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Die neun Tode des Raffaele Bonatti [9]
Der neunte Tod
Bonattis neunter Tod starrt auf das mit Neuschnee bedeckte Eis. Eine große, fast kreisförmige Fläche. Schilf steckt darin und wartet auf den Frühling. Die Stille an diesem Morgen ist fast perfekt, bis auf eine Kolonie Raben, die im Geäst der Pappelreihe sitzt und sich Geschichten erzählt. Ab und zu fliegt einer auf und zieht seine Kreise über dem Feldweg, der zwischen Wiesen und Feldern im klammen Dunst verschwindet. Nichts passiert. Es wird weder heller noch dunkler. Als die Raben für einen außergewöhnlich langen Moment schweigen, löst sich ein schwarzes Auto aus dem Nebel, fährt den holprigen, hartgefrorenen Feldweg entlang und kommt am Weiher zum Stehen. Vier Männer steigen aus und gehen auf die Eisfläche.
»Ist weit genug«, sagt der Älteste unter ihnen und bleibt stehen.
»Bist du dir sicher, Capo, dass das Eis nicht bricht? Wir sind nicht gerade Leichtgewichte.«
»Dein fehlender Schädelinhalt macht das wieder wett«, beruhigt ihn der Capo. Er zieht seine Handschuhe aus und holt aus seiner Manteltasche ein Lederetui.
»Willst du noch einen Zigarillo, Bonatti?«
»Nein. Ich habe das Rauchen drangegeben.«
»Hört, hört«, meint der Alte und zündet sich einen Zigarillo an. Er zieht zwei, drei Mal genüsslich und beobachtet die Raben in den Pappelspitzen. Dann kratzt er sich am Hinterkopf. Seine Fellkappe verrutscht ein wenig und er rückt sie wieder gerade.
»Capo?«
»Was?«
»Uns ist … ich meine, mir ist kalt. Können wir uns nicht ein bisschen beeilen?«
Der Alte fixiert nacheinander seine beiden Helfer. Beobachtet, wie sie von einem Fuß auf den anderen treten und sich die behandschuhten Hände reiben.
»Nehmt euch ein Beispiel an Bonatti. Der steht wie ne Eins und jammert nicht.«
»Ja, Capo …«
Langsam geht der Alte zu Bonatti. Die dünne Schicht aus Neuschnee knirscht unter den Sohlen.
»Es endet hier, Bonatti. Wenn ich es auch nicht verstehe. Du hast alle gegen dich aufgebracht. Deine Frau ist tot, dein Sohn abgehauen, unsere Familien sind sichtlich nervös …«, er schüttelt den Kopf und zieht lange am Zigarillo. Dann tritt er ihn aus und steckt ihn in die Manteltasche. »Du hättest weit kommen können. Weiter als wir anderen …«, sagt er bedauernd.
Bonatti blickt ihm in die Augen.
»… aber du hattest dich nie wirklich im Griff. Du bist voller unnützer, sinnloser Gewalt. Ich meine, gut, Gewalt muss ab und zu sein …«, der Alte nickt und zieht die Handschuhe wieder an, »… aber nur gezielt. Dort wo sie nötig ist. Und nie mehr als man braucht, um das Ziel zu erreichen. Wir leben nicht mehr im Mittelalter.«
Bonatti antwortet nicht. Hätte er die Möglichkeit, würde er alle drei auf der Stelle töten.
»Ich finde es frech, dass du nicht antwortest. Aber so ist dein Leben. Respektlos. So respektlos, dass sogar deine loyalen Eltern dich verraten wollten und nur wegen dir sterben mussten.«
Der Alte dreht den Kopf zur Seite und spuckt auf das Eis. Bonatti schweigt und starrt geradeaus.
»Na gut«, sagt der Alte. »Bringen wir es zu Ende.«
Er nickt seinen Gehilfen zu.
»Nehmt das Messer. Schlitzt ihm den Bauch auf. Quer.«
»Warum nicht einfach einen Schuss in den Hinterkopf, Capo?«
»Weil ich leiden soll, du Trottel«, erklärt ihm Bonatti.
»Es ist schade um dich, Raffaele. Vom Töten hast du wesentlich mehr Ahnung als vom Leben«, sagt der Alte. »Ciao, Bonatti.« Er dreht sich um und geht vorsichtig zum Auto.
Als das Messer in Bonattis linken Unterleib gleitet und seinen Weg auf die andere Seite nimmt, schweigt er, presst den Schmerz lediglich durch starkes Ausatmen heraus, dann sinkt er aufs Eis und mustert den Schnee vorm Gesicht. Eine wohlige Wärme verlässt seinen Körper. Er hört das Zuschlagen von Türen, einen Motor, dann nur noch die Raben.
Bonattis neunter Tod setzt sich in Gestalt eines alten Mannes neben ihn und legt die rechte Hand auf dessen Wange.
»He, alter Mann, kannst du Hilfe holen?«, röchelt Bonatti, schon sichtlich geschwächt.
»Ich bin das Schwarz. Das Leben der Menschen erstarrt in mir«, antwortet der Alte.
»Was’n das für‘n Scheiß?«
»Schau mich an.«
Der alte Mann legt sich auf das Eis, mit dem Gesicht direkt vor Bonattis Kopf, die Hand immer noch auf dessen Wange. Zähflüssiges Schwarz fließt in mäandernden Bahnen aus seinem Gesicht auf Bonatti zu. Es durchdringt ihn, schiebt sich unter den kälter werdenden Körper, löst alles Weiß auf, lässt den Schnee verschwinden. Das Schwarz ist Wärme und Bonatti versinkt darin. Das Bild der Welt löst sich auf.
»Was passiert?«, haucht Bonatti.
»Dies ist dein letzter Tod. Erinnerst du dich nicht an mich?«
»Doch …«
»Ich war weiß, denn ich war nur in deinen Träumen. Das Sterben ist schwarz. Nun tauchst du darin ein. Bereite dich vor.«
»Aber …«
»Es gibt kein ‚Aber‘ mehr, Bonatti.«
Die Raben krächzen und erzählen sich wieder ihre Geschichten. Dann entdecken sie ihre Neugier und kreisen um den dunklen Fleck im weißen Schnee. Sie landen und keckern, hüpfen heran an Bonatti, rutschen aus im kälter werdenden Blut. Der neugierigste unter ihnen pickt tief in die blauen Lippen. Einmal, zweimal, dann ist die Angst verschwunden. Der Hunger siegt.