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Die rote Ampel

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11.04.2005
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Die rote Ampel

Peter Gruber zog die Türe hinter sich zu. Sieben Uhr dreißig. Wie immer auf die Minute pünktlich. Mit einem Piepsen entriegelten per Funk die Autotüren. Er legte seine Brotzeit auf den Beifahrersitz und fuhr los. Die tägliche Fahrt ins Büro unterschied sich nur im Wetter. Heute war es sonnig und trocken. Peter Gruber wollte an seinem ersten Urlaubstag noch ein paar Unterlagen aus dem Büro holen, die er in den nächsten zwei Wochen zu Hause bearbeiten würde. Die dritte Urlaubswoche würde er auf die Pflege seines Autos und seines neuen Hauses verwenden. Er fischte seine Sonnenbrille aus dem penibel aufgeräumten Handschuhfach, hielt sie vor sein Gesicht und bemerkte sofort einen winzigen Fettfleck auf dem rechten Glas. Er zog das frisch gebügelte Putztuch aus dem Etui und wusste, dass er ein klein wenig schneller fahren musste, um diesen Zeitverlust wieder hereinzuholen. Obwohl er jeden Morgen zehn Kilometer bis zu seinem Büro zurückzulegen hatte, erschien Peter Gruber stets auf die Minute pünktlich. Wenn er zu früh dran war, ging er die Straße auf und ab, um dann Punkt acht Uhr die Türe zum Büro energisch aufzureißen. Er verlangte von seinen Mitarbeitern ebenfalls absolute Pünktlichkeit, aufgeräumte Schreibtische und penibles Arbeiten. Peter Gruber war mit Abmahnungen nicht zimperlich, er war daher alles andere als beliebt.

Der Arbeitsweg führte ihn durch den schmalen Waldweg, der sein Haus mit einer größeren Nebenstraße verband. Er hatte ihn erst letztes Jahr auf eigene Kosten teeren lassen, bei Regenwetter hatte der Matsch für unansehnliche Verschmutzungen am Unterboden des Wagens gesorgt. Er näherte sich der Kreuzung und erblickte eine ungewöhnliche Neuerung. Am Ende des Waldwegs war eine Ampel errichtet worden. Eine Ampel an dieser Kreuzung? Er war schließlich der einzige, der die schmale Straße benutzte. Das grüne Licht leuchtete. Noch einhundert Meter, noch fünfzig. Gelb, Rot. Peter Gruber stoppte sein Auto korrekt an der frisch aufgemalten weißen Haltelinie. Er wartete. Fast minütlich errechnete er aufs Neue die Geschwindigkeit, die er jetzt fahren müsste, um noch pünktlich im Büro zu sein. Er würde mit Sicherheit zu spät kommen. Seine Stirn wurde feucht, unter den Armen breitete sich Nässe aus. Die verfluchte Ampel blieb Rot. Rot! Rot! Rot! Er nahm sein Handy – kein Empfang. Nun stand er bereits eine halbe Stunde. Er stieg aus und beobachtete den Querverkehr. Um die Zeit waren nur wenige Autos unterwegs. Er wollte das nächste Fahrzeug stoppen und um Hilfe bitten. Nach zehn Minuten kam ein Lieferwagen. Peter Gruber fuchtelte wild mit den Armen. Der Lieferwagen hielt an, der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter.
„Problem? Auto kaputt?“
„Nein, nein. Ich komme hier nicht weg, die Ampel ist rot und ich muss pünktlich zur Arbeit, und wenn...“
Der Mann im Lieferwagen gab Gas, Peter Gruber hörte ihn noch lachen. Er war wütend.
„So ein Ar...“ Er brachte dieses schmutzige Wort nicht über seine Lippen, obwohl weit und breit niemand war, der ihm dafür ein Stück Seife für den Mund angeraten hätte.
Er überlegte. Rückwärts den engen Weg nach Hause fahren und von dort telefonieren? Er wollte nicht noch mehr Zeit verlieren und beschloss weiter zu warten. Er setzte sich in seinen Wagen und stellte den Motor ab. Wieviel Benzin hatte er hier bereits verschwendet? Die Aufregung schlug sich auf den Magen nieder. Er fühlte Hunger und Durst, aß seine Banane und trank Kaffee aus der Thermoskanne. Er schwor sich zu warten, genau hier an dieser Stelle.
„Von dir lass´ ich mich nicht kleinkriegen, nicht einen einzigen Meter werde ich das Auto wegbewegen! So wahr ich Peter Gruber heiße.“
Er starrte in das rote Licht, der Schwur sollte Folgen haben.
Durch die geöffnete Tür hörte er die Vögel zwitschern und das Knarren vom Wind bewegter Baumwipfel. Da stand er nun mit seinem Auto an einer roten Ampel inmitten eines großen Waldes, den nur die sich kreuzenden Straßen durchschnitten. Die warme Luft strich durch das geöffnete Fenster und trug den Duft von Holz und frischem Grün in den Wagen. Für Peter Gruber war der Tag gelaufen. Seine Mitarbeiter würden sich kaum Sorgen machen, schließlich war er offiziell für drei Wochen im Urlaub.
Die Brotzeit hatte für drei Stunden ihre Schuldigkeit getan. Peter Gruber packte der Hunger. Öfters hatte er daran gedacht, die noch immer rot leuchtende Ampel einfach zu überfahren oder die Stromversorgung zu unterbrechen. Niemand hätte es gesehen, doch er konnte sich dazu einfach nicht überwinden. Er hatte geschworen, hier zu warten. Am Waldrand sah er Erdbeeren wachsen. Immerhin etwas. Die Früchte waren auch geeignet, seinen Durst zu stillen. Der Abend kam, die Ampel stand auf Rot. Peter Gruber erinnerte sich an seine Jugend, als ihm sein Vater so vieles beigebracht hatte über den Wald und die Natur. Dinge, von denen er heute nichts mehr wissen wollte. Nun schöpfte er aus dem, was er einst erfahren hatte und lernte, seine Umgebung zu nutzen. Er fand eßbare Waldpilze, machte ein kleines Feuer und grillte sie an Holzspießen. Gegen Mitternacht schraubte er die Sitzlehne zurück und sank in tiefen Schlaf.

Tage und Nächte vergingen. Gruber hatte gelernt, sich von den Früchten der Natur zu ernähren. Dazu gehörten auch kleinere Tiere, denen er mit Anfangs geringem Erfolg nachstellte. Erst nachdem er sich Pfeil und Bogen gebastelt hatte, kam er auch zu fleischlicher Kost. Nach einer Woche war ihm endlich der Fang eines Hasen gelungen, den er nun langsam über einem kleinen Feuer drehte. An abgeschnittenen Ästen hatte er die Enden ausgefranst, um sich damit die Zähne zu putzen. Aus Steinen und Ästen war Werkzeug entstanden. Ein kräftiges Sommergewitter und ein Regentief hatten Peter Gruber mit ausreichendem Trinkwasser versorgt.
Am Ende der zweiten Woche war er eins mit der Natur geworden. Er bemerkte, wie er sich schon an kleinen Dingen wie frisch gepflückten Heidelbeeren erfreuen konnte und dachte immer seltener ans Büro. Nur einmal hielt er ein vorbei fahrendes Auto an. Er wollte mal wieder mit einem Menschen reden. Am Steuer saß eine ältere Frau. Als sie den bärtigen Mann in der schmutzigen Kleidung sah, gab sie kräftig Gas. Gruber wusste, er war gefangen durch die rote Ampel einerseits und seinen Schwur zu warten andererseits. Aber er fühlte sich auf eine erhebende Weise frei und unabhängig. Unabhängig von Supermärkten und vor allem unabhängig von der Uhr. Sollte er jemals ins Büro zurückkehren, würde er die letzte Abmahnung wegen wiederholter Unpünktlichkeit zurücknehmen.

Peter Grubers letzter Urlaubstag war verstrichen. Der Morgen dämmerte und er wusste, dass seine Mitarbeiter heute sein Verschwinden bemerken würden. Vermutlich würden sie Witze reißen. Er sah auf die Uhr. Es war sieben Uhr dreißig, Zeit zum Losfahren, um pünktlich ins Büro zu kommen. Doch die Ampel stand natürlich auf Rot. In der Nacht hatte er beschlossen, im nächsten Urlaub – wenn es je einen geben würde – alte Freundschaften wieder zu beleben. Nach langer Zeit sehnte er sich mal wieder nach Menschen, ein Gefühl, das er völlig verloren hatte. Eine weitere Stunde verging, als Unglaubliches geschah. Die Ampel schaltete um auf Grün. Peter fuhr sich ungläubig mit der Hand über das Gesicht. Er drehte den Zündschlüssel um und fuhr los. Vorbei an seinem Büro, irgendwohin.

 

Hallo, nictita.

Ich lese Deine Geschichte mit gemischten Gefühlen. Die Handlung basiert auf einer alten, schon oft verarbeiteten Idee: Da ist ein Mensch, der in seinem Leben viel erreicht hat, den Bezug zu seinem Leben aber verloren hat. Er verhält sich unmenschlich und handelt berechnend wie eine Maschine. Bis ihm eins Tages Seltsames widerfährt, ein Ereignis, das ihn nachdenklich stimmt und ihn letztlich dazu bewegt, seine Haltung gegenüber dem Leben und seinem Umfeld grundlegend zu überdenken.
Eine der bekanntesten Geschichten dieser Art dürfte jene über den Geizkragen sein, der Bettler auf der Straße verhungern lässt und seine Angestellten hemmungslos ausbeutet. Dann eines Nachts jedoch besuchen ihn drei Geister und jagen ihm einen riesen Schrecken ein- und stimmen ihn nachdenklich; am nächsten Morgen ist er wie verwandelt.

Diese Idee hast Du für meine Begriffe gut umgesetzt. Peter Gruber als ein Personalchef, der wegen jedem noch so kleinen Verstoß gegen die Vorschrift abmahnt und bei der Fahrt ins Büro ständig seine Durchschnittsgeschwindigkeit kalkuliert, das finde ich gut und witzig beschrieben. Auch die Szene mit der Ampel finde ich anfangs gelungen, dann jedoch wird es mir schnell zu unrealistisch. Gut, es geht hier weniger um Realismus als um die Idee, die hinter der Geschichte steckt, dennoch sollte so eine Geschichte nicht zu fantastisch werden. So hätte Peter Gruber auch sagen können "Ich lass mich doch nicht von der Ampel klein kriegen, dann fahr ich halt wieder heim und nicht ins Büro!" Aber nein, er haust im Wald wie Brian "Allein in der Wildnis", und seltamerweise sieht drei Wochen lang niemand das Auto, das vor der roten Ampel steht. Auch ist mir der Übergang zu schnell: Erst der Gedanke an das, was sein Vater ihm erzählt hatte, dann schon der Entschluss, in der Wildnis zu leben. Was mir aber dennoch daran gefällt, ist diese Verballhornung von diesen Robinson-Geschichten, die ich hier zu lesen glaube: Da baut sich Peter Gruber einfach Pfeil und Bogen und erlegt nach einer Woche endlich einen Hasen, das klingt in meinen Ohren wie eine Parodie, und ich musste darüber schmunzeln.
Das Ende ist dann wieder recht klar und absehbar: Nachden Peter Gruber endlich seine verqueren Ansichten abgelegt hat, schaltet die Ampel auf grün, als Zeichen dafür, dass wieder alles in Ordnung ist. Auf dem Rückweg dann ist die Ampel ganz verschwunden; damit wird sie zu einem rätselhaften Phänomen, zu einem Zeichen, dass höhere Mächte hier in das Leben von Peter Gruber eingegriffen haben. Finde ich insgesamt originell.

Gegen Anfang sind mir zwei unschöne Stellen aufgefallen: In Zeile zwei die Wiederholung von "legte", was hier keinen positiven Effekt macht, sondern nur stört; ich würde es hier mit einem Zeugma probieren: Er legte den Gurt an und seine Brotzeit auf den Beifahrersitz. Und dann in Zeile sechs das Putztuch, das den Fettfleck wegräumt; dieses Bild scheint mir fehlgegriffen, ich würde hier nach einer anderen Formulierung suchen.

Insgesamt gefällt mir Deine Geschichte, allerdings stören mich die teils zu absurden Handlungen des Peter Gruber.

Liebe Grüße
Nitro

 

Im Gegensatz zu Nitro finde ich gerade die völlig absurde Handlungsweise des Peter G. sehr gut. Sein Charakter ist völlig überzogen, daher ist es nur folgerichtig, dass die rote Ampel ihn bannt.

Mich stört eher die etwas konventionelle Erzählweise (die in meinen Augen nicht so recht zu der bizarren Handlung passt) und der etwas schwache Schluss (die Geschichte hätte enden können, bevor er das Büro erreicht).

Insgesamt eine schöne (durchaus neue) Idee, aus der noch mehr werden könnte.

 

Hallo und vielen Dank für die Kritiken.
@Nitrogenium: dass die Handlung auf einer alten Idee basiert, ist ja nun keine Kritik. es gibt zahlreiche Ideen (Lovestorys, Dreieckgeschichten, Zeitreisen oder gerade im Bereich Horror, wie z.B. Vampire), die immer wieder aufs Neue verarbeitet werden. Die stilistische Kritik habe ich gerade umgesetzt, vielen Dank speziell dafür.
@Naut: ich fürchte, das ist die mir eigene Erzählweise, an der ich nicht viel ändern kann (zumindest nicht ohne größeren Aufwand zu betreiben).

Während Nitrogenium den ursprünglichen Schluss gut fand, findest Du ihn schwach. Ich habe es jetzt mal auf diese Weise geändert...

Grüße

 

Das neue Ende gefällt mir besser, das alte war dann doch zu sehr "Der große Sat.1-Film" ;)

Zum Stil: Die Erzählweise passend zum Inhalt zu wählen ist zugegeben schwierig. Wie wäre es, wenn Du ganz bewusst verschiedene Stile ausprobierst? Nicht speziell für diese Geschichte, sondern beim nächsten Mal. Bevor Du Deine nächste Geschichte aufschreibst, entscheide Dich bewusst, wer die Geschichte erzählt (und zu welcher Zeit). Ich denke, "der Erzähler" ist oft in Geschichten die vergessene Person, zumal, wenn er gar nicht personalisiert in Erscheinung tritt.

 

Hallo nictita,

die kurzen, knappen Sätze, die zielstrebige Erzählweise, passen gut zu dem Protagonisten. Schön, wie du der Geschichte das Fundament gibst, auf dem sich dann die Handlung bis zu einer gewissen Absurdität entwickeln kann. Das Gute ist, dass diese Absurdität zu der Wirklichkeit der Geschichte passt.

Ich habe mich gefragt, warum du die Geschichte nicht in `Seltsam´ gepostet hast. Dies wäre sicher die einfachere Wahl gewesen. Welche philosophischen Aspekte gibt es? Da ist ein Mann, der sein Leben plant, strukturiert, damit einen gewissen Erfolg hat, einen Teilerfolg, da er sich nur auf Position und Wirtschaftliches bezieht.
Dann kommt der unerwartete Eingriff in sein Leben, die Ampel, die eigentlich nur durch seine Regeln die Macht erhält, die sie ausübt. Glücklicherweise ergibt sich für den Protagonisten ein Gewinn aus der Situation, er gewinnt gewisse Einsichten. Ich finde zwar, dass der Schwerpunkt der Geschichte eher in der Psychologie zu suchen ist, als in der Philosophie, aber hier sind die Übergänge fließend, jedenfalls ist es ein gut geschriebener Text, der viel zu wenige Antworten bekommen hat.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Ich habe mich gefragt, warum du die Geschichte nicht in `Seltsam´ gepostet hast.

Hallo Woltochinon,

die Geschichte entstand in einer Zeit, als die Zahl der Postings noch einstellig war und ich noch kein richtiges Händchen für die am besten geeignete Rubrik hatte. Damals habe ich mich einige Male verhauen...

Ansonsten vielen Dank für Deine wohlwollenden Worte. Das motiviert mich direkt, mich von meiner derzeitigen Stammrubrik "Horror" mal wieder etwas loszulösen...

Besten Gruß
nic

 

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