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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [8]
Der achte Tod
Bonatti stöhnt und hält sich den Kopf. Sein Hintern tut ihm weh vom langen Sitzen auf diesen Steinblöcken.
»Gottverdammt! Warum muss das Zeug so hart sein?«
»Das ist kein Zeug. Das ist Marmor«, erklärt ihm Angelo.
»Gut, dass ich so nen schlauen Sohn habe.«
»Du bist jedenfalls nicht der Grund«, pariert der.
Bonatti schweigt und überlegt kurz, ob eine ausreichend harte Ohrfeige die richtige Reaktion wäre. Aber er lässt es.
»Warum sind wir noch mal hier?«, fragt er stattdessen.
»Weil du Mama versprochen hast, mit ihr nach Griechenland zu fahren.«
»Mama ist tot«, antwortet Bonatti tonlos.
Angelo schweigt und liest im Prospekt.
»Ich könnte jetzt schön in Weidenpesch sein und ein paar satte Gewinne einfahren. Bei Pferden hab ich immer Glück«, redet Bonatti weiter und streckt sich ausgiebig. Es kommt keine Antwort von Angelo, der einen Rang unter ihm sitzt. Stattdessen hört man deutlich, wie einige der in Togen gekleideten Menschen auf dem kreisrunden Platz ein Stück einüben.
»Das sind Deutsche«, merkt Bonatti an. »Man ist nirgends vor ihnen sicher.«
Angelo hebt den Kopf und steckt den Prospekt in seine Hosentasche.
»Wir sind im Amphitheater von Epidauros. Den Menschen gefällt es, hier zu sein und die Dramen alter Kulturen nachzuspielen. Außerdem sind wir auch aus Deutschland. Wo ist also dein Problem?«
Bonatti zieht Schleim aus seinen Bronchien nach oben und spuckt auf den Platz neben sich. Angelo steht auf. In diesem Moment hört man klar und deutlich die Stimme eines Mannes vom Bühnenrund.
„Bedenkt die Saat, die euch geboren hat: Ihr wurdet nicht geschaffen, um als Tiere zu leben, sondern um Nachfolger von Wert und Wissen zu sein.“
»Angelo, was redet der da?«, will Bonatti wissen und erhebt sich ebenfalls.
»Ich weiß nicht. Aber er hat recht.«
»Komm, Angelo, ich hab Hunger. Wir gehen zu Xenia und essen was.«
»Bei den Griechen gibt es immer viel Fleisch«, freut sich Bonatti und stopft sichtlich zufrieden das Gyros in sich hinein. »Das liebe ich an denen.«
Angelo stochert mit der Gabel in seinem Reis. Bonatti sieht ihn an.
»Was ist mit dir? Keinen Hunger?«
»Mama hätte hier sein sollen. Es war ihr Urlaub«, flüstert Angelo und fixiert seinen Vater.
»Sie hat es sich aber anders überlegt und ist lieber dem Flaschengeist gefolgt«, ätzt Bonatti. »Hätte nicht so saufen sollen …«, legt er nach und kann gerade noch dem Messer ausweichen, das Angelo nach ihm wirft. Mit einem Ruck kommt er hoch, stößt Stuhl und Tisch um, greift sich Angelo, sieht seine Fäuste auf ihn einprügeln. Männer kommen und reißen ihn weg. Schreiend und fluchend drücken sie ihn auf den Terrakotta-Boden. Er sieht, wie Angelo Xenias Dionysos-Gasthaus wutentbrannt verlässt. Bonatti wehrt sich nicht mehr, liegt still auf den kühlen Fliesen und denkt an Leonora. Ihr Tod war so nutzlos. Voller Schande. Langsam steht er auf, hält seine Handflächen hoch, zeigt, dass alles wieder normal ist.
»Was muss ich zahlen?«, fragt er in die Runde. »Das ganze Geschirr, das Essen. Ich lege noch fünfhundert Euro drauf. Kein Problem. Polizei lassen wir weg.«
Angelo ist nicht am Auto. Also steigt Bonatti ein und macht sich auf den Weg zurück in die kleine Pension. Von Epidauros über die Küstenstraße nach Methana. Etwas mehr als fünfzig Kilometer. Soll Angelo doch sehen, wie er nach Hause kommt, denkt er und genießt den Blick auf die Ägäis, die Inseln im fernen Dunst, den Fahrtwind, der durch die offene Scheibe an seinen Haaren zerrt. Hätte ich doch bloß nie geheiratet, wünscht er sich und sieht im Augenwinkel eine Tramperin am Straßenrand stehen. Bonatti macht eine Vollbremsung. Fast auf den Zentimeter genau bleibt er mit der Beifahrertür auf Höhe der jungen Frau stehen, die ihn angrinst und ein Pappschild vor der Brust hält auf dem „Galatas“ steht. Sie öffnet die Tür.
»Das ist aber nett, dass Sie anhalten. Sie fahren nicht zufällig nach Galatas?«
Welch ein Glück. Sie spricht sogar Deutsch, freut er sich und überlegt nicht lange.
»Natürlich fahre ich nach Galatas. Eine so schöne Frau würde ich überall hinfahren.«
Ohne zu antworten steigt sie ein, legt ihren Rucksack zwischen die Beine in den Fußraum und schnallt sich an.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Sie sind aus Deutschland?«
»Ja«, antwortet er und nickt. »Aus Köln. Bin zwar Italiener, aber in Deutschland geboren. Und Sie?«
»Ach, ich bin so was wie eine Weltbürgerin.«
Bonatti nickt und schielt immer wieder auf die Beine der jungen Frau, die in einer kurzen Hose stecken und das Wohlgeformteste sind, was er je an weiblichen Beinen gesehen hat. Es wundert ihn nicht, als es in seinen Leisten zu ziehen beginnt.
»Vielleicht können wir uns ja duzen«, schlägt er vor.
Sie streckt sich und legt die Arme hinter den Kopf. Bonatti starrt auf ihre Brüste, die vom Spaghetti-Top nur noch knapp verdeckt werden. Aber er starrt zu lange und kommt von der Fahrbahn ab.
»He! Vorsicht, Bonatti!«
Mit aller Kraft tritt er auf die Bremse, der Wagen bricht aus und kommt kurz vor der Steinschlag-Mauer zum Stehen. Bonatti starrt die junge Frau an, die unverändert die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sich den Schweiß von der Oberlippe leckt. Er fühlt seinen Puls im Hals klopfen.
»Woher wissen Sie meinen Namen?«
Bonatti versucht krampfhaft einen klaren Gedanken zu fassen. Eine konkurrierende Familie? Aus der Familie seiner toten Frau? Eine Freundin Angelos?
»Du hast ihn mir schon oft gesagt«, erklärt sie und dreht den Kopf nach links, lässt die Arme sinken und legt die Hände auf ihrer begehrenswerten Haut ab.
»Findest du mich schön?«, fragt sie.
Bonatti schließt die Augen und schüttelt langsam den Kopf.
»Schön ist gar kein Ausdruck. Nicht von diesem Planeten passt eher. Aber trotzdem weiß ich immer noch nicht, wer Sie sind und woher Sie meinen Namen kennen«, erwidert er.
»Sieh mich an, Bonatti!«
Das tut er. Öffnet seine Augen, dreht den Kopf. Und fällt in ein endloses Schwarz, das ihn umfließt wie Honig einen Löffel. Sein Atem stockt und grässliche Furcht greift nach seinem Inneren.
»Was siehst du, Bonatti?«
Ihre Stimme ist nicht mehr samten und voll. Es ist die Stimme aus einem dunklen Schlund, der hinabreicht in Tiefen, die jenseits aller Hoffnung liegen.
»Ich kenne dich …«
»Aber ja. Aus Träumen, die noch nicht geträumt wurden. Aus Bildern, die erst gelebt werden wollen und doch schon hinter dir liegen.«
Bonatti schweigt. Stille im Auto. Kein anderes Fahrzeug ist auf der Straße und der Schatten auf der Ostseite der Hügel taucht das nahe Meer in ein dunkles Blau.
»Du bist mein Tod. Nicht wahr?«, sagt Bonatti leise, ohne den Kopf zu heben.
»Deine egomanische Sicht der Welt hat dich um alles gebracht, was du zumindest ansatzweise mal lieb hattest. Ich bin nicht ‚dein Tod‘, ich bin niemandes Tod. Ich hole nur ab. Trotzdem interessiert mich, was in den Menschen vorgeht.«
»Und was möchtest du von mir wissen?«
»Ich frage dich nach deiner Frau. Nach Leonora. Dir ist klar, dass ich sie geholt habe?«
Bonatti nickt und das Schwarz in den Augen der jungen Frau weicht einem klaren Grün.
»Sie gehörte zu den Menschen, die voller Schmerz starben. Ein unheilbarer Schmerz. Und du bist der Grund dafür. Du weißt, was du ihr angetan hast?«
»Was soll ich ihr denn angetan haben?«, begehrt er auf, streckt sich und ballt die Fäuste.
»Du hast sie betrogen. Um ihre Liebe, um ihr Leben, um ihre Zukunft.«
»Sitze ich hier vor einer Art Jüngstem Gericht?«
Sie lacht. Warm und herzlich. Ihre Brüste bewegen sich im Rhythmus des Lachens. Bonatti schlägt ihr die Faust ins Gesicht, zieht am Türöffner mit der rechten Hand, öffnet das Gurtschloss und drückt sie hinaus. Dann startet er den Wagen und rast los. Die Beifahrertür schwingt hin und her. Im Rückspiegel ist nichts zu sehen von ihr. Er kann es nicht fassen. Einmal anbremsen, zurückschalten, stark beschleunigen, die Beifahrertür klappt zu. Er bricht in homerisches Gelächter aus. Bonatti kann nicht mal sagen, wie lange er gelacht hat und wann er in Methana angekommen ist.
Er begrüßt die Chefin der Pension und freut sich auf eine kühle Dusche. Als er ins Zimmer kommt, blickt er direkt in die Mündung einer Waffe und die Augen seines Sohnes.
»Angelo? Was …«
Die Kugel trifft ihn zwischen den Augen. Bonatti stirbt, ohne das Weiß gesehen zu haben.