerhill.

Flusenlese (auch mal ein Lob an den aufmerksamen @Rob F!),

und – abgesehen davon, dass das Partizip „gewesen“ durch präfixen Wechsel zu „verwesen“ wird, ist es tatsächlich entbehrlich – vor allem im Konjunktiv irrealis, der ja nun mal nix mit der Zeitenfolge zu tun hat

Doch manchmal geht es schneller, als zu erwarten gewesen wäre.
Und auch im Indikativ „Doch manchmal geht es schneller, als zu erwarten ist“ nur entbehrliches Beiwerk wäre.

Es folgt eine „dunkle“ Serie

Im Halbdunkel* mustert er die Besenkammertür. ... Von innen. Er sieht sich im Dunkel der Kammer, … Das Dunkel war mein Zuhause, denkt er und öffnet die Tür. Spärlich fällt Licht auf seine Mutter.
Die sich durch *„Zwielicht“ und zB „Düstern(is)“, „Finstern(is)“ o. a. entschlacken ließe.

Hier nun

»Verdammt«, sagt er, »nicht richtig getroffen.«
klingt nach mehr als einer bloßen Aussage, oder?, - zumindest der Fluch ...

Er lehnt sich zurück und beobachtet mit einem Auge ein kleines Mädchen, das die steile Straße heraufkommt. Sie setzt sich neben ihn.

»Guten Tag, mein kleines Fräulein«, begrüßt Bonatti sie.
...
»Ich weiß es nicht«, antwortet die Kleine schulterzuckend.

wird „das Mädchen“ erst mit dem Schulterzucken entneutralisiert!, bis dahin aber „setzt es sich“ und begrüßt B. „es“!

Gern auch mal in Blut gebadet,

das Dante Friedchen

 

Tagchen @Friedrichard,

schon alles eingearbeitet und ausgebessert. Und vielen Dank für das geduldige Aufspüren von Feinheiten. Das ist schon sehr viel wert. Findest du, dass es hier horrorartige Anteile gibt? Ich z.B. empfinde so was wie Resident Evil nicht als Horror, mehr Splatter und Trash. Horror ist für mich das, was ich nicht sehe. Was die Phantasie in meinem Kopf zusammensetzt und durch äußere, reale Sinneseindrücke und innere "quasi-reale" Elemente verstärkt wird.

Je weniger, desto mehr ... sozusagen. Okay, ich gebe zu, Horror lese ich nicht und Filme nur mit Sonnenbrille. Der erste Alien, das war Horror damals im Kino. Gut dass es dunkel war und niemand gesehen hat, wie ich da mit geschlossenen Augen sitze. :D

Regnerische Grüße
Morphin

 

Horror ist für mich das, was ich nicht sehe. Was die Phantasie in meinem Kopf zusammensetzt und durch äußere, reale Sinneseindrücke und innere "quasi-reale" Elemente verstärkt wird.

Je weniger, desto mehr ... sozusagen. Okay, ich gebe zu, Horror lese ich nicht und Filme nur mit Sonnenbrille. Der erste Alien, das war Horror damals im Kino.

Da haben wir wieder was gemeinsam, als ich zB ETA Hoffmanns Gesamtwerk lesen wollte, immerhin der Erfinder der teutschen Variante, fand ich zwar seine Satiren okay und auch seine Bergwerkgeschichte, die "Elixiere ..." u. a. aber grauenvoll und brach die Lektüre ab, erklärte mir schließlich die gestörte Psyche mit den langen Fahrten als Kleinkind in engen Kutschen mit ungefederten Achsen über holprige Wege, an denen der Räuber Hotzenplotz laurte, mitsamt den Erlebnissen an 24 und mehr Zollstationen innerhalb Mitteleuropas, wenn er von A nach Z gehen sollte.

Zudem liefert mir Historik (incl. neuerer) Horror genug, dass ich mir nicht auch noch was ausdenken müsste.

Um ein Haar hätt ich jetzt den eigentlichen Beitrag an der falschen Stelle abgeliefert.

Tschüss und bis gleich

FRiedel

 

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